DER FALL CHARLES DEXTER WARD/THE MADNESS OUT OF TIME/THE CASE OF CHARLES DEXTER WARD

Einer von H.P. Lovecrafts seltenen Romanen und eines seiner besseren Werke

Howard Phillips Lovecraft veröffentlichte zu Lebzeiten vor allem Kurzgeschichten und längere Erzählungen, selten Romane. Dementsprechend wurde auch THE MADNESS OUT OF TIME (Originaltitel) erst posthum erstmals 1941, vierzehn Jahre nach seiner Entstehung und vier Jahre nach dem Tod des Autors, dem Publikum zugänglich gemacht. Es ist ein für Lovecrafts Verhältnisse recht kohärenter Roman, der sich in keinen der bekannten Zyklen einordnen lässt, die ihn berühmt gemacht haben. Weder ist es eine eindeutige Horror-, noch eine Science-Fiction-Story im herkömmlichen Sinne, auch kann man sie nicht wirklich dem heute kultisch verehrten Cthulhu-Mythos zuordnen, in dessen Zusammenhang sie allerdings häufig genannt wird. Sie wirkt allerdings wie ein Querschnitt durch Lovecrafts Thematiken, seine Obsessionen und Vorlieben. Es gibt Zauberer, die uraltes, längst vergessenes Wissen reaktivieren, es gibt Monstren, sogar Vampirismus und der Mythos vom Wiedergänger werden angesprochen, Ghoule und Geister treiben ihr Unwesen und selbst vor Kannibalismus macht der Autor hier nicht halt. Und auch werden Versatzstücke der Beschwörungen und des Geraunes aus den Cthulhu-Geschichten bemüht. Erstaunlicherweise gelingt ihm – trotz all der Schwächen, die sein Schreiben immer ausgemacht haben, u.a. der Flut an Adjektiven und Adverbien, die in eine ungeheuerliche Beschreibungswut münden sowie eine fast schon erschreckende Ernsthaftigkeit – hier eine recht zügige und geschlossene Erzählung.

Einer Schachtelgeschichte gleich, wird der „Fall Charles Dexter Ward“ als Bericht vor dem Leser ausgebreitet. Ward ist aus einem Sanatorium, in welches er zur psychiatrischen Behandlung eingeliefert wurde, verschwunden. Dr. Willett, Wards Hausarzt, seit dieser das Licht der Welt erblickt hat, der ihn auch während des Aufenthalts in der Klinik betreut, wird vom Vater des Verschwundenen gebeten, sich auf dessen Spuren zu setzen. Er wird befürchtet, daß Ward sich etwas antun könnte. So steigt Willett also in die Beschreibung ein, wie Charles Dexter Ward ein ausgesprochenes Interesse an der Genealogie seiner Familie entwickelte, wie er auf die Spuren seines Ahnen Joseph Curwen stieß, eines Mannes, der seinerzeit aus Salem floh, als dort die berüchtigten Hexenprozesse Überhand nahmen, und wie Ward schließlich auf dessen Fährte altes, ja, uraltes Wissen ausgräbt, das zur Beschwörung von nie näher genanntem Unheil befähigt. Zunächst folgen wir also der Geschichte Curwens bis zu seinem gewaltsamen Tod, als seine Nachbarn beschließen, seinem Treiben Einhalt zu gebieten; dann wird Wards Weg verfolgt, wie er das Wissen seines Vorfahren zusammenträgt und zur Anwendung bringt; schließlich dürfen wir Willetts Bemühungen beiwohnen, die schlimmsten Auswirkungen dessen, was sein Schützling getrieben hat, zu verhindern, bzw. einzudämmen.

Lovecraft entwickelt eine für seine Verhältnisse geschickte Konstruktion, in der Stück für Stück die Ungeheuerlichkeiten – zunächst nur Andeutungen – aufgedeckt werden, bis wir ein ungefähres Bild dessen haben, was Curwen und in seiner Folge Ward da zu realisieren versuchten. Natürlich ist diese Geschichte nicht sonderlich subtil, allerdings ist Subtilität nie Lovecrafts Markenzeichen gewesen. Obwohl er sich selbst ja als Menschen des 18. Jahrhunderts sah, sein Stil dementsprechend häufig gestelzt und bewusst „altertümlich“ daherkommt – was in der vorliegenden Geschichte weniger der Fall ist – wirkt Lovecraft oft wie ein ausgesprochen – und letztlich ungewollt – moderner Autor, was seine nach wie vor hohe Beliebtheit erklären würde. „Modern“ meint in diesem Falle, daß sein Horror, sein Schrecken, nach ziemlich genau jenen Kriterien funktioniert, wie bspw. auch moderne Horrorfilme. Es sind Überwältigungs- und Steigerungskriterien. Der Schrecken muß immer größer, immer furchtbarer, immer unbeschreiblicher sein, was Lovecraft oft genug dazu veranlasst, ihn denn auch genau so zu beschreiben: Als unbeschreiblich. Dieses Steigerungskriterium erklärt möglicherweise auch, weshalb der Autor solch enormen Zuspruch in der Heavy-Metal-Szene und unter Machern und Fans des harten Splatterfilms findet. Beide Genres leben ihrerseits von Überwältigungs- und Steigerungsstrategien.

H.P. Lovecraft ist mit seinem Stil natürlich meilenweit von dem fast romantischen bspw. eines Algernon Blackwood entfernt, bei dem der Schrecken so gut wie nie direkt auftritt oder gar beschrieben wird, sondern immer lauert – hinter Wänden, durch die wir nicht blicken können, in undurchdringlichen winterlichen Wäldern, in der flirrenden Hitze eines Sommernachmittags, der uns allerhand vorzugaukeln in der Lage ist. Vor allem aber in Sprachgebilden, die sich weigern, allzu viel Preis zu geben. Wo Blackwoods Schreiben immer die Phantasie des Lesers fordert, gibt Lovecraft nach und nach alles Preis, was in den Tiefen seiner Erzählung schlummern mag. Ja, er will den Schock, er will den Ekel und den Schrecken, seine Leser sollen wenn möglich vor Furcht zittern. Dazu ist ihm nahezu jedes literarische Mittel recht. Eben auch das, seine Mutationen und mythischen Wesen als nicht mehr beschreibbar zu charakterisieren. Während also in Kaskaden von beschreibenden Adjektiven nahezu jedwedes Detail einer Szenerie vor dem Leser ausgebreitet wird, bleibt der Autor uns meist den Effekt genau beschriebener Monster schuldig. Man kann das als Stilmittel sehen, man kann es aber auch als Kapitulation vor eben jenen Steigerungsstrategien betrachten.

THE MADNESS OUT OF TIME ist voller dieser Steigerungen und Überwältigungspotentiale. Fast wirkt es, als habe der Schöpfer des Textes alles unterbringen wollen, was ihn je umtrieb. Bedenkt man, daß der Roman bereits 1927 entstanden ist, könnte man aus der Perspektive der Rückschau beinah schlußfolgern, Lovecraft habe hier ausprobieren wollen, welche stilistischen und formalen Elemente zu welchen inhaltlichen passen. Sogar einen gewissen grimmigen Humor könnte man dem ansonsten doch erschreckend humorlosen und sich und seine Erfindungen sehr ernst nehmenden Lovecraft hier attestieren, wenn er Charles Dexter Ward mit einem Grafen in Transylvanien brieflich sich über das Wesen der Unsterblichkeit austauschen lässt, und damit einen kollegialen Gruß an seinen Vorgänger im Horrorfach Bram Stoker schickt. THE MADNESS OUT OF TIME ist allerdings Lovecrafts mittlerer Schaffensperiode zuzuordnen. Der Cthulhu-Zyklus war zuvor begonnen worden und mit THE OUTSIDER und THE MUSIC OF ERICH ZANN (beide 1921) hatte Lovecraft seine möglicherweise besten Werke, zwei Kurzgeschichten von außergewöhnlicher Kraft, bereits geschrieben. So kann man nicht wirklich von einem Experiment oder einer Versuchsanordnung ausgehen, eher von einer Selbstvergewisserung.

Trotz vielerlei auch in diesem Roman anklingender – für Lovecraft typischer, den Leser ärgernder – Merkmale, u.a. sein immer wiederkehrender, aggressiver Rassismus, muß THE MADNESS OUT OF TIME als eines der besseren Werke des Autors betrachtet werden. Es fesselt, es ergeht sich nicht bis zum Exzess in seiner Beschreibungswut, es treibt seine Geschichte voran und versteht es, immer genug Information an den Leser weiter zu geben, um die Spannung auf hohem Niveau zu halten. Fast nüchtern in seinem als Bericht gehaltenen Stil, packt es und weiß in seinen besten Momenten sogar Furcht zu erzeugen. Ein für diesen Autor eher seltener Vorzug, der den FALL CHARLES DEXTER WARD durchaus lesenswert macht.

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