DIE EXPERTEN

Merle Kröger wirft ein Schlaglicht auf ein etwas vergessenes Stück früher bundesrepublikanischer Geschichte

Die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Vertreter endete ja keinesfalls mit dem Ende des 2. Weltkriegs. Das ist mittlerweile bestens bekannt. Ma weiß um die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, in denen einige der wesentlichen Nazi-Größen angeklagt waren, die meisten kennen die Geschichte von Adolf Eichmann, Organisator und Vollstrecker des Holocaust, der dafür sorgte, dass die Züge in die Lager fuhren, selbst dann noch, als die Fronten schon zusammenbrachen. Manche kennen die Geschichte des Auschwitzprozesses, den der deutsche Staatsanwalt Fritz Bauer – bereits maßgeblich an der Entdeckung und Ergreifung Eichmanns beteiligt, den er jedoch nicht, wie von ihm gewünscht, in Deutschland vor Gericht stellen konnte – 1963 in Frankfurt anstrengen konnte und der erstmals das Schweigen aufbrach, das bis dahin über die Verbrechen unter dem Nazi-Regime herrschte. Bekannt ist mittlerweile auch, dass gerade im Justizwesen und der Außenpolitik viele einfach relativ ungebrochen ihre Karrieren fortsetzen konnten, die sie im 3. Reich begonnen hatten. Und einige werden um die Schicksale jener Wissenschaftler wissen, die vor allem von den Amerikanern nach 1945 eingesammelt und in die USA verbracht wurden, wo sie – bekanntestes Beispiel dürfte Wernher von Braun sein – am amerikanischen Weltraumprogramm beteiligt wurden, welches schließlich zur ersten Mondlandung im Jahr 1969 führte.

Doch weniger bekannt ist wahrscheinlich die Geschichte der vielen, vielen Wissenschaftler, die gemeinsam mit von Braun in Peenemünde an der Entwicklung der V1 und V2-Raketen beteiligt waren, welche als „Hitlers Wunderwaffe“ bezeichnet wurden und tatsächlich verheerende Schäden in London in den letzten Kriegsjahren anrichten konnten. Nicht zwingend alles überzeugte Nationalsozialisten, hatten sie ihre Fähigkeiten jedoch bereitwillig in die Dienste des Regimes gestellt. Und sahen sich nun entweder gebrandmarkt, vor allem aber abgeschnitten von der Forschung, der sie ihr Berufsleben gewidmet hatten. Da die Bundesrepublik in ihren frühen Jahren über keinerlei Rüstungsforschung und -produktion verfügte und sich auch verpflichtet hatte, keine Schritte in Richtung Raketenforschung zu unternehmen, konnten diese Männer (es waren fast ausschließlich Männer) keine adäquate Arbeit finden. Umso gelegener kam ihnen das Angebot, im Nahen Osten, bzw. in Ägypten an den dort entstehenden Raketenforschungsprogrammen mitzuarbeiten. Unter der Leitung der Wissenschaftler Eugen Sänger, Wolfgang Pilz, Paul Goerke und, als Verbindungsmann in (West)Deutschland, Heinz Krug entstand in Kairo Eine Forschungsanlage, in der offiziell an einer Weltraumrakete, tatsächlich aber an diversen militärischen Raketen, vor allem einer Boden-Boden-Rakete mit einer Reichweite, die das gesamte israelische Gebiet einschloss, gearbeitet wurde. Diese Gruppe, in deren Umfeld, auch zu ihrer Absicherung, sich einige ehemalige SS-Männer umtrieben, und die größtenteils ihre Familien mit nach Ägypten gebracht hatten, nannte sich „die Experten“.

DIE EXPERTEN (2021) lautet somit auch der Titel des Fakten-Thrillers, den Merle Kröger zu diesem Thema geschrieben hat. Manche Bücher, gerade Romane, erschließen sich ja erst von ihrem Ende aus. In der Genre-Literatur trifft das meist auf Krimis und auch Bücher aus der Grusel-Ecke zu. Die Kunst der Autoren dieser Werke besteht dann darin, das Publikum, sprich den Leser, bei der Stange zu halten, auch wenn sich manches in der Handlung (noch) nicht erschließt. Am Ende des fast 700 Seien starken Romans von Kröger steht nicht nur ein Nachwort der Autorin, das Aufschluss über ihre Motive und ihr Vorgehen bei der Recherche gibt, sondern auch eine Nachschrift von Stefanie Schulte Strathaus, aus der hervorgeht, dass der fiktionale Teil des Romans im Wesentlichen auf die Geschichte ihrer Familie zurückgeht, auf die sie eher durch Zufall gestoßen ist. Sie ist mit dem Stoff an ihre Freundin Merle Kröger herangetreten, da sie den Stoff in deren Händen gut aufgehoben fand. Der Leser versteht dadurch einiges besser, allerdings bedeutet dieses Verständnis nicht, dass die Lektüre dadurch nachträglich einfacher oder spannender wird.

Kröger hat die Familiengeschichte ihrer Freundin verwendet, sie jedoch so weit verfälscht, dass wahrscheinlich Vieles nicht mehr wiederzuerkennen ist; die Figuren hat sie so entworfen und angeordnet, dass es ihr möglich war, ein, wenn auch nicht umfassendes, Portrait der bundesrepublikanischen Gesellschaft ca. achtzehn Jahre nach Kriegsende zu zeichnen. So sticht neben der Geschichte der Tochter des Wissenschaftlers Friedrich Hellberg, Rita, die von den Eltern gleichsam gen Ägypten entführt wird und sich in ihrem jugendlichen Begeisterungswillen geradezu in das fremde, ihr exotisch anmutende Land verliebt, vor allem die Geschichte ihres Bruders Kai hervor. Kai seinerseits geht den elterlichen Weg nicht mit, er bleibt im heimatlichen Stade/Hamburg zurück, wird eine Art früher Beatnik, treibt sich in der Hamburger Musikszene herum, begeistert sich im Star Club für die neue Musik, verfällt schließlich dem Jazz und eröffnet schließlich ein Lokal, das irgendwo zwischen Onkel Pö und der von Hubert Fichte so eindringlich beschworenen Palette changiert.

Mit Kai ist aber auch die kritische Gegenstimme der jungen Generation in den Roman eingeschrieben. Die Stimme jener, die sich massiv gegen die Wiederbewaffnung stellten und früh auf den Ostermärschen gegen den restaurativen Charakter der Adenauer-Jahre demonstrierten. Und offensiv gegen die Elterngeneration angingen, die sie für die Schrecken des Nazi-Regimes mitverantwortlich machten. Während Kai also seinen Weg geht, Friedrich in Ägypten reüssiert, lernt Rita nicht nur die arabische Kultur kennen, verliebt sich und verkehrt in den besseren Kreisen vor Ort, sondern lernt auch nach und nach, mit wem und was ihresgleichen es zu tun haben. So geht ihre psychisch angeschlagene Mutter Ingrid gern und oft zu Dr. Eisele, einem ehemaligen KZ-Schergen, auf den sie schwört. Im Familienkonstrukt fällt Pünktchen, jüngste Tochter der Hellbergs, etwas hinten raus. Sie wird schließlich einen ganz eigenen Weg finden und gehen.

Kröger selbst nennt ihr Buch einen „dokumentarischen Roman“. Das bedeutet, sie verflicht die Geschichte der Familie Hellberg mit dem realen Szenario des ägyptischen Raketenforschungsprogramms und der darum entstehenden internationalen Komplikationen und Verwerfungen. Denn keineswegs war bspw. Israel bereit, tatenlos zuzusehen, wie ein arabisches Land eine Massenvernichtungswaffe baut, mit der – so die selbstverständliche israelische Sicht – ein „zweiter Holocaust“ entfacht werden konnte. Ein zweiter Holocaust, an dem maßgeblich deutsche Wissenschaftler beteiligt sein würden. Es kam zu ernsthaften diplomatischen Zerwürfnissen (zumindest hinter den Kulissen) zwischen der israelischen und der deutschen Regierung, in der vor allem Konrad Adenauer bemüht war, das Verhältnis zum jungen Staat Israel aufzubauen und zu „normalisieren“, wenn dies überhaupt möglich gewesen sein sollte. Der Mossad, einer der israelischen Geheimdienste, übte Anschläge auf einige der Deutschen in Ägypten aus und entführte Heinz Krug aus Deutschland, ließ ihn foltern, schließlich töten und seine Leiche verschwinden. Es dauerte Jahrzehnte, bis wirklich Klarheit über dessen Verbleib herrschte. Maßgeblich Franz Josef Strauß war es zu verdanken, dass die deutschen Wissenschaftler aus Ägypten abzogen und schließlich in Deutschland wieder Anstellungen fanden.

Um den faktischen Charakter ihres Romans zu unterstreichen, teilt Kröger ihn in drei größere Abschnitte auf, die sie jeweils als „Fotoalbum“ bezeichnet. Zu Beginn eines jeden Kapitels der verschiedenen Alben beschreibt sie ein Foto aus selbigen, die wohl der Familie Hellberg gehören und entscheidende Stationen in Ägypten und der norddeutschen Heimat in den Jahren zwischen1961 und 1970 festhalten. Bilder, Fotos, sind ja in der Moderne lange Zeit für die besten Zeugnisse faktischer Echtheit gehalten worden. So bezeugen sie auch hier eben Authentizität. Da jedoch jede Menge Figuren der Zeitgeschichte – Wissenschaftler wie die bereits erwähnten Pilz und Sänger, deren Angehörige und Mitarbeiter, ehemalige Nazis wie der „Schlächter von Buchenwald“ Hans Eisele oder der SS-Obersturmbannführers Otto Skorzeny, Politiker und Agenten, u.a. Wolfgang Lotz, ein israelischer Meisterspion, der sich in Kairo als ehemaliger SS-Mann ausgab und die deutsche Gemeinde infiltrierte – auftreten, greift Kröger immer wieder auf essayistische Einschübe zurück, in denen sie die Zusammenhänge erläutert und gelegentlich auch erklärt, was aus den Betreffenden wurde. Das erinnert manchmal an Thomas Harlan und dessen Meisterwerk HELDENFRIEDHOF (2006), freilich ohne dessen sprachliche und literarische Meisterschaft zu erreichen und natürlich auch ohne dessen Furor, schreibt Harlan doch als Sohn des Nazi-Regisseurs Veit Harlan aus der Perspektive eines, wenn auch nicht unmittelbar, Beteiligten.

Kröger hat also ein berechtigtes Anliegen, sie hat mit der Geschichte ihrer Freundin Schulte Strathaus eine Basis und – das belegt eine umfassende Bibliographie am Ende des Buchs – jede Menge Fachkenntnisse, um von diesem Abschnitt bundesrepublikanischer Geschichte zu berichten. Leider kommt sie sich aber immer wieder selbst ins Gehege. Denn bevor es zu Beginn des dritten, des abschließenden „Fotoalbums“, zu wirklich spannenden Verwicklungen kommt, da Rita bereit ist, mit einem Freund von Kai zusammen zu arbeiten, der seinerseits wahrscheinlich für die Israelis spioniert, führt Kröger uns durch die lange Bewusstwerdung der Rita Hellberg. Und diese Art der Bewusstwerdung wurde bereits vielfach beschrieben. Nur unter anderen Voraussetzungen, sprich: Nicht vor der exotischen Kulisse Ägyptens, durch die sie sich in den Kreisen der Reichen und Schönen bewegt. Das ist manchmal einfach zu oberflächlich, in den Momenten, da die Weltgeschichte zuschlägt – bspw. in Form von Briefbomben, die auch Opfer unter den Deutschen fordern – dann zu unscharf. Man bleibt seltsam unberührt von den Schicksalen, die einem da beschrieben werden und, was vielleicht in einem Genreroman nicht ganz unwesentlich ist, es gibt eigentlich niemanden, den man wirklich sympathisch findet. Kai? Ja, aber der findet in den ersten zwei Dritteln des Romans eher peripher statt, mit Pünktchen hat man Mitleid, Friedrich mag zwar kein Nazi gewesen sein, steht aber stellvertretend für jene Generation, die steif und fest behauptete, von nichts etwas gewusst zu haben. Seine Frau Ingrid ist das Klischee der neurotischen Hausfrau deutscher Prägung. Bleibt Rita. Und die geht einem zwischenzeitlich gewaltig auf die Nerven in ihrem Unwillen, politisch zu denken und stattdessen das Leben der feinen Gesellschaft zu genießen. Und dieses beschreibt Kröger dann ermüdend genau. So wirkt dies weniger wie ein Thriller (der zwangsläufig ein Spionage-Thriller sein müsste), denn ein Gesellschaftsroman mit Hang zum Panoramablick.

Dennoch – es ist gut, dass sich eine deutsche Autorin dieses Themas annimmt. Auch die Form ist stimmig, der Wille zur Aufklärung stark zu spüren. Das Ganze hätte schlicht straffer sein können, mehr am Thema, weniger ausführlich in der Beschreibung des „normalen“ Lebens vor Ort. Denn das eine – die Familiengeschichte – steht dem andern – der Weltgeschichte – zwar nicht im Weg, doch da, wo sich beides kreuzt, wird das manchmal zu diffus, entsteht zu viel Ungenauigkeit. Kröger will offenbar beidem – der Geschichte der Freundin und der Geschichte dieser Deutschen, die da ein Vernichtungsprogramm gegen den Staat Israel unterstützten, also dem eigentlichen Skandal – gerecht werden, doch beides zugleich scheint nicht hinzuhauen, eins stolpert übers andere. Und doch: Merle Kröger wirft eben ein Schlaglicht auf ein fast vergessenes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte; auf ein Stück dieser Geschichte, das zwischen den anfangs genannten, sicherlich noch eindrücklicheren westdeutschen Entwicklungen nach dem Krieg, etwas abfällt, weniger Beachtung findet. Und das doch in seiner Perfidie gegenüber dem jungen Staat Israel und vor dem Hintergrund der damals jüngsten deutschen Geschichten kaum zu überbieten scheint.

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