DIE UNVERHOFFTEN

Eine Familienchronik und ein ganzes Jahrhundert

Christoph Nußbaumeder, bisher als Dramatiker bekannt geworden, legt mit DIE UNVERHOFFTEN (2020) seinen ersten Roman vor. Basierend auf seinem eigenen Theaterstück EISENSTEIN (in Bochum uraufgeführt im September 2010), erzählt er über den Zeitraum von über Einhundert Jahren die Geschichte der Familie Hufnagel, die um die Jahrhundertwende 1899/1900 in dem, dem Drama seinen Titel gebenden, Ort Eisenstein, nah der tschechischen Grenze, eine Glashütte betreibt. Vor allem fokussiert auf die Jahre 1945 bis ca. 2019, in manchmal doch großen zeitlichen Schritten von etwa jeweils zehn Jahren, wird von den Verwicklungen des Patriarchen Joseph Hufnagel mit verschiedenen Damen berichtet, woraus einige Kinder hervorgehen, derer zwei sich später, zu Beginn der 60er Jahre, ineinander verlieben, was der Alte um jeden Preis verhindern will – nicht ahnend, daß der junge Georg nicht sein Sohn ist, wie es ihm von dessen Mutter Erna einst vermittelt wurde. So entstehen dunkle Geheimnisse, Mißverständnisse und auf Lebenslügen beruhende Lebenswege einiger Beteiligter und Nachgeborener.

Beginnend mit dem Brand der Glashütte, den die junge Maria einst gelegt hat, um ein ungesühntes, an ihr begangenes Unrecht – eine Vergewaltigung, um genau zu sein – zu sühnen, mit einem weiten Sprung aus dem Jahr 1900 ins Jahr 1946, verfolgt der Leser allerdings auch die Geschichte der Bundesrepublik aus Sicht eines (oder mehrerer) Großkopferten. Der Alte baut sein Unternehmen weiter aus, müht sich, die eigenen Verstrickungen in die Nazi-Herrschaft herunter zu spielen, steigt dann später in der CSU bis in den Rang eines Staatsekretärs auf und stirbt spät als zwar reicher, aufgrund der Lügen, deren Opfer er ebenso wurde, wie er sie auch weitergegeben hat, jedoch unglücklicher Mensch. Georg, auf den sich die Erzählung im zweiten Teil des Romans kapriziert, baut wiederum sein Unternehmen zu einer Art Imperium aus, er wird zum Spekulanten, verdient Millionen, später sogar Milliarden, trauert jedoch, in sich selbst eingeschlossen, ja, eingebunkert, seiner verflossenen Liebe Gerlinde hinterher. Sie war jene Frau, von der der Alte annahm, sie sei Georgs Schwester. Ihr Lebensweg wiederum entspricht in vielerlei Hinsicht einer typischen Biographie der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts: Voller Ekel sich abwendend von der eigenen Familie taucht sie in die Gegenkultur der 60er und 70er Jahre ein, verbringt einige Jahre im Ausland und stirbt irgendwann ebenso verbittert wie vereinsamt in München.

Nußbaumeder gelingen da einige intensive Figuren, denen er ganz offensichtlich eine Menge Sympathie entgegenbringt. Joseph, Georg und Gerlinde, aber auch deren Schwester Heidi, Mutter Erna, selbst die im Buch nur im Auftaktkapitel und am Schluß auftretende Maria, sind Charaktere, die dem Leser noch einige Zeit in Erinnerung bleiben dürften. Es sind allerdings auch Charaktere, die der Autor sich sehr genau zurechtgezimmert hat, um damit exemplarisch die Jahre des Wiederaufbaus, der Studentenrevolte, der roten 70er und der hedonistischen 80er Jahre zu erzählen. Obwohl die Entwicklungen nahezu organisch scheinen, gelingt Georg doch allerhand ohne Probleme, ohne Widerstand und Rückschläge. So wird nach und nach ein Dualismus aufgebaut zwischen öffentlichem Erfolg und privatem Unglück, der ein wenig schicksalsgläubig wirkt, ein wenig zu konstruiert. Vielleicht ist die Lüge, das große Geheimnis, das die Liebe zwischen Georg und Gerlinde verhindert, als Parabel auf die bundesrepublikanische Geschichte gedacht, deren Entwicklung, deren Wohlstand und demokratische Entfaltung in mancherlei Hinsicht ebenfalls auf Lügen und vor allem Schweigen gründete. Doch sollte dies die Intention gewesen sein, funktioniert dieses Manöver nur bedingt. Denn das Familiengeheimnis führt lediglich in ein moralisches Dilemma hinsichtlich innerfamiliärer Angelegenheiten, keinesfalls in das doch weitaus vielschichtigere Dilemma gesellschaftlicher Schuld vor dem Hintergrund des 3. Reichs und der in seinem Namen begangenen Verbrechen.

Die schließt Nußbaumeder weitestgehend aus, indem er nach dem fulminanten Auftakt mit dem Brand der Fabrik und Marias Flucht gleich einen Sprung um fast fünfzig Jahre macht. So werden die Verstrickungen der Familie – vor allem von Josephs Bruder Vinzenz, ein Nichtsnutz, der seine Chance im Beitritt zu SA und SS suchte – lediglich reflektierend beschrieben, was dem Autor die Möglichkeit bietet, zumindest Joseph als immer schon Zweifelnden darzustellen, dem es gelang, sich weitestgehend aus den Machenschaften des Regimes herauszuhalten. Generell laviert Nußbaumeder ein wenig, was das Thema 3. Reich betrifft. Beim Lesen entsteht schon der Eindruck, daß der Autor diesen Komplex umgehen wollte. Ein durchaus nachvollziehbarer Entschluß, da schon das Vorhaben, eine Familienchronik als Gesellschaftsportrait über ein ganzes Jahrhundert zu schreiben, als ausgesprochen ambitioniert gelten muß. Und zudem ganz offensichtlich den Gründerjahren der jungen Republik sein eigentliches Augenmerk gilt.

Sprachlich ist das alles recht einfach verpackt, was den Lesefluß garantiert. Allerdings nutzt der Autor ein und dieselbe Sprache, ohne große Variationen, gleich ob er aus den Jahren vor dem 1. Weltkrieg oder aus den 70er Jahren berichtet. Dadurch bleibt die Lektüre zwar einheitlich, wirkliches Zeitkolorit entsteht hingegen nur durch die Erwähnung historischer Ereignisse, bestimmter Lieder und Filme etc. Gerade zum Ende der Erzählung hin wirkt das ein wenig wie eine Fleißarbeit, deren Ergebnis hier nun stolz vorgeführt wird. Generell muß man konstatieren, daß Nußbaumeders Erzählen der letzten Jahrzehnte dieser Geschichte etwas fahrig wirkt, als habe er dies alles irgendwie zu einem Abschluß bringen wollen und müssen. Es gelingt ihm zwar, trotz aller dramatischer Verwicklungen, immer den Kitsch zu vermeiden, dafür bedient er sich häufiger beim Melodrama. Da wird gestorben, was das Zeug hält und wenn, dann möglichst aufsehenerregend. Autounfälle und ihre Folgen spielen eine gewisse Rolle. Immerhin lässt er schließlich eine der Hauptfiguren genau über diesen Umstand reflektieren, was wiederum einen gewissen selbstreferentiellen Humor beweist.

Einige der stilistischen Techniken ermüden ein wenig. Um die Auslassungen zwischen zwei Kapiteln – oder „Büchern“, wie uns das Inhaltsverzeichnis belehrt – zu überwinden, muß irgendeine Figur in eine Situation gebracht werden, in der sie sinnierend die ausgelassenen Jahre reflektiert. Das führt dann aber häufig dazu, daß der Autor die Ereignisse schlicht beschreibt. Dadurch bekommt die Erzählung häufiger einen den Charakter einer Chronik, etwas schmucklos, literarisch wirklich nur einem Bericht entsprechend. Und dadurch gelingen dann einige der Figuren auch nur etwas holzschnittartig, da sie sich dem Leser weniger durch Dialog, Taten und Reflektion erschließen, sondern durch reine Beschreibung. Das lässt dann wenig Identifikation zu, man kann zu diesen Charakteren kaum eine Haltung finden, außer der, die der Autor dem Leser zugedenkt. Egal, wie knochenkonservativ Joseph ist, gleich, daß sich das Drama eines ungeliebten Kindes hinter Vinzenz´ Verhalten verbergen könnte, einerlei, wie gleichgültig Georg gegenüber dem eigenen Nachwuchs (der hier derart marginalisiert wird, daß man sich kaum mehr an die Namen seiner Kinder erinnern kann) handelt – wenig Ambivalentes wird da erzählt, der Autor legt fest, wer hier gut, wer schlecht ist, wer im Recht und wer im Unrecht. Vieles wirkt so, als wolle da jemand sagen: Was will man machen, so war es halt nach dem Krieg, in den 60ern, mit dem Hunger, dem Wiederaufbau und der Politik. Ein wenig Apologie schimmert da durch die Zeilen.

DIE UNVERHOFFTEN – der Titel erklärt sich tatsächlich, wie so einiges, erst auf den allerletzten dieser 667 Seiten – ist bei aller Kritik ein gut lesbarer Schmöker, der sein Publikum mitzureißen versteht, der einen Sog entfaltet, dem man sich nur schwer entziehen kann, der Spannung erzeugt – dabei wird durchaus auf herkömmliche Mittel wie Cliffhanger etc. zurückgegriffen – und den Lesenden vorantreibt. Ein Buch für jene stillen Tage des Advents, die die Möglichkeit bieten, auch länger am Stück einer Lektüre zu folgen.

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