DIE SONNENPOSITION

Vom Kreisen der Sonne

Sonnenzyklen stehen in magischen Weltbildern für Anfang und Ende eines oft weltgeschichtlichen Äons. Mit der Sonne ist der Anfang des Seins ebenso markiert, wie der Untergang alles Seienden, das sich dann im neu entstehenden Rund eines weiteren äonischen Zyklus erneuert, wiedergeboren wird und erneut untergehen wird. Kreisbewegungen.

In Marion Poschmanns Roman DIE SONNENPOSITION verfolgen wir in groben Zügen den Lebensweg von Altfried Janich, der als Kind einer Waise, welche mit seiner Schwester in den letzten Kriegswirren gen Westen evakuiert wurde, diesen Weg vollendet, indem er nach der Wende in einem zu einer Psychiatrie umgewandelten Barockschlößchen in den neuen Bundesländern als Psychotherapeut anheuert. Eine Kreisbewegung.

„Die Sonne bröckelt“ ist der allererste Satz dieses Romans, der sich in gewisser Weise weigert, ein solcher zu sein. Doch Altfried beschreibt uns zunächst in diesen ersten Abschnitten des Textes den äußeren Zustand jenes Schlosses, in dem eben nicht nur der Stuck – der an der beschriebenen Stelle eine Sonne formte – bröckelt, sondern scheinbar alles an und in diesem Bauwerk ist löchrig, brüchig, bröckelnd: In diesem nie näher genannten Schloß scheint sich die Geschichte selbst zu verdichten. Seien es die einst hier lustwandelnden Aristokraten, seien es die fürchterlichen Mediziner der Nazis, die hier nicht nur Versuche an geistig behinderten Menschen durchführten, sondern auch die ersten Gaskammern erprobten, sei es die DDR-Nomenklatura, die sich hier einst traf, dann deren Sicherheitsapparat, der sich hier eingerichtet hatte: Das Schloß spiegelt die deutsche Geschichte, verkörpert sie mehr oder weniger.

Erinnerung ist das Thema, um das dieser Text der Lyrikerin Marion Poschmann kreist. Wir begegnen Altfried Janich erstmals auf der Beerdigung seines Freundes Odilo, der bei einem Unfall starb. Odilo, ein Biologe, der sich mit dem Phänomen der Lumineszenz – jener chemischen Reaktion, die z.B. Leuchtkäfer leuchten läßt – beschäftigt und darum bemüht war, diese Fähigkeit auf alle möglichen Tiere zu übertragen, Mäuse unter anderem. In den Erinnerungsfragmenten Altfrieds an Odilo mischen sich zunehmend solche, die nicht die seinen sein können – Erinnerungen seiner Schwester an die kurzen Treffen, die sie mit Odilo hatte und die beiden vielleicht zu einem Paar gemacht haben, solche der Tante Sidonia, die sich an jene grauenerregende Flucht aus den Ostgebieten erinnert, solche der Zeit an sich selbst, wie es scheint. Es gibt eine Stelle, da spricht Altfried genau dies an: Immer häufiger drückten sich Erinnerungen uns auf, die nicht die eigenen sind, nicht die eigenen sein können.

Das alles wird dem Leser in einer in einer zutiefst lyrischen Sprache dargeboten. Wie das Schloß, so scheint auch diese Sprache dem Barocken zu entstammen, manchmal türmen sich Metaphern reiner sprachlicher Schönheit aufeinander, scheint ornamentisch – um ihrer selbst willen – um sich selbst zu kreisen und den Leser geradezu zu verschlingen. Man muß diesen Roman, der sich eben weigert ein solcher zu sein, zu werden, passagenweise wieder und wieder lesen – nicht nur, um sich den gesamten Gehalt dessen, was einem da oft in einem einzigen Satz inhaltlich geboten wird, zu vergewissern, sondern auch, um diese Sprachtürme, Spracherker, Sprachbögen gänzlich zu erfassen. Dieser Text scheint Gefallen an sich selbst zu haben und schreibt sich dadurch ein in das, was er behandelt: Die Zeit, die vergeht und zu sich selbst zurückfindet, nur um sich wieder zu verlieren. Das ist streckenweise wunderbar, das ist über die Dauer des Buches anstrengend, es verlangt dem Leser einiges ab an Aufmerksamkeit, an Geduld, an Wollen, diese Sprachgitter zu durchdringen, sich in die Welt, die Erinnerung des Textes selbst hineinbegeben zu können. Dies ist also sicherlich kein Roman für jene Leser, die eine Handlung, glaubwürdige und tiefenpsychologisch durchdachte Figuren verlangen, einen erzählerischen Bogen, sicheren Grund, auf dem man sich lesend bewegt.

Allerdings muß man auch konstatieren, daß dieser Text kein Roman sein will, scheinbar. Der Romanautorin Poschmann scheint die Lyrikerin Poschmann immer wieder dazwischen zu funken. Die Lust am sprachlichen Aufbau um seiner selbst willen ist deutlich spürbar und dies geht zulasten sowohl der Handlung, als auch der Figuren. Denn berühren – berühren kann dieser Text den Leser kaum. Ein, zwei Mal gibt es Momente, da kommen uns diese so fremden und fernen Figuren wirklich nah, sind ihr Erleben, sind ihre Erfahrungen derart und derart geschildert, daß der Leser emotional erreicht wird. Eher einem gewaltigen Essay, einer Selbstversicherung in Fragen der Zeit, der Erinnerung, des Vergehens und der Chronologie, die zusehends unterlaufen wird und damit auch den Zirkelschlag eines magischen Weltbildes schlägt, gleicht dieses Werk. So wird es auch unterbrochen von „Theorien“ – der Zeit, des Ortes, der Bewegung. Kleine, fein durchdachte sprachliche Momente, die den (chronologischen) Lauf des Erzählens durchbrechen, den Leser innehalten lassen , ihn konfrontieren mit der Frage danach, ob überhaupt ein Ort, eine Zeit, eine Bewegung den autoritären Charakter eines Maßstabs hat oder in der Relation dessen, der sich bewegt, verortet unsicheren Grundes ist, wie jeder Ort, jede Bewegung, jede zeitliche Ver-Ortung relativ wird unter dem Blick dessen, der sie betrachtet. Zeit, so überlegt Altfried einmal, Zeit, seine Zeit als menschliches Wesen übereinandergelegt, ergäbe ein Daumenkino seines Erwachsenwerdens und –seins und des zunehmenden Alters. Doch genau das gilt dann eben auch für die Äonen, die Zeitläufte, alles zeitliche Sein. Wenn Altfried in den „Osten“ – also die neuen Bundesländer – geht, um dort Kranken zu helfen, schlägt er auch den Zirkel seines Vaters und der Schwester, die einst aus ebendiesem Osten fliehen mussten. Die Geschichte kehrt an ihren Ausgangspunkt zurück, sie kommt zu sich selbst, wird eins in sich. Und sie vergeht nicht. Wir können ihr nicht entgehen, nicht entfliehen und auch bei aller durch UNSERE Geschichte westlichen Denkens geprägten linear-chronologischen Erkenntnisgewinne wissenschaftlicher Natur gelingt es uns nicht, Licht ins Dunkel der letzten Winkel der Geschichte zu bringen, ebenso wenig, wie wir die hinteren Winkel unserer Seelen auszuleuchten verstehen. Wenn Poschmann an zwei Stellen lange Fallgeschichten einschiebt, werden wir geradezu brutal darauf gestoßen, wie unverständlich uns bei aller naturwissenschaftlich-neurologischen, psychologischen oder auch biologischen Forschung der Geist, die Motivation hinter der „Erkrankung“ bleibt.

Altfried Janichs Hobby besteht darin, Erlkönige zu suchen und zu photographieren: Jene Prototypen aus den Entwicklungslabors und –stätten der großen Autohersteller, die getarnt auf den abgelegenen Straßen und Wegen der Republik getestet werden. Und genauso flüchtig, wie die Zeit, die Erinnerung, das Leuchten des Käfers, die Freundschaft oder die Liebe, genauso flüchtig sind die verwischten Spuren dieser Erlkönige auf den Photographien, die Janich erstellt. Am Ende bleibt die Sprache, das geduldige Papier, die sich – ebenfalls chronologisch, ebenfalls linear –mit aller Macht und vielen Mitteln dagegen sperrt, zu vergehen. Die Lyrik eines Satzes, eines Wortes allein vermag festzuhalten, was der Kamera, dem menschlichen Auge, der Erinnerung scheinbar verweigert bleibt: Die Genauigkeit im Grauschleier, die Unschärfe im exakt gesetzten Vokal.

Poschmann gelingt einerseits ein wirklich großer Wurf. Andererseits muß man gestehen, daß das als erzählende Literatur, als Prosa, nicht wirklich funktioniert. Über 337 Seiten breitet sich eine Art lyrischer Text aus, der sich selbst ein- und überholt, sich unterläuft und dann wiederum anstachelt zu sprachlicher Höchstleistung. Es sei also gewarnt, wer eine Erzählung erwartet. Die Handlung hier ist rudimentär, die Figuren sind in mancherlei Hinsicht nur Skizzen, angerissene Konturen. Wer jedoch aus der Sprache selbst, aus dem, was Sprache vermag, Gewinn zu ziehen versteht, dem sei dies hier dringend empfohlen. Es ist anstrengend und anspruchsvoll und jede Zeile wert.

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