DRESDEN. DIE ZWEITE ZEIT

Kurt Drawert bietet eine radikal andere Sicht auf die Geschichte der DDR und damit einen Kontrapunkt zur sonstigen Literatur der Wendejahre

Schon auf den ersten Seiten seines als „Roman“ ausgewiesenen Bandes DRESDEN. DIE ZWEITE ZEIT (2020) legt Kurt Drawert die Latte des intellektuellen Niveaus, auf dem er sich zu bewegen gedenkt, sehr hoch. Er beschreibt seine Ankunft in Dresden, irgendwann in einem der vergangenen Jahre, irgendwann nach 2013, als er die Stelle als Stadtschreiber antritt und stellt dabei auch die Lektüre vor, die er von zuhause mitgebracht hat. Neben einer Lacan-Biographie[1] sind es Schriften des Psychoanalytikers und Theoretikers selbst, Julia Kristevas FREMDE SIND WIR UNS SELBST (2001)[2], Essays von Zygmunt Bauman, Texte von Annie Erneaux und einiges andere. Alles Werke, die die Entfremdung – auch von sich selbst – thematisieren, das Fremd-Sein in der eigenen Haut, im eigenen Körper, im eigenen Land, der eigenen Stadt, in der Familie und in Beziehungen generell.

Drawert ist nach Jahrzehnten nach Dresden zurückgekehrt, wo er seine Jugendjahre verbracht hatte als sein Vater, ein Kriminalkommissar, dort einst eine Stelle angetreten hatte und wo die Mutter noch immer lebt. So hofft der Schriftsteller, das Nützliche mit dem Notwendigen verbinden zu können und die alte Dame häufiger zu sehen als bisher. Doch gestaltet sich sowohl die Eingewöhnung in die alte Heimat als auch die Auseinandersetzung mit der Familie schwieriger, als er zunächst angenommen hatte. Und so wird die „zweite Zeit“ in Dresden, von der der Titel kündet, zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit der Stadt, vor allem den Auswüchsen, die sie mit Pegida hervorgebracht hat, dadurch aber auch mit der einstigen DDR, mit dem Vater, dessen Rolle als Patriarch der Familie und sein systemrelevanter Job in Eins zu fallen scheint mit dem Staat, es wird eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familie, den jüngeren Brüdern, Zwillingen, deren einer in den Nachwendejahren langsam jeden Halt verloren hatte, dem Alkohol verfallen und schließlich jung gestorben ist und dessen Abwesenheit Drawert wie eine körperliche Wunde, wie eine Amputation empfindet.

Die Körper-Metapher wird wesentlich für diesen Text, der sich als „Roman“ deklariert, bei genauerer Betrachtung aber eher einem Band essayistischer Texte, Analysen, Tiefenbetrachtungen entspricht. Mit der Körper-Metapher, wie auch mit der Benennung des Buchs als „Roman“, entspricht Drawert aber den oben genannten Lektüren, denn es sind durchaus im Poststrukturalismus – dem zumindest Kristeva zuzurechnen und für dessen vornehmliche Denker Lacan eine wesentliche Referenz gewesen ist – übliche Metaphern und Überlegungen, die dieser Betrachtungsweise zugrunde liegen. Denn so sehr dies auch und gerade ein autobiographischer Text ist, das literarische Ich ist eben auch immer Konstruktion und damit Fiktion, der Text entzieht sich den Intentionen seines Autors und wird zu einem gleichberechtigten Werk des Lesers. Dementsprechend schreibt Drawert aus einer bedingungslos subjektiven Perspektive, die sich dennoch vom Subjekt des Autors entfernt, vielleicht sogar vollends entkoppelt. Diese radikal subjektive Perspektive erlaubt es ihm, als Autor, jedoch, sich über die wissenschaftliche Analyse oder die Genauigkeit der Faktenlage hinwegzusetzen (was er defacto aber nicht tut) und ein Bild von Vergangenheit und Gegenwart zu zeichnen, das – tiefenpsychologisch, wenn nicht gar psychoanalytisch angelegt – in mancherlei Hinsicht wahrer sein mag, als jede datenbasierte Untersuchung oder Studie.

Der eigene Körper wird dem Schriftsteller in seiner zweiten Dresdner Zeit zu einem Feind, weil die Schultergelenke nicht mehr mitmachen, die Sehnen Verschleiß zeigen, die Schmerzen immer größer werden, bald die Arme nicht mehr nutzbar sind, die Untersuchungen bei diversen Ärzten keine eindeutige methodische Vorgehensweise, was zu tun sei, aufzeigen und der Autor immer mehr verzweifelt. Der eigene Körper-Schmerz wird aber auch zu einer Metapher für den Körper des Vaters, den Verfall des Vaters, der nach der Wende in ein tiefes Loch fiel, da er, Staatsdiener, der er nun einmal gewesen ist, nicht mehr auf die Beine kommt, keinen Anschluß, keine Verwendung mehr findet und damit zu den typischen Wendeverlierern gehörte. Sich immer tiefer in die Geschichte deutscher Kriege des 19. Und 20 Jahrhunderts vertiefend, ist lediglich der Roman SPIEGELLAND (1992), den Drawert in den unmittelbaren Nachwendejahren veröffentlicht hatte und der auch eine Abrechnung mit dem väterlichen Erbe, seiner Position im Staat wie im Leben des damals jungen Autors wurde, ein gegenwärtiger Fixpunkt, den der alternde Mann mit einer eigenen „Gegenschrift“ erwiderte und zu widerlegen suchte.

Wie dieser Vater in seiner Rolle als Kommissar, der auch Ärger bekommen konnte ob des aufmüpfigen Sohns, eine patriarchale Struktur ver“körperte“, so ver“körperte“ der untergegangene Staat, die DDR, eben dieses patriarchale System. Ein sorgender, ein behütender, aber eben auch strafender Staat, der der Bevölkerung, vielleicht „dem Volk“, vorschreiben konnte, wie es zu leben, wie es sich zu entwickeln hatte. Ein Staat, der einem übergriffigen Vater gleich dafür sorgte, daß seine „Kinder“ nicht in die falsche Gesellschaft gerieten – weder außerhalb der Grenzen des „väterlichen“ Einflußgebiets, noch innerhalb desselben. Man kam nicht heraus, man kam aber auch nicht mit den „Fremdkörpern“ in Berührung, auch nicht mit denen aus sozialistischen Bruderländern. Für Drawert – darin ähnelt seine Analyse der von Ines Geipel[3] oder den Autoren des interessanten Sammelbandes ZUR RECHTEN ZEIT. WIDER DIE RÜCKKEHR DES NATIONALISMUS (2019)[4] – sind in diesen Überlappungen, in diesen „Verkörperungen“ des Vaters wie des Staates wesentliche Gründe für die Entwicklung in einer Stadt wie Dresden in der jüngsten Vergangenheit zu suchen. Denn was sich dort virulent äußert, entspringt auch einer Latenz der DDR.

Die, die sich bei Pegida treffen um aufzubegehren gegen eine vermeintliche Diktatur, sind jene, die, anders als der Autor selbst, bei Zeiten womöglich eben nicht aufbegehrt haben. Nicht gegen den patriarchalen Staat, den Über-Vater, und wahrscheinlich auch nicht gegen den realen eigenen Vater. Aufbegehren in der DDR konnte wirkliche, sehr reale Konsequenzen zeitigen, Lebenskonsequenzen – Abitur machen, studieren dürfen, das ganze Arbeitsleben konnte sich hier schon entscheiden – die im Westen so nicht zu gewärtigen waren. Wenn nun also jene, die sich „abgehängt“ fühlen, „nicht integriert“, übergangen, als „Bürger zweiter Klasse“, aufbegehren gegen die imaginierte Merkel-Diktatur, die mindestens mit dem DDR-Regime gleichgestellt wird, wenn nicht gleich mit dem der Nazis, dann liegt in dieser Fiktionalisierung für Drawert eben auch das „nachgeholte“ Aufbegehren sowohl gegen den abstrakten „Vater Staat“, wie auch gegen die eigenen Väter, die nach der Wende vielleicht als zu schwach erlebt wurden, als daß man reell gegen sie hätte rebellieren können. Beziehungsweise wäre es damals eine Rebellion gewesen, die ihr Ziel verfehlt hätte, ins Leere gelaufen wäre. Eine doppelte Projektion, die zugleich eine Spiegelung eigener Versäumnisse, eines eigenen Versagens ist.

Drawert geht dabei sogar soweit, sich zu fragen, ob die, die sich da nun montags immer zum „Spaziergang“ treffen, ausländerfeindliche Parolen rufen und das System überwinden, wenn nicht gar stürzen wollen, einst nicht jene waren, die eben nicht den Mut hatten, zu den entscheidenden Demos im Jahr 89 zu gehen, die damals hinter der Gardine standen und abwarteten, wie die Sache sich entwickeln würde. Oder, auch diese Überlegung scheut er nicht, ob es Menschen sind, die einst gar zur Nomenklatura, zu den Profiteuren des DDR-Systems gehört haben? Und auch die Frage, ob diese Menschen sich je Rechenschaft darüber abgelegt haben, was eigentlich ihr Beitrag gewesen ist zu dem, was nach 1990 geschah und gemeinhin die „Wende“, die „Wiedervereinigung“, genannt wird, wirft Drawert auf. Ihm wird auch Dresden so zu einem Körper – ein ebenfalls verwundeter Körper, zumindest in der Eigenwahrnehmung seiner Bewohner, ein Körper, der immer noch die Wunden jener Nacht im Februar 1945 gleichsam einem Stigma vor sich herträgt und zugleich nicht fähig ist, die Wunden anderer wahrzunehmen, geschwiege denn zu akzeptieren. Wie schwer dieses Akzeptieren sein mag, zeigen die Auseinandersetzungen um die drei Busse, die der Künstler Manaf Halbouni 2016 in Dresden als Mahnmal für die Toten und Flüchtigen aus Aleppo aufstellte.

Doch sind diese politisch-gesellschaftlichen Betrachtungen nur ein – wenn auch wesentlicher – Teil der Auseinandersetzungen, die Drawert in (und mit) seinem Text führt. Sein Nachdenken ist tiefschürfend, psycho-analytisch, selbstreferentiell, konsequent ehrlich und oft sehr schmerzhaft. Auch darin misst er sich am intellektuellen Niveau der eingangs  erwähnten Texte, die ihn in Dresden begleiten. Er will durchdringen – sich, seine Familie, das Verhältnis zu dieser Familie, die Wunde, die der Tod des Bruders riss, für den Drawert sich verantwortlich fühlt, den Vater und dessen Versinken in einer imaginierten Geschichte gewonnener und verlorener Kriege, das Land, das es nicht mehr gibt und zu dem er weder ein nostalgisches, gar sentimentales Verhältnis hat, sondern das er verließ, sobald dies möglich war. Es war/ist ein Land, welches ihm – abstrakt als Staat und ganz konkret in der Figur des Vaters – Lebensperspektiven verbaut, ja verweigert hat, ein Land, in dem Drawert sich unfrei und eingeschlossen fühlte. Ein Land, das er, obwohl er schon 1987 in der DDR mit einem Lyrikband reüssieren konnte, verließ, als dies möglich war, erst Richtung Norddeutschland, später ins Ausland, schließlich gen Darmstadt, wo er immer noch lebt und u.a. das Zentrum für junge Literatur leitet.

Anders als viele der Werke, die – mal fiktional, mal essayistisch, mal analytisch – sich mit der DDR als ehemalige Heimat, als eigene Vergangenheit oder prägende Basis beschäftigen, bietet Kurt Drawert eine radikal andere Perspektive, einen radikal anderen Ansatz zur Auseinandersetzung mit der Geschichte. Manchmal ist es schwierig, ihm zu folgen, die Lektüre erfordert Genauigkeit und erneutes Lesen, wieder und wieder. Manches ist unerhört und wird sicher auf viel Gegenwehr stoßen, Viele werden sich hier mißinterpretiert fühlen und erst recht mißverstanden. Umso interessanter und vor allem wichtiger, daß dieser radikale Ansatz von einem kommt, der die DDR kannte (Drawert wurde 1958 geboren), der ebenfalls hier sozialisiert wurde, der zugleich aus einem systemkonformen Haushalt kam, der die Auseinandersetzung auf eigene Faust und im doppelten Sinne suchen und führen  musste. So kann hier nicht abgewiegelt werden, es hat keinen Sinn, ihm vorzuwerfen, er wisse nicht, wovon er rede. Kurt Drawert weiß es sehr, sehr genau.

Und es wäre also auch zu wünschen, daß sein Werk ebenso intensiv gelesen würde, wie die Bücher von Jana Hensel, Ines Geipel (mit der er den Background teilt, aus eben konformen Elternhäusern zu kommen) oder die Romane von Lutz Seiler, Eugen Roth oder Uwe Tellkamp. Dies ist eine starke Gegenposition, eine durchdringende Betrachtung und ein schmerzhafter Text-Körper, der den Leser in eine Vergangenheit mitnimmt, die noch lange nicht vergangen sein und mit einer Gegenwart konfrontiert, die sich noch weit in die Zukunft hinein erstrecken wird.

 

[1] Roudinesco, Élisabeth: JACQUES LACAN. BERICHT ÜBER EIN LEBEN, GESCHIHCTE EINES DENKSYSTEMS. Wien, Berlin, 2011.

[2] Kristeva. Julia: FREMDE SIND WIR UNS SELBST. Frankfurt/M., 2001.

[3] Geipel, Ines: UMKÄMPFTE ZONE. MEIN BRUDER, DER OSTEN UND DER HASS. Stuttgart, 2019.

[4] Frei, Norbert; Maubach, Franka; Morina, Christina; Tändler, Maik: ZUR RECHTEN ZEIT. WIDER DIE RÜCKKEHR DES NATIONALISMUS. Berlin, 2019.

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