DREI FARBEN: BLAU/TROIS COULEURS: BLEU

Ein kleiner Film über das Trauern

Auf einer Landstraße kommt ein Wagen von der Straße ab und rast gegen einen Baum. Ein junger Mann, der nahebei an einer Bushaltestelle sitzt, kommt zum Wagen und ruft den Notarzt.

Als Julie Vignon (Juliette Binoche) aus der Bewußtlosigkeit erwacht, liegt sie in einer Klinik. Ein Arzt teilt ihr mit, daß ihr Mann und ihre Tochter bei dem Unglück zu Tode kamen. Julie unternimmt einen Selbstmordversuch, stellt aber fest, daß sie den Willen dazu nicht wirklich aufbringt. Eine Reporterin (Hélène Vincent) versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen, was Julie rigoros verweigert. Dabei kommt auch die Frage auf, ob sie in Wahrheit die Künstlerin, die schaffende Hand, das Genius hinter den Werken ihres Mannes, eines berühmten Komponisten, war.

Julie bleibt noch eine Weile in der Klinik, wird dort von Olivier (Benoît Régent) besucht, der ein Assistent ihres Mannes gewesen ist. Der hatte den Auftrag, für eine Europafeier ein Konzert zu komponieren, das an verschiedenen Orten von verschiedenen Orchestern zur gleichen Zeit gespielt werden sollte. Olivier will auf eigene Faust an dem Werk weiterarbeiten, doch Julie verweigert ihm dies.

Sie kehrt in das Landhaus zurück, in dem sie mit ihrer Familie gewohnt hat, und beschließt, ihr ganzes Leben zu ändern, alles aufzugeben, was es bisher ausgemacht hat. Dafür verkauft sie die Möbel und bietet schließlich auch das Haus auf dem Markt an. Am letzten Abend, bevor sie nach Paris aufbrechen will, ruft sie Olivier an und fragt ihn, ob er sie liebe. „Ja,“ antwortet er. Sie bittet ihn, zu ihr zu kommen. Die beiden verbringen die Nacht miteinander, am folgenden Morgen verlässt Julie früh das Haus und fährt nach Paris.

In Paris richtet sie sich ein neues Leben ein. Sie nimmt eine wunderschöne Wohnung in einem der besseren Viertel der Stadt, sie vernichtet die unfertige Komposition ihres Mannes und beginnt damit, ein neues Leben zu leben, ohne dieses wirklich mit etwas vermeintlich Sinnvollem anzufüllen. Sie verbringt ihre Tage in Cafés, mit Spaziergängen und damit, viel nachzudenken.

In dem Haus, in dem sie lebt, wird sie mehrfach Zeugin, wie eine Mieterin unter ihr fremde Männer mit in die Wohnung nimmt. Die anderen Mieter möchten, daß Julie eine Petition unterschreibt, damit die „Nutte“, wie sie die Frau nennen, ausziehen muß. Julie weigert sich, dies zu tun. Dafür revanchiert sich die angebliche Prostituierte. Die beiden freunden sich oberflächlich an. Lucille (Charlotte Véry), so der Name der Frau, arbeitet tatsächlich in einem Etablissement des Rotlichtmilieus, wo sie tanzt. Sie vermittelt Julie erstmals seit dem Tod ihres Mannes und ihres Kindes so etwas wie Lebensfreude. Nicht zuletzt, indem sie sie wissen lässt, daß sie den Job im Rotlichtmilieu gern mache, es ihr Spaß mache, sich zu zeigen – obwohl gelegentlich ihr Vater im Publikum auftaucht.

Julie trifft auf der Straße, wo ihr Lieblingscafé liegt, mehrfach auf einen Straßenmusikanten, einen Flötisten (Jacek Ostaszewski), der scheinbar wahllos Melodien spielt, fragmentarisch, unzusammenhängend. Eines Tages spielt er exakt einige Noten aus der unfertigen Komposition von Julies Mann. Julie stellt ihn zur Rede, woher er diese Musik kenne – er antwortet, er denke sich gern kleine Melodien aus. Offenbar hat er schlicht dieselben Töne „erfunden“ wie einst Julies Mann.

Eines Tages taucht Olivier in dem Café auf. Julie bleibt reserviert, obwohl Olivier ihr erneut seine Liebe gesteht. Sie möchte keinen Kontakt mehr zu ihm, sie will alles, was sie an früher erinnert, vergessen.

Mehrfach besucht Julie ihre Mutter (Emmanuelle Riva), die an einer schweren Alzheimererkrankung leidet. Sie erkennt Julie nicht mehr, verwechselt sie mit ihrer Schwester, manchmal auch mit anderen Menschen aus ihrem Leben.

Der Junge, der als erster an der Unfallstelle war, nimmt Kontakt zu Julie auf, um ihr etwas zu geben. Es ist ein goldenes Kreuz, das wohl ihr gehörte und das bei dem Unfall von ihrem Hals gerissen wurde. Julie dankt dem Jungen und schenkt ihm das Kreuz, das ebenfalls ein Relikt ihres vergangenen Lebens ist.

Eines Tages sieht Julie im Fernsehen Olivier, der der Reporterin, die auch Julie im Krankenhaus aufgesucht hatte, einige Bilder aus dem Leben von Julies Gatten zeigt und erklärt, er wolle die unfertige Komposition auf eigene Faust fertig stellen. Julie nimmt diese Neuigkeit mit gemischten Gefühlen auf, vor allem aber wird sie stutzig, als sie die Fotos sieht, die er in die Sendung mitgebracht hat.

Julie sucht Olivier auf, der sich freut sie wiederzusehen. Er erklärt, daß er Kopien von der Komposition gemacht habe, da er ahnte, daß sie sie vernichten wollte. Julie stellt ihn wegen des Fotos zur Rede: Wer die Frau sei, die darauf in inniger Umarmung mit Julies Mann zu sehen ist? So erfährt sie, daß ihr Mann eine Geliebte hatte – Sandrine (Florence Pernel).

Julie stellt diese zur Rede und muß feststellen, daß Sandrine schwanger ist – von Julies Mann. Für Julie bricht eine Welt zusammen, denn alles scheint brüchig zu werden, worauf sie gebaut hatte. Julie beschließt, das Haus, das noch nicht verkauft wurde, zu behalten. Sie schenkt es Sandrine, weil sie der Meinung ist, dieses gehöre dem ungeborenen Kind.

Sie nimmt Kontakt zu Olivier auf und gemeinsam machen sie sich daran, die Komposition fertig zu stellen, wobei sie auf Oliviers erste Versuche zurückgreifen. Dabei kommen sie sich auch wieder näher.

Schließlich kommt die Komposition zur Aufführung – inklusive der Chöre, die Julies Mann geplant hatte und die in etlichen europäischen Sprachen singen. Während die Gesichter all der Personen, mit denen Julie im Lauf der Handlung in Kontakt kam, gezeigt werden und die wundervolle Musik ertönt, sehen wir schließlich Julie weinen. Endlich kann sie trauern.

Ein Wagen rast über die Autobahn, die Landstraßen, die Kamera ist unter dem Bodenblech montiert, wir nehmen die Geschwindigkeit der Fahrt wahr, man möchte an jene rasanten Aufnahmen aus MAD MAX (1979) denken, mit denen George Miller Ende der 70er Jahre solch große Aufmerksamkeit erzielt hatte. Doch ist dies kein Endzeitfilm, kein Road-Movie, sondern wir wohnen schlicht der Fahrt einer Familie zu ihrem Landhaus bei. Bis der Wagen an einem Baum landet, wie es geschieht, in der Realität, in der man sich leicht überschätzt, wenn man den Leinwandhelden nachzueifern versucht.

Danach ist alles anders – und vielleicht befinden wir uns doch in einem Endzeitfilm. Denn Krzysztof Kieślowski erzählt in TROIS COULEURS: BLEU (1993) vom Ende einer Familie, vom Ende eines gemeinsamen Lebens und von all den Enden, die das nach sich zieht – dem Ende der Arbeit, dem Ende des gemeinsamen Traums, dem Ende der Illusionen. Auf erstaunlich distanzierte Art tut er dies, auch wenn es immer wieder Momente in diesem Film gibt, die den Zuschauer unvermittelt ins Herz treffen und den Schmerz spüren lassen, den die junge Frau, die Juliette Binoche hier spielt, spürt, zu spüren beginnt. Doch auch diese Frau, Julie Vignon, die im Autounfall ihren Ehemann – einen bedeutenden Komponisten – und ihre Tochter verloren hat, scheint merkwürdig distanziert. Und Binoche gibt ihr genau diese Aura der Distanz, was uns verstört und vielleicht auch beängstigt. Ohne daß die Filmemacher sich sklavisch an vorgegebene psychologische Muster halten, erleben wir im Folgenden die Trauerphasen dieser Frau. Ihre scheinbare innere Distanz ist dabei letztlich nur der Versuch, das Geschehen von sich fern zu halten, den Schmerz, der sie doch immer wieder überkommt und sogar zu einem Selbstmordversuch treibt, unter Kontrolle zu halten, vielleicht auch zu dämmen. Zweimal sehen wir Julie Vignon im Film weinen – einmal kurz nach dem Unfall, danach für lange Zeit nicht. Und wenn sie schließlich weint, als sie die von ihr beendete Komposition ihres Mannes hört, mögen die Ergriffenheit ob der Musik, die Trauer um das eigene Kind und die leise innere Freude, wieder ins Leben zurückgefunden zu haben, ineinanderfließen.

Kieślowski hatte mit der Drei-Farben-Trilogie eine Verbindung herstellen wollen zwischen dem Leben, den Farben der Tricolore und den jeweiligen Begriffen, für die sie stehen (könnten). Blau als die Freiheit (Liberté). Und so sucht man zwangsläufig nach dem Bezug, den diese eigentlich dramatische Geschichte, die so seltsam undramatisch erzählt wird, zum Thema Freiheit hat. Ist es die Freiheit vom Schmerz, die Freiheit von der Sorge, die Freiheit vom Gefühl? Der Mann tot, das Kind tot, seine letzte große, unvollendete Komposition vermeintlich zerstört – ein Auftragswerk für die Europäische Union, einmalig aufzuführen von verschiedenen Orchestern an verschiedenen Orten innerhalb Europas zum gleichen Zeitpunkt – , die Liebe eines Verehrers zurückgewiesen: Julie versucht all das aus dem Leben auszusperren, was den Schmerz einlassen könnte. Freiheit vom Schmerz ist vielleicht das eigentliche Ziel, ihr Anliegen. Freiheit von allen Emotionen.

Sie konzentriert sich auf die kleinen Dinge – den Zuckerwürfel, der sich im Kaffee vollsaugt und kleine Wellen fabriziert, lässt man ihn schließlich fallen – und will von den großen nichts mehr wissen. Aber die Zeichen sind überall und zu deutlich: Der Flötenspieler, der Tag für Tag vor ihrem Lieblingscafé in Paris – wohin sie nach dem Unfall gezogen ist, das wunderbare Landhaus aufgebend – seine kleinen Melodien zum besten gibt und dabei, wie selbstverständlich, wie zufällig, jene Noten trifft, die ihr Mann für seine große Komposition gefunden hatte, ist eines dieser Zeichen. Die Vergangenheit vergeht nicht, die Gespenster unseres Lebens lassen und nicht los, holen uns ein, unvermittelt, plötzlich, zufällig(?) und werfen uns immer wieder in den Strom der Erinnerung. Und mit den Gespenstern kommen die Ungewißheiten, kommt eben das Ende der Illusionen, offenbaren sich die Geheimnisse: Da ist der junge Mann, der als erster an der Unfallstelle war und ein goldenes Kreuz fand, das Julie gehörte, und es ihr zurückgeben will, die heimliche Geliebte des Ehemanns, die sein Kind gebären wird, auch sie in Trauer um einen Mann, der für sie die Liebe bedeutete. Julie steht nicht allein in der Welt, wie sie es sich (und anderen) gern weismachen möchte. Das Leben, das da so abrupt endete, hatte Wurzeln in vielen anderen geschlagen, es betraf andere und andere trauern auf ihre Art, um ihre Illusionen.

Die Frage einer totenbleichen Fernseh-Moderatorin (die selbst einem Gespenst gleicht), ob nicht Julie in Wirklichkeit die Kompositionen ihres Mannes geschrieben und sich nur hinter ihm versteckt habe, aus Scheu vor Öffentlichkeit und Verfügbarkeit, deutet uns an, daß diese Ehe vielleicht aus sich schon mehr Geheimnisse gebar, als wir auch nur ahnen. Auch die geheime Autorenschaft wäre eine Freiheit – die Freiheit von Ruhm und seinen Schattenseiten. Und dann ist da immer wieder Olivier, der frühere Assistent des Komponisten, der Julie liebt, den sie – aus Verzweiflung? – einmal in ihr Bett ließ, gleich nach ihrer Rekonvaleszenz, der auf eigene Faust die Komposition fertigstellen will und ihr erneut, zurückhaltend, seine Liebe anträgt, die sie zurückweist. Vielleicht zunächst nur zurückweisen kann auf ihrem Weg der Trauer, der Be-Freiung. Auf der anderen Seite Julies Mutter, die in einem Altenheim lebt, an Alzheimer erkrankt, den ganzen Tag in einem ewigen Jetzt vor dem Fernseher. Dies könnte die Freiheit sein, die Julie meint: Frei von allem, aber eben auch von den Namen der engsten Vertrauten, die eigenen Kinder vergessend, verloren in den Zeiten und Orten des eigenen Lebens. Auch dies Zeichen: Dafür, daß das Vergessen möglicherweise nicht die beste aller Lösungen wäre?

Freiheit, so scheint Julie lernen zu müssen und Kieślowski es seinem Publikum vermitteln zu wollen, Freiheit kann es nicht geben, außer um den Preis, innerlich zu versteinern, abzusterben. Spätestens, wenn sie dies begreift, nimmt Julie die Komposition zur Hand, die sie eigentlich verloren glaubte, nachdem sie sie in einen Müllwagen geworfen hatte und die errettet wurde von einer Kuratorin, und beginnt, das Werk zu vollenden. Die Leichtigkeit, mit der sie dies tut, lässt auch uns daran zweifeln, ob es wirklich ihr toter Mann gewesen ist, der diese wundervolle Musik komponiert hat, die thematisch den Film begleitet und die Zbigniew Preisner für Kieślowskis Film komponierthat. Eine manchmal pathetische, oft geradezu liebevolle Melodie, in der immer mal Fetzen, Erinnerungsfetzen, an Beethovens Ode an die Freude anklingen und die man als Zuschauer sofort als eine Ode an ein vereintes Europa begreifen will, 1993, vier Jahre, nachdem der eiserne Vorhang fiel, eine Mauer, eine Wand, die auch im Leben des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski eine so große Rolle gespielt hat. Ein Europa, das auch Freiheit versprach – politisch wie künstlerisch.

Und so nimmt sich der Regisseur alle Freiheiten, seine Geschichte, eine kleine Geschichte, wenn man so will, zu erzählen. Monochrome Bilder zu Anfang, verfremdende Blaufilter, um Julies Gemütszustände zu charakterisieren, drastisch nahe Aufnahmen. In einer kleinen Dokumentation erzählt er, wie sie die Zuckerwürfel-Szene gedreht haben, wie lange es dauerte, bis sie einen Zucker fanden, der sich in exakt fünf Sekunden vollsaugt, aber auch, wie er damit Julies Distanz gegenüber der Welt verdeutlichen wollte, ihre unbedingte Konzentration auf die kleinen Dinge, die unmittelbaren Dinge um sie herum, während sie die großen – die Liebe, beispielsweise – zurückweist. Sie tut das freundlich, höflich und bestimmt. Und dann sehen wir leinwandfüllend dieses Stück Zucker, den Vorgang, wie es den Kaffee aufnimmt und die Wirkung, wenn es in die Espressotasse fällt und das Getränk zum Überschwappen bringt. Vielleicht – auch hier ein Vielleicht – ist das Gefäß, das all die Gefühle, die in uns anbranden, doch immer zu klein, um sie zu halten und zu bewahren. Und wenn es zu klein wird, dann schwappen sie über, dann suchen sie sich ihren Weg in die Welt und bringen Unordnung hinein.

Julie wird also zurückkehren – ins Leben, in die Liebe und in die Musik. TROIS COULEURS: BLEU ist ein kleiner Film über die Liebe, eine kurze filmische Meditation über den Verlust, über die Freiheit, deren Preis die emotionale Versteinerung ist, darüber, wie man sich bemühen kann, loszulassen und doch nicht wird loskommen können von dem, was gemeinhin Vergangenheit genannt wird. Wir sind verfangen, Heimgesuchte. Wir wollen den Geheimnissen entfliehen, die sich im Rückblick auftun, wir wollen die Sphärenmusik des Transzendentalen nicht hören und müssten uns weit in uns selbst verkriechen, um unsere Ohren, unsere Augen, unsere Münder gänzlich zu verschließen. Es wird Julie nicht gelingen, es wird auch Krzysztof Kieślowski nicht gelingen und es wird uns nicht gelingen.

Ein immens erfolgreicher Film beim Publikum und bei der Kritik, einer jener europäischen Filme, die das Autorenkino verteidigten gegen die Ansprüche Hollywoods, der Film eines polnischen Regisseurs und doch ein durch und durch französischer Film. Noch einmal das französische Kino, wie es einst war und wie es heute nur selten noch ist.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.