DIE UNTERSCHÄTZTEN. WIE DER OSTEN DIE DEUTSCHE POLITIK BESTIMMT
Cerstin Gammelin bietet einen Überblick über ostdeutsche Befindlichkeiten und auch Erfolgsgeschichten aus den neuen Bundesländern
Die Idee, die Cerstin Gammelins DIE UNTERSCHÄTZTEN (2021) zugrunde liegt, ist an sich eine gute und vor allem eine originelle. Denn anders als all die Bücher, Essays, Aufsätze und Artikel, die in den letzten Jahren – vor allem rund um den 30. Jahrestag des Mauerfalls und der Wiedervereinigung 2019/20 – zum Thema „Osten“ oder „Ostdeutsche“ erschienen sind, will die Journalistin der Sueddeutschen Zeitung herausarbeiten, was die „Ostdeutschen“, also jene Bewohner der neuen – oder, besser, der neueren – Bundesländer, eigentlich bereits erreicht haben. Wie der Untertitel ihres Buchs bereits sagt: WIE DER OSTEN DIE DEUTSCHE POLITIK BESTIMMT.
Und es stimmt ja auch. Waren es anfangs die Pfeile, die es Rechtsabbiegern erlaubte, auch bei „rot“ die Richtung zu wechseln, sind es mittlerweile einige Errungenschaften, die im Osten, in der ehemaligen DDR, selbstverständlich waren, die in der neuen Bundesrepublik erst langsam ankommen und endlich auch als positiv verstanden werden. Polikliniken, Ganztagsbetreuung für Kinder, die Möglichkeit, daß Frauen selbstverständlich arbeiten und gleichberechtigt ihren Beitrag zum Familieneinkommen leisten.
Erwartungsgemäß werden diese Übernahmen (oder Neu-Inventionen) im Buch auch wiederholt erwähnt. Erwartungsgemäß werden aber auch all die Versäumnisse aufgezählt, die es in den über 30 Jahren gab: Viel zu wenig Ostdeutsche in Führungsposition, egal ob in der Wirtschaft, in Universitäten, in Ämtern oder Gerichten, kaum bis keine DAX-Konzerne in den neueren Bundesländern, die Treuhand-Geschichte, die Kapitalaufbau im Osten eher verhinderte, denn gefördert hat, mangelnde Industrie im Osten, dennoch nur schwacher Mittelstand usw. Man kennt die Argumente und Aufzählungen. Und wie bei den Büchern einiger von Gammelins Kollegen und Kolleginnen – Jana Hensel, Julia Friedrichs – ist es auch diesmal: Man fragt sich bei einigen Dingen, wie hätte es laufen sollen?
Die deutsche Wiedervereinigung – die eher ein Beitritt der dann ehemaligen DDR gewesen ist – war ein Modell ohne Muster, ein Experiment ohne Blaupause. Selbst die Geschichte der Treuhand ist letztlich nicht so einfach zu erzählen, wie sie, auch von Cerstin Gammelin, immer wieder dargestellt wird. Der gesamte Prozeß war learning by doing, ein oft brachiales Trial and Error. Und natürlich ahnte man in Westdeutschland, daß diese Sache ein Generationenprojekt werden würde, keinesfalls billig zu haben. Und natürlich sah man die Massen in Dresden und anderswo Helmut Kohl zujubeln und ahnte, daß der die Wahlen gewinnen würde mit Versprechen, die schlicht nicht zu halten waren – während Oskar Lafontaine gegen jeden gesunden Menschenverstand versuchte, die Härten, die da auf das ganze neu entstehende Land zukommen würden, zu vermitteln. Und natürlich musste er damit krachend scheitern. Spätestens mit der Währungsunion waren die Weichen gestellt und viele der Wege, die dann in den 90er Jahren beschritten wurden, waren damit vorgezeichnet. All jene, die einen anderen, einen 3. Weg gehen wollten, wurden nicht mehr gehört.
Gammelin zählt etliche dieser Entwicklungen noch einmal auf, zeichnet sie nach und führt die fürchterlichen Fehler an, die gemacht wurden. Aber auch sie stellt sich nicht der Tatsache, daß es weder im Osten noch im Westen irgendeine Art von Plan gegeben hätte, wie man diesen ganzen Akt nun eigentlich hätte angehen sollen. Und wie viele gerade ihrer ostdeutschen Kollegen und Kolleginnen stellt sie sich auch nicht den eigenen Fehlern. Also jenen überzogenen Erwartungen, die viele Ostdeutsche hatten, dem Fakt, daß viele Ostdeutsche damals die „Wahrheit“ schlicht nicht hören wollten, daß auch in den 90er Jahren viele in einer Haltung verharrten, der Westen, die Politik, alle andern – letztlich „das System“ – sei in einer Bringschuld gegenüber den Helden der friedlichen Revolution des Herbstes 1989. Lediglich ein einziger Absatz auf diesen 300 Seiten zieht die Möglichkeit in Betracht, daß eben auch von vielen Ostdeutschen zu wenig Eigenbeteiligung kam, daß viele weggingen und verödete Landstriche zurückließen.
Gammelin hat für ihr Buch etliche alte Freunde und Wegbegleiter befragt, hat Einzelschicksale nachvollzogen, sie rekurriert auch auf ihre eigene, wahrscheinlich eher nicht exemplarische Geschichte und Karriere. Sie hat mit Politikern, Soziologen, Politikwissenschaftlern und Journalisten gesprochen und sich bemüht, eine Gesamtschau zusammenzutragen, die einen Überblick vermittelt, wo das Land – und speziell die Ostdeutschen – über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung steht. Allerdings sind dabei nur wenig wirklich neue Erkenntnisse herausgekommen. Wer die Diskussionen in den Wirtschaftsteilen, den Politikteilen und den Seiten der Feuilletons in den vergangenen Jahren verfolgt hat – und wer ein Buch wie dieses liest, wird das getan haben – , der wird hier nicht viel Neues finden.
Interessant sind jene Geschichten, die den Untertitel des Buchs bestätigen. Allerdings, wenn auch nicht als Schwerpunkt, wird auch deutlich, daß „der Osten“ die Politik in diesem Land auch auf ganz andere Art und Weise bestimmt. Er setzt Themen und kann den politischen Diskurs durchaus bestimmen. Dafür stehen Entwicklungen wie PEGIDA in Dresden, dafür steht aber auch das Phänomen der AfD (Alternative für Deutschland), eine dezidiert westdeutsche „Professorenpartei“, die sich originär gegen den Euro und die EU in ihrer derzeitigen Form richtete und mittlerweile zu einer rechtsnationalen, in Teilen rechtsradikalen Partei mit völkischen Strömungen mutiert ist, die größtenteils von Westdeutschen geführt wird und dennoch gerade in einigen der neuen Bundesländern zur stärksten politischen Kraft herangewachsen ist. Diese Widersprüche greift Gammelin auf, wirklich erklären kann sie sie allerdings auch nicht. Zudem gibt es eine ganze Reihe von Studien, Untersuchungen und Analysen, die dies explizit – und meist eben auch genauer, tiefgreifender – bereits getan haben.
Interessant ist allerdings auch – und darauf weist Gammelin noch einmal sehr explizit hin – daß im Osten zwar keine Wahlen gewonnen, keine Kanzler gemacht werden (was allerdings nur mit Einschränkung stimmt, denn Gerhard Schröders Wiederwahl 2002 wurde im Osten entschieden), daß aber eben gegen den Osten auch keine Regierungen gebildet und Kanzler gestellt werden können. Der Einfluß der neuen Bundesländer auf die gesamtdeutsche Politik ist also durchaus vorhanden, manchmal eher subtil, manchmal mit dem Holzhammer. Es gibt ostdeutsche Erfolgsgeschichten und vielleicht gehört dazu auch – auch davon weiß Gammelin zu berichten – , daß viele, die im „Osten“ geboren wurden – kurz vor oder bereits nach der Wende – immer weniger in den Kategorien von „Ost“ und „west“ denken, sondern sich als Kinder einer gesamtdeutschen Republik wahrnehmen, die ihnen Chancen bietet, manchmal mehr, manchmal weniger. Und die weitaus mehr als viele ihrer Altvorderen bereit zu sein scheinen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich aufzumachen, die Chancen, die dieses Land bietet, zu nutzen.
Alles in allem ist Cerstin Gammelins Buch ein faktenreicher, gut recherchierter Beitrag zur Ost-West-Debatte, gelegentlich spürbar mit heißer Nadel gestrickt, da es offensichtlich vor der Bundestagswahl 2021 erscheinen und sicherlich auch die Wahlentscheidung einiger beeinflussen sollte. Es ist ein guter Ergänzungsband, der wenig Neues, aber vieles, das bekannt ist, noch einmal gebündelt präsentiert. Und ja – es macht auch ein wenig den Eindruck, als sollte nach vielen, vielen Beiträgen, die das Narrativ der Ostdeutschen als „Bürger zweiter Klasse“, als „Abgehängte“, bedienten, nun einmal ein Werk erscheinen sollte, das hervorhebt, was in den 30 Jahren auch erreicht wurde und daß es durchaus auch – und nicht wenige – Erfolgsgeschichten gab und gibt. Daß das zentrale Kapitel des Buchs sich mit Angela Merkel und ihrer Geschichte beschäftigt, kommt also nicht von ungefähr. Und daß die Geschichte der Autorin des Buchs selbst zu den „Erfolgsgeschichten“ gehört, überrascht natürlich genau so wenig.