DER AUFGANG/DE OPGANG

Eine belgische Aufarbeitung de 3. Reichs

Stefan Hertmans erzählt in DER AUFGANG (DE OPGANG/erschienen 2020, Dt. 2022) tatsächlich von einem solchen: Er erkundet das Haus, in welchem er 20 Jahre gelebt hat und erinnert sich dabei an die Erstbegehung mit einem Notar, der den Verkauf begleitet und der ihm allerhand Historisches über die Bewohner zu erzählen hatte – nur nicht das Wesentliche, wie Hertmans feststellt, als er seinen Namen in der Autobiographie eines seiner alten Professoren an der historischen Fakultät liest. Denn dort wird kurz erwähnt, daß er, ein in Belgien und den Niederlanden bekannter Autor, dort lebt, wo der sein Leben berichtende Historiker seine Kindheit verbrachte – als Sohn des landesweit berüchtigten Kollaborateurs und belgischen SS-Mannes, Willem Verhulst.

Geschickt verschachtelt Hertmans nun die Erinnerung an jenen Aufgang mit dem Notar, der ihn höher und höher durch das alte Haus in Gent führte, mit den Ergebnissen seiner Jahre später durchgeführten Recherchen zum Haus und dessen Bewohnern. Hinzu kommt eine Ebene, auf der er sich allerhand Situationen – häusliche, öffentliche, solche der Einsam-, wie der Zweisamkeit – vorstellt und sie einflicht, was die Bezeichnung Roman für das Werk rechtfertigt. Es ist ein etwas heruntergekommenes Haus, das er einst beging und je mehr er die Geschichte der früheren Eigentümer erforscht, desto kälter wird ihm beim Gedanken an die vielen Jahre, die er mit und in deren Erbe gelebt hat. Und bald schon ist nicht mehr das Haus Gegenstand seines Interesses, sondern vor allem jener Mann, der es einst kaufte und mit seiner zweiten Frau und den gemeinsamen Kindern bewohnte.

Willem Verhulst war ein Belgier, der früh im Leben auf einem Auge erblindete, was ihn zum Außenseiter werden ließ, vor allem aber daran hinderte, eine soldatische Laufbahn einzuschlagen. In jungen Jahren entwickelt Verhulst eine nahezu fanatisch nationalistische Haltung hinsichtlich der flämischen Sache, was später dazu führte, daß er sich auch an der Ideologie der Nationalsozialisten erwärmen konnte. Er arbeitete nach der Besatzung durch die deutschen Truppen bald für deren Verwaltung, trat der SS bei und wurde führender Kopf der belgischen SS-Division Langemarck. Zugleich – und das macht die Figur Willem Verhulst interessanter, als sie zunächst erscheint – heiratete er in erster Ehe eine Jüdin, die früh an einer Krankheit starb und um die Verhulst sehr getrauert haben muß. Dann lernt er die Niederländerin Meintje kennen, eine Bauerstochter, die er heiratet und mit der er schließlich drei Kinder haben wird – den späteren Historiker Adriaan Verhulst und seine Schwestern Letta und Suzy, die jüngste. Daran ist zunächst nichts Besonderes, allerdings entpuppt sich Meintje als radikale Pazifistin mit einem nahezu pietistischen Hintergrund. Sie zeigt sich die gesamte Zeit der Besatzung durch die Nazi-Truppen widerständig, sorgt dafür, daß die Kinder weitestgehend unberührt bleiben von der rassistischen und antisemitischen Ideologie der Besatzer und widersetzt sich ihrem Mann mehr und mehr, bis sie sogar eine Hitler-Büste zerstört, die Willem einem Fetisch gleich verehrt.

Vieles von dem, was Hertmans beschreibt, ist eine wirklich interessante Aufarbeitung belgischer Vergangenheit und deren dunklerer Seiten. Anderes allerdings ist schlicht typisches Eheleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gleich ob in Belgien, Deutschland, Frankreich oder sonst wo. Es gibt Streitigkeiten, der Mann im Haus besteht auf seinen Rang, er legt sich eine Geliebte zu – auch die eine überzeugte Nationalsozialistin – , er ist immer häufiger unterwegs, bleibt tage-, manchmal wochenlang außer Haus, begründet wird dies immer mit seiner Arbeit. Hertmans macht sich die Mühe und forscht dieser Arbeit mit Akribie hinterher. Verhulst war nicht nur ein professioneller Kollaborateur, er war auch ein Denunziant. Er legte Listen Verdächtiger an, die er den Deutschen übergab, war verantwortlich für etliche Dutzend, wahrscheinlich Hunderte Deportationen in die Lager der Nazis, floh schließlich gen Deutschland, als die Front 1944 immer näher rückte, kehrte später zurück, verbüßte eine Haftstrafe und trat dann wieder ins bürgerliche Leben ein. Er und seine Geliebte Griet trennten sich nie und Meintje musste ihren Mann, von dem sie sich innerlich immer stärker distanzierte und zugleich immer mehr Halt im Glauben fand, zeitlebens mit der anderen teilen. Allerdings entnimmt Hertmans den Aufzeichnungen der Gattin auch, daß sie ebenfalls zeitlebens zu ihrem Mann hielt, sich um ihn sorgte und ihn offenbar liebte.

Immer wieder imaginiert Hertmans eheliche Szenen – im Schlafzimmer, in der Küche, am abendlichen Kaminfeuer. Allerdings fällt dabei auf, daß er hier die eher marginalen Begebenheiten ausschmückt, Willems Wehleidigkeit, Meintjes Versuche, die Seele des Gatten zu erretten, Diskussionen um den Umgang mit den Kindern, religiöse und alltäglich-profane Besprechungen. Daß dieser Mann bei all seiner schäbigen ideologischen Verblendung eben eine Jüdin, neben der er schließlich begraben werden wollte und wurde, sowie eine in ihrem Glauben und damit ihrem Pazifismus unbeirrbare Protestantin geheiratet hat, wird kaum beleuchtet, wirkt aber dem Anschein nach wie der interessanteste Aspekt dieser Figur. Doch bleibt dieser Willem Verhulst seltsam ungreifbar, wie er auch dem Autor möglicherweise nicht greifbar gewesen ist. Er tritt nie aus der Dimension einer Romanfigur heraus, sondern bleibt uns papieren und fremd. Das gleiche gilt für Meintje und auch für Griet. Am ehesten sind es noch die Kinder, allen voran Letta, die der Leser als wirkliche Menschen wahrnimmt, was möglicherweise auch damit zu tun hat, daß Hertmans sie getroffen und befragt hat, also ein wirkliches persönliches Verhältnis zu ihr aufbauen konnte.

Sicher ist es interessant zu beobachten, wie auch in anderen Ländern nach und nach die Vergangenheit aufgearbeitet wird. Gleich ob in Frankreich, Belgien, den Niederlanden oder gar Polen, wo von Regierungsseite ja der Versuch unternommen wurde und wird, diese Aufarbeitung und die Art des Gedenkens zu regulieren. Vielleicht ist die daraus entstehende Literatur aber vor allem für jene relevant, die so mit dem Eigenen konfrontiert werden. Mit der Erkenntnis, daß es auch in den eigenen Reihen solche gab, die mitgemacht haben, Kollaborateure, gar Kämpfer auf Seiten der Deutschen. Ein Erbe, das bisher aus vielerlei Gründen abgelehnt, gern auch totgeschwiegen wurde. Hertmans übernimmt also die durchaus schmerzvolle Aufgabe, sich diesem Erbe zu stellen. Indem er persönliche (wenn auch nur sehr indirekte) Verflechtung thematisiert und dabei gelegentlich auch die eigene Haltung als einst junger und rebellischer Student im Nachklapp der 68er thematisiert. Zugleich empfindet der Leser, auf den Seiten, zwischen den Zeilen, eine Art Entfremdung. Mag es die des Autors gegenüber dem Sujet sein oder die des deutschen Lesers, der natürlich schon etliche ähnliche Bücher gelesen hat und hier letztlich nur einmal mehr vom gleichen findet. Es kann nur gut sein, diese Geschichte(n) aufzuarbeiten und zugänglich zu machen. Und wahrscheinlich ist zukünftig die Literatur der Ort, wo dies zu verhandeln ist. Aber dabei kommt sicherlich nicht immer Literatur zum Vorschein, die wirklich Neues zu bieten hat.

Das ist dann auch der Eindruck, den Hertmans DER AUFGANG hinterlässt: Im Detail eine durchaus interessante Erzählung, die ein Schlaglicht auf die spezifische Situation in Belgien wirft und anhand einer bestimmten Figur exemplifiziert. Das ist gut zu lesen, unterhaltsam ist es dem Thema entsprechend eher nicht. Und es bleibt insofern ein Fragezeichen, als daß Hertmans dem Leser wenig Grundlagenwissen vermittelt. Das muß dieser sich selbst zusammenklauben, um die Spezifika wirklich zu durchdringen. So bleibt DER AUFGANG eher ein Ausgang – ein Ausgangspunkt, von dem aus man sich in diesen Teil der Geschichte des 3. Reichs und des 2. Weltkriegs hineinwühlen kann.

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