HELDENFRIEDHOF

Der Text als Zumutung, als schriftlicher Sprachakt und als Sühnezeichen

Wie soll man das denn beurteilen? Gar bewerten?

Der Autor heißt Thomas Harlan, er ist der Sohn von Veit Harlan, jenem Regisseur, der für Goebbels und dessen Halunken JUD SÜSS (1940) gedreht hat. Der ‚Roman‘, besser: der Text, heißt HELDENFRIEDHOF[1]. Diesen aber zu besprechen ist unmöglich, weshalb man versuchen kann, etwas vom Geist des Buches wiederzugeben (eine Anmaßung des Rezipienten).

Eine inhaltliche Beschreibung zu geben, ist unmöglich, ebenso, wie es unmöglich scheint, auch nur zu sagen, worum es geht. Im weitesten Sinne um Täter der Shoah, vor allem  um die Frage, was aus ihnen nach 1945 geworden ist. Es ‚beginnt‘ mit einem Haufen Leichen in einem italienischen Städtchen, in dem ein Übergangslager eingerichtet war. Die Toten scheinen größtenteils jener Einheit der Wehrmacht angehört zu haben, die dieses Übergangslager bewachte und auch tilgte, als die Amerikaner näher kamen. Sie alle sind Veteranen sowohl der Säuberungsaktionen hinter der Ostfront, als auch des Triester Konzentrationslagers, der ‚Risiera di San Sabba‘, zu dessen Wirken unter anderem der SS-Führer Odilo Globocnik maßgeblich Anteil hatte. Der gleiche Odilo Globocnik, der in Polen als Verantwortlicher der berüchtigten ‚Aktion Reinhardt‘  Herr über die Lager Belzec, Sobibor und  Treblinka war. Wieso also begehen diese Figuren der Zeitgeschichte, die so gut aus der Zeit ihrer Geschichte entkommen waren, irgendwann in den späten 90er Jahren Selbstmord? Wer sind diese Männer und Frauen? Und was bedeutet dieser kollektive Selbstmord für Enrico Cosulich, dessen Mutter in der San Sabba zu Tode kam?

Dies wäre als ein Ausgangspunkt dessen zu betrachten, was materiell das Buch ist, das schließlich eine Seite eins braucht. Und irgendwann eine Seite siebenhundertsoundsoviel, die es beschließt. Dazwischen? Mitunter 18seitige Sätze, die möglicherweise auch nicht mehr aufgehen, die mäandernd anklagen, klagen, einen Klagegesang anstimmen auf eine Art, die ‚Mensch‘ sich nennt und doch als etwas eingestuft werden müsste, das noch nicht bezeichnet ist. Ein Furor ist das, dessen ‚Anfang‘ und dessen ‚Ende‘ nicht bestimmbar sind, ein Werk, das keine ‚Story‘ erzählt, keine Handlung, keine Narration, keine Hauptfiguren aufweist. Es ist stattdessen ein Textkörper, der selbst zum zeitlichen Strom wird, der versucht, einzufangen, was aus Zeit Geschichte werden läßt und sich dabei ununterbrochen selbst in die Quere kommt. Es durchbrechen sich Fiktion (Romanwirklichkeit) und dokumentarische Ebene (welche Wirklichkeit? Archivwirklichkeit? Geschichtswirklichkeit? Geschichtliche Wirklichkeit? Subjektive Wirklichkeit paranoider Geister, deren Väter gute Filme im Auftrag des Teufels hergestellt haben? Welche Wirklichkeit?), durchdringen einander, treten mit sich selbst in Dialog (im WORTwörtlichsten Sinne), erklären sich sich selbst.

Da weist der Roman den Leser darauf hin, daß es keinen Anfang gibt zu historischem Sein, da wir es eh in der Rückschau konstruierend immer nur im jeweiligen Moment der Wahrnehmung (lesend, fernsehend, filmguckend) wahr- und aufnehmen, nicht im Moment des immer zuvor passierenden Geschehens. Und somit kann auch kein ANFANG sein, also fängt der Roman auch nicht an, oder möglicherweise gerade hier, an der Stelle, an der er dir erklärt, daß er nicht anfangen kann (oder vielleicht auch HIER, in dieser Rezension). Was aber im Kontext des materiellen Phänomens ‚Buch‘, das man während des Lesens in den Händen hält, der Seite 445 (oder so) entspricht. Entsprechen könnte.

Die Vielschichtigkeit dessen, was das Phänomen HELDENFRIEDHOF ausmacht, ist so kaum mehr als anzureißen. Das kann man nicht lesen, im herkömmlichen Sinne. Es ist ein Textkonglomerat, das einen – läßt man sich auf die ganze Bandbreite der dort verhandelten ideengeschichtlichen Ebenen ein – kaum mehr aus den Labyrinthen der Geschichte(n) entlässt. Es ist ein gewaltiger Distanzierungsakt, diesen Text zu durchdringen, und gewiß gelingt das auch nicht unumwunden oder gar korrekt. Aber sich auf all diese theoretischen Herangehensweisen an die Frage der Geschichte, der Historizität, der Historisierung und der Fiktionalisierung einzulassen, strengt nicht nur enorm an, sondern es zwingt auch dazu, logisch zu denken. Doch Vorsicht beim Begriff „Fiktionalisierung“, denn vielleicht ist die Figur des Enrico Cosulich, der als eine Art „roter Faden“ betrachtet werden kann, bevor er aus der Handlung, jeglicher Handlung, entschwindet, eine fiktive Figur, all jene, denen er nachspürt auf der Suche nach den Gründen und Motiven, die zur Ermordung seiner Mutter in jenem Lager geführt haben, sind es nicht. Fast alle dieser Figuren haben gelebt (lebten zum Teil noch bei Erscheinen des Buches 2006) und haben gewirkt. Aufs Schrecklichste gewirkt.

Thomas Harlan hat sein Leben der Suche nach den Tätern gewidmet. Schon in den 50er Jahren nach Polen übergesiedelt, hat er dort unermüdlich die Archive durchforstet, um den Namen und den Orten der Täter nachzuspüren. Er versorgte die BRD regelmäßig mit Daten und Adressen und machte sich dadurch natürlich gerade in den 50er und 60er Jahren nicht sonderlich beliebt. All diese Erfahrungen fließen in dieses Monumentalwerk, sein ‚Opus magnum‘, mit ein. Er nennt die Klarnamen und Adressen zu den Namen im Text. Wieder und wieder. Der Text ist eine Anklageschrift, eine offene Kampfansage an jene, denen es gelungen war, nach 1945 einfach  „weiterzumachen“, mal unter falschem Namen, oft aber auch ganz offen und durchaus auch in der gleichen Profession wie während des 3. Reichs. Die ganze Wut, der ganze Hass auf die, die immer davongekommen sind, befeuert diese Schrift, so sehr, daß man das Gefühl nicht los wird, daß der Textkörper irgendwann schier zu explodieren, sich gegen sich selbst, gegen die Enge der 26 Zeichen des Alphabets zu wenden scheint, bis zur vollkommenen Unlesbarkeit.

Vergleichbar ist dies alles nicht. Am ehesten denkt man an Elfriede Jelineks DIE KINDER DER TOTEN[2] und zugleich spürt man, wie wenig dieser Vergleich Stand hält und wie wenig er beiden Werken gerecht wird.

HELDENFRIEDHOF ist gewaltig, nicht empfehlenswert und vielleicht eines der wichtigsten Bücher, die je im Nachkriegsdeutschland geschrieben wurden. Literatur al Akt – Akt der Vergewisserung, aber eben auch Akt der Anklage, ein performativer Sprachakt in Schrift, der in seiner Unerbittlichkeit auch ein Sühnezeichen ist. Ein unerträgliches „Buch“.

 

[1] Harlan, Thomas: HELDENFRIEDHOF. Reinbek bei Hamburg; 2006.

[2] Jelinek, Elfriede: DIE KINDER DER TOTEN. Reinbek bei Hamburg; 1995.

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