DIE HÄLFTE DER SONNE/HALF OF A YELLOW SUN

Die damals noch sehr junge Chimamanda Ngozi Adichie entwirft ein weites historisches Panorama ihres Heimatlandes Nigeria

Literatur unterliegt Moden, wie auch nicht? Momentan sind die Familiengeschichten aus multiperspektivischer Sicht gefragt und es gibt ja auch allerhand Argumente, die den auktorialen Erzähler in Frage stellen, eine übergeordnete Wahrheit oder Ordnung nicht akzeptieren wollen und somit zwangsläufig subjektiven Sichtweisen gerecht werden müssen. Dennoch oder vielleicht auch gerade deshalb ist es angenehm, ab und an auch von jüngeren Autoren einen klassischen Roman zu lesen. Eine auktoriale Erzählstimme berichtet von verschiedenen Protagonisten, es werden die Lebensumstände und die Beziehungen der Beteiligten zu- und untereinander beschrieben, die Figuren werden psychologisch ausgeleuchtet und wenn das Ganze dann auch noch in eine realistisch beschriebene, genau recherchierte historische Situation eingebettet ist, dann ist ein mit zunehmendem Alter vielleicht auch konservativerer Leser ganz zufrieden.

Chimamanda Ngozi Adichie – in Deutschland vor allem seit ihrem Bestseller AMERICANAH (2013; Dt. 2014) bekannt – hat genau ein solch oben beschriebenes Buch verfasst. DIE HÄLFTE DER SONNE (HALF OF A YELLOW SUN/2006; Dt. 2007) – der Titel nimmt Bezug auf die Fahne der kurzlebigen Republik Biafra – ist allerdings Jahre vor dem bekannteren Buch erschienen. Sie erzählt eine vielschichtige Familiengeschichte vor dem Hintergrund des Krieges um die Republik Biafra, die sich 1967 von Nigeria löste und nach einem fürchterlichen Krieg, den das Restland gegen die Abtrünnige Region im Südosten führte, 1970 wieder eingegliedert wurde. Da Nigeria die Häfen sperrte und eine Hungerkatastrophe auslöste, wurde das Bild jenes Kindes mit einem aufgeblähten Bauch zum Sinnbild für den Hunger in der Welt, vor allem der 3. Welt, wie man damals sagte.

Zu den absoluten Vorzügen dieses Romans ist Adichies Abrechnung mit den gängigen Klischees zu zählen, die vor allem in Europa hinsichtlich des afrikanischen Kontinents generell herrschen. Denn Nigeria war und ist ein reiches Land – vor allem Erdölvorkommen begründen diesen Reichtum – und keineswegs ein „failed state“, wie man heutzutage gern sagt. Zudem verfügte und verfügt das Land über eine breite Mittelschicht, die es wirtschaftlich und kulturell trägt. Allerdings beginnen hier auch die Probleme. Denn wie die meisten Länder Afrikas ist auch Nigeria ein abstraktes Gebilde kolonialen Zuschnitts. Die Briten, die hier während des 18. Jahrhunderts die Macht übernommen hatten, legten die Grenzen fest, sie nutzten aber vor allem die kulturellen Spannungen zwischen den Volksstämmen der Igbo, der Hausa, der Yoruba und der muslimisch geprägten Fulba – um die größten Gruppen der mehr als 250 Ethnien zu nennen, die Nigeria beheimatet – zu nutzen, um die eigene Macht zu konsolidieren und zu festigen. Es war ein gängiges Mittel des britischen Kolonialismus, unterschiedliche Ethnien gegeneinander auszuspielen, die eine der anderen zu bevorzugen, mit Posten und somit einem gewissen Wohlstand auszustatten usw. Was diese Art kolonialistischer Politik auslösen und verursachen kann, ist ein weiteres der Themen, die hier behandelt werden.

Olanna und Kainene sind Zwillingsschwestern. Während Kainene dem Vater zum Gefallen ins Familienunternehmen einsteigt und sich als sehr fähige Geschäftsfrau betätigt, liebt Olanna in Odenigbo einen linksintellektuellen Universitätsdozenten, der von einem anderen Nigeria und Afrika träumt, der schon in den späten 60er Jahren das ausbildet, was heute in den einschlägigen Studiengängen „afrikanisches Bewußtsein“ genannt wird. In dem Haushalt der beiden kommt der junge Ugwu als Hausboy unter. Sie alle sind Angehörige des Volksstammes der Igbo. Zu den regelmäßigen Gästen von Olanna und Odenigbo gehört der Brite Richard, der sich allerdings – auch im Bewußtsein der Verbrechen des Kolonialismus – eher als Afrikaner fühlt und im Verlauf des Romans nicht nur der Geliebte und Lebenspartner von Kainene wird, sondern auch ein Verlorener, ein Drifter zwischen den Welten, hier nicht zuhause – dort nicht mehr.

Adichie erzählt ruhig und in einem gleichmäßigen Tempo, mit den Mitteln des klassischen Romans, von dieser Zweckgemeinschaft, die nach und nach – vor allem unter dem Eindruck des Krieges – eine Schicksalsgemeinschaft und auch eine Freundesgruppe wird. Dabei gelingen ihr sehr gute Personenportraits, auch, wenn einiges arg konstruiert wirkt, um verschiedene Themenbereiche abzudecken. Die Igbo sind ausgerichtet an England, Großbritannien, an englischen Lebens- und Umgangsformen. Olanna und ihre Schwester sollen eine europäische, also „gute“ Erziehung erhalten. Diese konservative Haltung bringt die Eltern vor allem in Opposition zu Odenigbo, dessen Ideen sie für umstürzlerisch halten. Mit der Figur des Hausboy Ugwu kann Adichie eine genaue Beobachtung des Verhältnisses eben auch innerhalb einer Volksgruppe anstellen und zugleich eine feine Neudefinition des Hegel´schen Verhältnisses von „Herr und Knecht“ abliefern. Sie kann anhand der Gestalt Ugwu allerdings auch davon berichten, wie selbst der Friedliebendste in Zeiten des Krieges zum Ungeheuer werden kann. Richard schließlich ist die Projektionsfläche als Weißer, als Vertreter eben jener Macht, die für die Unterwerfung des Landes verantwortlich war und ist, der ein Unbehagen empfindet, der ein Bewußtsein für begangenes Unrecht entwickelt und doch irgendwo zwischen der Tradition und der Moderne steckenbleibt und eher verzweifelt denn selbstbewußt versucht, einen Fuß in diesem neuen Land – Biafra – auf die Erde zu bekommen um hier Fuß zu fassen, heimisch, Teil von etwas Größerem zu werden. Und der eben nicht begreifen kann, daß ihm, aus einer historischen Situation heraus, genau dies verwehrt bleiben muß. Er ist geduldet.

Genau so wirkt auch die Beziehung zwischen ihm und der extrem selbstbewußten und auch machtbewußten Kainene. Sie ist in mancherlei Hinsicht die interessanteste, aber auch die tragischste Figur des Romans. Sie wirkt – gerade in der literarischen Anlage als Zwilling – wie das Idealbild, daß Olanna vor Augen hat, dem sie aber nicht entsprechen kann, da ihr immer wieder die eigenen Emotionen, Zweifel und Gewissensbisse in die Quere kommen. Man ist versucht, diese Schwestern als eine Art Doppelportrait der Autorin ihrer selbst zu betrachten. Ehrliche Selbstreflexion trifft auf ein Idealbild, das man von sich selbst entwirft. Die Beziehung zu Richard bleibt allerdings eine der wenigen psychologisch weniger einleuchtenden Beziehungen und Konstellationen, die hier gesponnen und verwoben werden.

Da Adichie all diesen Figuren Stärken und Schwächen angedeihen lässt, sie nicht immer unbedingt sympathisch zeichnet, ihre Widersprüche herausstreicht, sind sie allesamt lebensnah und glaubwürdig. Ein erstaunliches Unterfangen für eine damals so junge Autorin. Denn diese Literatur erinnert – und es sei hier bitte verziehen, daß als Referenz eine weiße Autorin genannt wird – stark an jene, die Nadine Gordimer über Südafrika geschrieben hat. Und Gordimer, eine spätere Nobelpreisträgerin, ist sicherlich zu den Grande Dames der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts zu rechnen.

Zu dieser Leistung ist dann eben auch zu zählen, wie scheinbar leicht, wie scheinbar selbstverständlich es Adichie gelingt, so unterschiedliche Themen zu behandeln und dabei auch eine einleuchtende Diagnose der nigerianischen Gesellschaft und ihrer Neurosen zu zeichnen. Der Widerspruch aus alten, traditionellen Werten, aus Aberglaube, Zauberei und Hexenkunst und den alten Riten einerseits und andererseits der Moderne, dem Christentum, welches die meisten hier angenommen haben, den westlichen Werten, europäischer Erziehung und Kultur und den inneren und äußeren Spannungen und Reibereien, die dies erzeugt, wird hier in und zwischen den Zeilen spürbar, nachvollziehbar, es wird verständlich, zu welchen gedanklichen Verrenkungen dies zwangsläufig führen muß. Adichie geht nicht zimperlich mit der Ethnie, den Igbo, um, der sie selbst angehört. Sie zeigt den Dünkel, den die Bevorzugung durch die Kolonialmacht hervorbringt, aber auch die innere Zerrissenheit zwischen der Tradition und der angenommenen Kultur. Sie stellt weder die eine, noch die andere Gruppe heraus, allerdings, es wurde erwähnt, gehören ihre Protagonisten weitestgehend den Igbo an. Umso wichtiger, daß sie deren Bestrebungen und Ansichten ausgesprochen kritisch betrachtet.

Wie es allerdings bei großer Literatur nun einmal meist so ist, braucht es eine emotionale Klammer – und das ist dann eben die eigentliche Kunst, den Leser derart an die Figuren und ihre Geschichte(n) zu binden, daß er auf den letzten Seiten anfängt, immer langsamer, in immer kürzeren Abschnitten zu lesen, um das Ende der Lektüre hinauszuschieben. Denn man will diese Figuren nur ungern verlassen, will ihre Gesellschaft nicht missen, die man über knapp 630 Seiten genossen hat. Adichies Roman ist eben auch – neben vielem andern, das ja beschrieben wurde – ein Roman, in dem man wohnen kann. Eine Heimstatt.

 

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