CHOR DER ERINNYEN

Marion Poschmann entfaltet in ihrem Roman einen manchmal schon unheimlichen Sog

Mathematik und Musik – Musik und Mathematik. Für viele ein und dasselbe und als Erkenntnis eine Binse. Und doch definiert sich in diesem Zwillingspaar, will man die Musik in ihrer mathematischen Auflösung dann doch der Poesie, den Künsten, zuschlagen, recht genau die Entwicklung der Hauptfigur in Marion Poschmanns Roman DER CHOR DER ERINNYEN (2023).

Denn diese Mathilda, Lehrerin für Mathematik und Musik, ist eine Rationalistin durch und durch. In ihrer Rationalität will sie zunächst nicht einmal die Merkwürdigkeiten als solche anerkennen, die bereits eingetreten sind, bevor die Romanhandlung einsetzt. Ihr Mann ist seit Tagen verschwunden und sie beruhigt sich und den Leser wieder und wieder mit nachvollziehbaren Erklärungen. Wobei sich die Frage stellt, ob das Beruhigungen sind oder Mathilda die Welt – eben auch die der Merkwürdigkeiten – schlicht so betrachtet? Auch die zunehmende Unfähigkeit, mit der Hand zu schreiben, da eben diese Hand sich zu verselbstständigen scheint und nur noch schwer nachvollziehbare Zeichen aufs Papier krakelt, verunsichert Mathilda nicht wirklich. Dass ihre Mutter immer mal wieder seltsame Anwandlungen hat, ist ebenfalls nichts Neues für sie. So ist es im Grunde erst das plötzliche Auftauchen ihrer Schulfreundin Birte, dass sie zumindest stutzig werden lässt. Denn Birte taucht nicht einfach auf wie jemand, den man sehr lange Zeit nicht gesehen hat, vielmehr tritt sie in Mathildes Leben ein, als sei sie darin seit jeher zuhause. Nimmt – mehr oder weniger ungefragt – an einem Wanderausflug teil, den Mathilde seit Längerem mit ihrer anderen Jugendfreundin Olivia geplant hatte; ebenso ungefragt wie selbstverständlich nächtigt Birte bei Mathildes Mutter, die sich natürlich noch an das Kind von früher erinnern kann und – wie Mathilde selbst – womöglich eine tiefsitzende Schuld empfindet gegenüber diesem einstigen Kind, dessen Verlustschmerz über den Tod eines Elternteils Mutter und Tochter nicht ernst genug genommen haben.

Langsam, fast unmerklich für sie selbst und auch den Leser, schleicht sich das Ungewisse, das Unberechenbare, das Nicht-Mathematische in Mathildes Leben ein. Und je tiefer es in dieses vordringt, desto poetischer, ungenauer, interpretationsbedürftiger wird Poschmanns Schreiben. Am Ende eines jeden Kapitels entlässt den Leser ein Gedicht, vielleicht eines, das Mathilde geschrieben, zumindest erdacht hat, vielleicht aber auch einfach der Chor. Der Chor der Erinnyen, jener Rachegöttinnen der griechischen Mythologie, die das Gewissen und seine Bedrängnis ebenso darstellen können, wie sie auch die Verteidigung des mütterlichen Prinzips verkörpern. Und die einst den Beinamen „Die Wohlmeinenden“ bekamen. Alle diese Beschreibungen würden an einem bestimmten, spezifischen Punkt in Poschmanns Text sowohl auf als auch für Mathilde und die sie umgebenden Figuren passen. Im Grunde alles Frauen bis auf zwei Wanderer, die die drei Freundinnen während ihres Aufenthalts in der Waldhütte aufgabeln und letztlich vor dem sicheren Tod während eines Waldbrands bewahren. Auch, wenn die Herren selbstgerecht glauben, es sei exakt andersherum gelaufen.

Poschmanns Text ist voller Verweise auf die antiken Mythologien, wobei sie sich aber im rein Deskriptiven der Handlung eines fast hyperrealistischen Stils bedient, der nicht ferner vom Mythischen entfernt sein könnte. Die Geschichte um Vertrauens- und vielleicht auch Machtverlust wird überdeutlich dort angesiedelt, wo deutsche Literatur allzu oft spielt: Im Mittelstand, jener Welt des Wohlstands, der scheinbaren Sicherheit und prekären Rückversicherung. Diese Frauen sind allesamt wohlhabende, im bürgerlichen Leben verankerte Mittfünfzigerinnen, die möglicherweise Lebenskrisen durchlaufen, vielleicht auch nur so etwas Banales wie eine Midlife-Crisis. Das Buch lässt diese Fragen offen. Was allerdings deutlich wird, ist Mathildes Entfernung, ja Entfremdung, von ihrem bisherigen Selbst.

Wie Poschmann diese Entfremdung literarisch bewältigt, das ist allerdings außergewöhnlich. Wie ihr zunächst so beherrschter Text – mindestens so beherrscht wie Mathilde in der rationalen Bewältigung ihres Alltags und all seiner zunehmend seltsameren Störungen – langsam immer poetischer, aber eben auch schwerer zu greifen wird, immer ungefährer und dabei in seiner Beobachtung einer Zerrüttung (?) immer genauer, weil undefinierbarer, das ist für den Leser atemberaubend. Und der muss sich auf diesen Weg einlassen, wie Mathilde sich darauf einlassen muss, dass die Figuren ihres Lebens – Birte, ihre Mutter, ihr Gatte – immer unberechenbarer erscheinen, mehr und mehr ihr eigenes und dabei für Mathilde immer fremderes Leben leben und nicht mehr greifbar sind. Weder Mathematik, noch Musik, sondern seltsame Zwischenbereiche, in denen diese Menschen – so sie denn wirklich Menschen aus Fleisch und Blut sind – zu verschwinden drohen. Da wird Mathilde bei ihrer Mutter durch Birte ersetzt, Olivia scheint mehr und mehr in vollkommen fremden Sphären zu schwelgen und Mathildes Mann…bleibt verschwunden.

Die Merkwürdigkeiten dieser Erzählung werden nicht aufgelöst, das ist kein Mystery-Drama oder gar eine Geschichte des Über- oder Unnatürlichen. Es ist aber auch nicht die Geschichte einer Frau, die einer psychologisch fassbaren Diagnose unterliegt. Vielmehr ist dies – vielleicht – eine Menschwerdung unter verschärften Bedingungen. Ein Mensch, eine Frau, der oder die sich befreit aus den engen Korsetten des eigenen, möglicherweise kulturell bedingten, der Erziehung geschuldeten Systems äußerster Beherrschung. Wie gesagt. Das alles bleibt der Interpretation überlassen.

Poschmann hat einen sprachlich so genauen wie poetischen, einen mit untergründigem, und manchmal grimmigen Humor durchzogenen Roman geschrieben, der einen dunklen Sog entwickelt, dem sich die Leser*innen nicht entziehen können. Ja, das mutet manchmal fast unheimlich an und ist schwer zu fassen und hinterlässt Fragezeichen und animiert, sich den Text gleich noch einmal vorzunehmen und von vorn zu beginnen. Wie sollte Literatur sein, wenn nicht so?

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