DAS ANDERE ENDE DER GESCHICHTE. ÜBER DIE GROSSE TRANSFORMATION

Philipp Ther bündelt noch einmal die Entwicklungen der Jahre nach 1989 und erklärt, warum Fukuyamas Thesen vom "Ende der Geschichte" nicht zutreffend waren

1992 legte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sein Buch DAS ENDE DER GESCHICHTE vor und postulierte den globalen und endgültigen Siegeszug der Demokratie im Einklang mit einem entsprechendem Liberalismus, gestützt durch die Marktwirtschaft als eingehegter Form des Kapitalismus. Autoritäre Systeme – worunter Fukuyama sozialistische/kommunistische Ideologien ebenso subsumierte, wie faschistische/nationalsozialistische – hätten als eine Art Antithese, im Hegel´schen Sinne, zum extremen Liberalismus, wie ihn das 19. Jahrhundert vor allem mit der Industrialisierung hervorgebracht habe, ausgedient. Nun breche ein posthistorisches Zeitalter der liberalen, marktwirtschaftlichen Demokratie an. Für Historiker schon damals eine eher seltsam anmutende These, mag Fukuyama im Überschwang jener Jahre, in denen der Kommunismus als real existierendes ideologisches Staatssystem zusammenbrach und nahezu komplett aus der europäischen Wirklichkeit verschwand, wirklich geglaubt haben, daß es ein „Ende der Geschichte“ geben könne.

Nun, dreißig Jahre nach dem Wendejahr 1989 und 28 Jahre nach Fukuyamas Erläuterungen, steht der Westen vor der Frage, wieso es so anders kommen konnte, als viele es erwartet hatten? Daß die Geschichte einer Zwangsläufigkeit folgt, konnte schon früher als reines teleologisches Wunschdenken widerlegt werden. Dennoch erstaunt es sowohl Historiker, als auch Soziologen und Politikwissenschaftler, wie sich das Haupt des Nationalismus wieder erhebt, wie sich „völkisches Denken“ und offenbar auch der Glaube an autoritäre Führung und ebensolche Systeme zunehmender Beliebtheit erfreuen und in Teilen Europas – vor allem Osteuropas, aber auch in Italien und teilweise, wenn auch noch ohne Regierungsbeteiligung, auch in Westeuropa – bereits sogenannte „illiberale“ Demokratien herausgebildet haben. Polen und Ungarn sind die dafür deutlichsten Beispiele. Aber auch in Slowenien, ansatzweise in Tschechien und auf dem Balkan scheinen autoritäre und offen rechtsgerichtete Regierungen auf dem Vormarsch zu sein.

Nun sind in den vergangenen drei, vier Jahren etliche Bücher und Studien erschienen, die sich genau dieses Problems annehmen, einige eher redundant, andere von herausstechender Klarheit und Weitsichtigkeit. Der Historiker Philipp Ther legt mit DAS ANDERE ENDE DER GESCHICHTE. ÜBER DIE GROSSE TRANSFORMATION (2019) eine essayistisch angelegte Übersichtsstudie zur Entwicklung vor allem in Europa und den USA vor, die noch einmal gebündelt die Entwicklungen – beileibe nicht nur ökonomischer Natur – und Bruchstellen der vergangenen dreißig Jahre nachzeichnet und dem Leser verständlich vermittelt, wie und, vielleicht, warum es diesen Pendelschlag gen rechts gegeben hat.

Ther untersucht in sechs Kapiteln die Entwicklung seit 1989 in den USA, in Deutschland („Einheitskrise“), in einem langen Kernkapitel den Abstieg Italiens als „Menetekel für Europa“ und die Entfremdung zwischen dem Westen, Russland und der Türkei. Ein Einführungskapitel und ein Nachwort zur Pendelbewegung nach rechts runden die Studie ab. Da das Werk als Essay angelegt ist, was es gut lesbar macht, darf man natürlich keine erschöpfende wissenschaftliche Studie erwarten, doch mit einem Anhang von 20 Seiten wird ein sehr guter Überblick über die Quellenlage geboten.

Der Untertitel des mit knapp 200 Seiten eher schmalen Bandes verweist auf jenes Standardwerk, auf das Thers Untersuchungen, Überlegungen und Thesen beruhen: THE GREAT TRANSFORMATION, jenes Werk, das der Soziologe Karl Polanyi 1944 veröffentlichte und in welchem er die Entwicklung hin zu sogenannten „Marktgesellschaften“ nachvollzog, die im 19. Und frühen 20. Jahrhundert zur Umformung der westlichen Gesellschaften geführt hatte. Dabei lag sein Hauptaugenmerk auf der Bildung von Marktwirtschaften und Nationalstaaten, die in seinen Augen eng miteinander verknüpft waren. Im Kern marxistisch geprägt, war Polanyi jedoch kein Determinist, glaubte nicht an geschichtlichen Telos, sondern an das dialektische Wechselspiel unterschiedlicher Kräfte in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Auf den radikalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts folgten mit Gewerkschaften und Sozialgesetzgebung einhegende Bewegungen und Maßnahmen; dennoch folgerte Polanyi, wie viele linke Historiker und Politologen, daß es ökonomische Verwerfungen waren, die zum Ersten Weltkrieg, den darauf folgenden Wirtschaftskrisen und schließlich den faschistischen Bewegungen vor allem in Europa geführt hatten. Er sah jedoch den Faschismus nicht zwangsläufig als Zwilling des Kapitalismus. Viel mehr hielt er es für möglich und plädierte dafür, daß bestimmte Güter – Arbeit, Boden, Geld bspw. – den Märkten zu entziehen seien und der Kapitalismus in starke staatliche Strukturen eingebettet werden müsse, um so gezähmt, eben eingehegt, seine Vorteile ausspielen zu können.

Genau diese Einbettung hat es nach Philipp Ther eben nicht gegeben, als sich die kommunistischen Staaten ab 1989 auf ihren Weg in den Kapitalismus machten. Nach einer langen, nahezu vierzigjährigen Sozialdemokratisierung westlicher Gesellschaften, vor allem in Europa, fiel der große weltpolitisch so einschneidende Umbruch in Eins mit jener Zeit, in der die Neoliberalen vom Schlage eines Milton Friedman sich anschickten, die Wirtschaftssysteme nach ihren Vorstellungen umzuformen. Privatisierung, Deregulierung und das „freie Spiel der Märkte“, das dann im Laufe der 90er Jahre zu einer Entfesselung des reinen Finanzkapitalismus führte, galten als Gebot der Stunde. Sie hatten ihre vorbereitenden Vorläufer bereits unter Ronald Reagan in den USA und vor allem Margaret Thatcher in Großbritannien erlebt. In Folge dieser Entwicklungen kam es zu den großen Krisen der Nuller- und Zehnerjahre des neuen Jahrtausends, inklusive der sogenannten „Dot-Com-Blase“, die sich bereits Ende der 90er abzeichnete und im Jahr 2000 schließlich platzte.

All diese Krisen – zudem schon jene harte Rezession, die 1992 vor allem die USA traf – hätten jeweils dazu führen können, daß es einen Wandel im Sinne Polanyis hätte geben können. Spätestens 2008, nach dem Crash der Lehman-Brothers-Bank, der das Platzen einer übel spekulative Immobilien-Blase folgte, meinte man, daß der ungebremste Finanzkapitalismus dringend staatlicher Aufsicht und klarer Regeln bedurfte. Doch wie in den Krisen zuvor, wurde auch in diesem Moment nicht gehandelt. Obwohl die Sozialdemokratie nicht nur in Deutschland zumindest Teilhabe an der Macht hatte und trotz der Nachkriegsjahrzehnte, die eine zunehmende Sozialdemokratisierung des Kapitalismus, in Deutschland vor allem in der  vielbeschworene „Soziale Marktwirtschaft“, erlebt hatten, erwies sie sich als zu schwach, vielleicht auch nicht Willens, weil selbst von den neoliberalen Verheißungen geblendet, um entsprechende Maßnahmen durchzusetzen. So verloren vermeintlich linke Parteien die Bindung an ihre klassischen Milieus, bzw. lösten sich diese Milieus langsam auf, transformierten, fragmentierten.

Eben diese Auflösung klassischer Milieus, die Herausbildung eines „Dienstleistungsproletariats“, auf das die Sozialdemokratie keinen Zugriff mehr fand, die gesellschaftliche Fragmentierung bei gleichzeitig zunehmender Zersplitterung der Medienlandschaft, die Digitalisierung und eine deutliche Umverteilung des Wohlstands von unten nach oben, können also als Voraussetzungen dafür gesehen werden, weshalb sich seit Beginn der Nullerjahre, spätestens seit den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts, Rechtspopulisten wieder zunehmend Gehör verschaffen konnten. Als Vorläufer dieser Entwicklung, wenn auch noch nicht wirklich ideologischer Prägung, sieht Ther Silvio Berlusconi. Gleichsam prototypisch nahm er schon in den 90er Jahren vorweg, was sich nun mit der Wahl und Präsidentschaft eines Donald Trump in den USA zu erfüllen scheint: Den Siegeszug von im Kern entpolitisierten Populisten, die das Blaue vom Himmel herunter versprechen, sich als „Anwalt des kleinen Mannes“ ausgeben, gegen ein wirkliches oder auch nur behauptetes Establishment, dem sie meist selbst entstammen, hetzen und dabei die demokratischen Regeln nutzen, um demokratische Systeme auszuhöhlen, wenn nicht gar zu überwinden, bzw. zurückzudrängen.

Manche gehen dabei weiter – lauscht man manchen Vertretern der AfD, scheint ein wirklicher „Systemwechsel“ fort von der parlamentarischen Demokratie das eigentliche Ziel dieser Partei zu sein – andere sprechen ganz offen von der „illiberalen Demokratie“, in der eine starke Partei (mindestens) die Geschicke des Landes, meist „des Volks“ lenkt und dabei über Recht und Gesetz steht. Dafür stehen, wenn auch nicht unbedingt sich gleichend, Polen unter der Fuchtel der PiS-Partei und Ungarn unter Viktor Orbans Fidesz-Partei. Wieder andere, wie der Italiener Matteo Salvini, sind schwerer einzuschätzen, wirkt er doch wie ein Populist nach Trump´schem Muster, bedenkt man hingegen seine Vergangenheit in der protofaschistischen Lega Nord und seine gelegentlich sich an Mussolini orientierenden Auftritte, muß man davon ausgehen, daß der Mann durchaus ein ideologisches Ziel verfolgt.

Vieles von dem, was Philipp Ther darlegt, ist dem aufmerksamen Leser nicht unbekannt. Wer die Entwicklungen anhand von Tagespresse, einschlägigen Magazinen, aber auch Büchern und Schriften verfolgt, weiß um einiges dessen, was hier dargelegt wird. Dennoch ist es dem Band hoch anzurechnen, noch einmal, gebündelt, eine konzentrierte Übersicht über diese Entwicklungen zu bieten, die bei Bedarf schnell Auskunft zu wesentlichen Entscheidungen und Geschehnissen gibt. So hat man hier ein Handbuch, das es lohnt, gelesen zu werden, um sattelfest gewisse Zeitläufte zu verstehen. Ganz sicher versteht man nach diesen 200 Seiten noch besser, weshalb Denker wie Francis Fukuyama so deutlich daneben lagen, als sie ihre optimistischen Zukunftsaussichten formulierten. Und ganz nebenbei macht Thers Buch große Lust, sich Polanyis Standardwerk noch einmal zu Gemüte zu führen. Manchmal haben uns die Alten eben doch noch einiges zu sagen.

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