EINE KOMÖDIE IM MAI/MILOU EN MAI
Eine leicht melancholische, frühsommerliche Erinnerung an einen aufregenden Mai 1968
Im schönen Mai 1968 stirbt unverhofft Madame Vieuzac (Paulette Dubost), die mit ihrem Sohn Milou (Michel Piccoli) in einem schönen Herrenhaus in der südwestlichen Provinz Frankreichs inmitten von Obstplantagen, Forellenteichen, weiten Feldern und herrlichen Wäldern lebt.
Der ob des Todes der Mutter schockierte Milou ist ebenso Connaisseur wie Taugenichts, ein Lebemann, der sich mit Hilfe der Angestellten ein wenig um das Anwesen kümmert, imkert, mit seinem alten Rennrad durch die wunderschönen Alleen fährt, den lieben Gott einen guten Mann sein lässt.
Nun trommelt er die Familie zusammen.
Es kommen seine Tochter Claire (Dominique Blanc) mit Freundin, seine Nichte Camille (Miou-Miou), sein Bruder Georges (Michel Duchaussoy) mit Gattin Lily (Harriet Walter), später auch sein Großneffe Pierre-Alain (Renaud Danner), der in Paris studiert und Kunde von der Revolution mitbringt.
Denn in Paris gehen die Studenten auf die Barrikaden und für einen kurzen, für einen historischen Moment scheint es, als könne da – einmal mehr – eine wahre Revolution ausbrechen, wollen sich die Arbeiter doch mit den Intellektuellen verbünden. Sogar Präsident de Gaulle scheint die Lage als gefährlich einzuschätzen, tatsächlich verlässt er die Hauptstadt.
Im Département Gers, westlich von Toulouse, kommt von all den Unruhen jedoch wenig an. Trotz der traurigen Nachricht genießt die Familie, wie so oft in der Vergangenheit, die Vorzüge des ländlichen Anwesens. Man picknickt und geht spazieren, Camille versucht, die Verwandtschaft zunächst überschwänglich, dann behutsamer an die Verteilung des Erbes heranzuführen. Lediglich Pierre-Alain schwadroniert von der Revolution und stößt bei Milou auf fruchtbaren Boden, wobei unklar bleibt, ob dem die revolutionären Thesen von Befreiung (auch und vor allem körperlicher, also sexueller) und Kommune-Leben tatsächlich gefallen, oder ob er einfach gern die Parolen grölt, die sein Großneffe auf Vorrat hat.
Als die örtlichen Bestatter beschließen, aus Solidarität mit den Vorkommnissen in der Hauptstadt in den Streik zu treten, wird die Sache für die Familie unangenehm, da man sich fragt, wie man nun Madame unter die Erde bringen soll? Also wird der Knecht des Anwesens beauftragt, im Park ein Grab zu schaufeln, was er dann auch tut.
Zudem kommt Streit auf, als der Anwalt der Familie den Mitgliedern das Testament der Verstorbenen enthüllt und dabei vor allem das Hausmädchen bedacht wird, was niemand der bourgeoisen Familie gutheißen kann, nicht einmal Milou, der ein Verhältnis mit ihr unterhält.
Milou selbst glaubt allerdings auch, sein Leben könne einfach so weitergehen. Er organisiert ein Krebsessen für alle, wofür er die Krebse höchstselbst im Fluss fängt, er beginnt eine Tändelei mit seiner Schwägerin, organisiert ein Picknick und findet es recht interessant, dass es Pierre-Alain gelingt, seine sonst so beherrschte Familie dazu zu bringen, an einem Joint zu ziehen, woraufhin alle dem Frohsinn verfallen und durchs Haus tanzen.
Weniger gut gefällt ihm, dass vor allem Camille der Meinung ist, man solle das Haus schnellstens verkaufen und den Gewinn aufteilen. Das nämlich würde Milous ganzes Lebenskonzept vernichten.
Als die örtlichen Jäger ebenfalls in den Streik treten, dann aber in die Wälder ziehen, glaubt die ganze Gemeinschaft, nun sei sie ausgebrochen, die Revolution und es ginge ihnen an den Kragen. Also fliehen alle in die Wälder und verstecken sich, verbringen dort gar eine unruhige Nacht, doch am folgenden Morgen hat sich die Lage beruhigt, man stellt fest, dass es lediglich eine Treibjagd gab und findet sich wieder im Haus ein.
So löst sich die Gesellschaft ebenso, wie ihre Probleme es tun, in Wohlgefallen auf. Man trennt sich – teils in neuen Konstellationen – und eine jede und ein jeder kehrt in sein oder ihr Leben zurück. Man wird sehen, was wird…
Zwei Männer bedienen sich an einem Bienenstock, die Insekten kriechen über Gesicht, Schultern, Arme und Hände des einen, der andere schützt sich mit Imker-typischer Kleidung. Später werden wir erfahren, dass der geschützte Mann Sohn der Besitzerin des Anwesens ist, auf dem sich die Szene abspielt, der ungeschützte Mann hingegen ist hier Angestellter oder, wie man im Jahr 1968, in dem dieser Film angesiedelt ist, wohl noch zu sagen pflegte: ein Knecht. Womit die Verhältnisse, mit denen die Zuschauer*innen sich in den folgenden knapp zwei Stunden konfrontiert sehen, recht deutlich symbolisiert sind: Herr und Knecht einerseits, (beginnende) Entfremdung vs. Naturverbundenheit andererseits.
Drei Jahre nach seinem Triumph mit AU REVOIR, LES ENFANTS (1987) kehrte Louis Malle auf die Leinwand zurück und legte mit MILOU EN MAI (1990) einen weitaus weniger dramatischen und vielleicht gerade deshalb angemessenen Nachfolger zum epochalen Vorgänger vor. Brach in AU REVOIR, LES ENFANTS der ganze Schrecken des 20. Jahrhunderts über die Betrachter*innen herein – der 2. Weltkrieg, die Verfolgung der Juden europaweit, aber auch Malles persönliche Geschichte in jenen Jahren als Kind und Jugendlicher in einem Internat – tauchte der Regisseur nun zwar erneut in die Geschichte ein, allerdings näherte er sich seinem Sujet – den Ereignissen des Mai 1968 – diesmal auf Umwegen, mit (ironischer) Distanz, leisem Humor und einer gewissen Leichtigkeit.
Nun ist der Mai 68 – Chiffre für jene aufregenden Tage der Studentenrevolte, die in Paris tatsächlich kurz den Duft der Revolution verbreiteten – wohl ein bedeutsames Datum, aber dann doch nicht ganz so schicksalsschwer, wie es die Zeit der deutschen Okkupation großer Teile Frankreichs war. Dennoch war jener Frühling im Jahr 1968, weitaus stärker als in Deutschland, von einer Dramatik und inneren Dynamik geprägt, die es zumindest für einen Moment ungewiss erscheinen ließ, wie die Dinge sich entwickeln, was nun geschehen würde. Präsident De Gaulle verließ Paris, wenn auch nur für kurze Zeit, die Bourgeoisie hielt kurz den Atem an, wenn auch nur für einige Stunden, naja, gut, vielleicht für einige Tage, musste man doch befürchten, dass tatsächlich ein Umsturz bevorstehen könnte. Doch beruhigten sich die Gemüter dann auch wieder und weitestgehend kehrte das Leben, der Alltag, kehrten die Menschen wieder in geregelte Bahnen zurück.
In diese Atmosphäre hinein lässt Malle ein erlesenes Ensemble – allen voran Michel Piccoli als eben jener sich mit Imker-Kleidung schützenden Sprössling der Familie Vieuzac namens Milou (und damit im Originaltitel stark hervorgehoben; der deutsche Titel EINE KOMÖDIE IM MAI setzt da doch deutlich andere Schwerpunkte, als müsse man dem Publikum kurzerhand erklären, womit man es hier zu tun hat), flankiert von französischen Leinwandgrößen wie Miou-Miou, Michel Duchaussoy, Marcel Bories oder Dominique Blanc – zusammenkommen, um den Tod der Mutter, Madame Vieuzac, zu betrauern. In einigen Fällen allerdings geht es eher darum, schnellstmöglich das Erbe aufzuteilen. Doch inspiriert von den Vorgängen in Paris, von denen die Familie, soweit es sie überhaupt interessiert, ausschließlich durch das Radio informiert wird, was vor allem Milous Bruder Georges, der als Journalist in London lebt und deshalb unterrichtet zu sein wünscht, massiv stört, treten die lokalen Totengräber in einen Streik. Die Beerdigung kann also nicht wie vorgesehen stattfinden, die Familie muss zusammenbleiben und warten, bis die Wogen sich geglättet haben.
Man wird – sogar in der Provinz – zum Opfer proletarischer Träumereien, mit denen man hier nun wahrlich nichts zu tun hat. Und der einzige Proletarier mit dem man es dann doch zu tun bekommt – sieht man einmal vom Personal, also dem Knecht und dem Hausmädchen ab, die eher dem Subproletariat entsprechen, sicher nicht dem Industrieproletariat herkömmlicher Prägung – , ein Lastwagenfahrer, der eine Ladung Tomaten befördert, die er, bevor sie verderben, lieber kostenlos verteilt, betrachtet die Revolution eher als Möglichkeit sich der Liebe – allerdings ohne Klassenschranken – und dem guten Leben – also dem Essen und dem Wein – hinzugeben.
Doch führt die Situation innerhalb der Familie mehr und mehr zu Spannungen, teils sogar regelrechten Verwerfungen, weil die sehr unterschiedlichen Lebensentwürfe doch stark miteinander kollidieren. Vor allem die Frage, was aus dem hochherrschaftlichen Haus der Familie werden soll, wird zum Streitpunkt. Milou, der hier ein recht sorgen-, weil arbeitsfreies Leben führt, möchte das Haus natürlich gern behalten, während andere in der Familie es gern umgehend verkaufen und den Gewinn aufteilen würden. Langsam brechen all die verkrusteten Feindschaften und Eifersüchteleien auf, treten die Lebenslügen zutage, mit denen einige der Anwesenden sich seit Jahren und Jahrzehnten die Konflikte, auch die inneren, vom Leibe halten.
Milou ist im Grunde ein, wenn auch liebenswerter, Taugenichts; die von Miou-Miou gespielte Camille präsentiert sich als Macherin und beginnt, das Erbe zu verteilen, hat aber recht eigentlich nichts zu sagen, da sie als Enkelin in der Erbreihenfolge gar keine Rolle spielt; Georges, der Journalist und Mann von Welt, muss seinem Bruder gestehen, dass er seinen Job verloren hat, spielt sich aber dennoch als Welterklärer auf, seine Frau flirtet sowohl mit Milou als auch mit dem LKW-Fahrer, der auf dem Anwesen strandet…und so geht es fröhlich weiter. Zwischendrin toben zwei Enkel der Verstorbenen und drohen allenthalben wertvolle Gegenstände zu zerstören, während Enkel Pierre-Alain, aus der Hauptstadt angereist, revolutionäre Phrasen drischt und darob mit seinem Vater Georges aneinandergerät.
Natürlich kann man Malle und seinem Co-Autor Jean-Claude Carrière vorwerfen, hier Stereotype zu bedienen, die auch 1990 bereits zu Klischees erstarrt waren, aber dennoch muss man beiden, Malle und Carrière, zugutehalten, ihre Geschichte mit so viel Wärme, Humor, zurückhaltendem Witz und einer gehörigen Portion Melancholie anzureichern, dass die Klischees zwar auffallen, aber nicht sonderlich stören. Im Gegenteil – ein wenig erwartet das Publikum genau die Klischees, die es geboten bekommt, weil nur anhand dieser die dem Film zugrundeliegenden Thesen vermittelbar sind. Denn Malle macht sich hier nicht einfach über die Bourgeoisie lustig, was immer schon ein recht einfacher und billiger Erfolg gewesen ist – man denke nur an viele Filme, die im tatsächlichen Umfeld von „1968“ entstanden sind; man denke aber vor allem an die Werke eines Claude Chabrol oder Jean-Luc Godard –, sondern er betrauert durchaus auch die vergangenen Hoffnungen auf die mögliche Verwirklichung der Utopie, der Möglichkeit einer besseren Gesellschaft, die „1968“ eben auch bedeutete. Und er beobachtet, wie so häufig wertneutral und eher distanziert denn involviert, wie das eine mit dem andern zusammenhängt, sich gegenseitig bedingt und auch unterläuft. MILOU EN MAI liegt eine kluge und genau durchdachte, eine wohl konstruierte Dialektik zugrunde.
Hinzu kommt, dass die vorgeführten Klischees natürlich – wie alle Klischees – einen wahren Kern enthalten. Malle selbst entstammte genau dem Großbürgertum, welches er hier vorführt. Und so, wie er in seinen früheren Filmen oft ein Alter Ego auftreten ließ – auch, wenn diese Figuren, wie Lucien in LACOMBE LUCIEN (1974) oftmals Gegenpole zu dem eher zurückhaltenden und feinsinnigen Regisseur gewesen sind –, tritt mit Milou auch hier eine Figur auf, in der sich durchaus Wesenszüge Malles erkennen lassen. Wie Milou ist auch Malle derjenige in seiner Familie gewesen, der gegen den Widerstand des Vaters eben nicht das industrielle Erbe (der Familie gehörte eine bedeutende Zuckerraffinerie) antrat, sondern als Künstler reüssieren wollte.
Milou allerdings ist kein Künstler, wenn auch eine Künstlernatur, vielleicht wäre er als Lebenskünstler zu beschreiben. Er ist der oben bereits erwähnte Tunichtgut, der aber über ein intuitives Verständnis des menschlichen Wesens (wenn vielleicht auch zu wenig Menschenkenntnis), über eine Menge Wissen und ein tiefgreifendes Verständnis der Dinge des Lebens verfügt. Er weiß, wie man mit den Bienen umgeht – auch wenn er nicht in der Lage ist, sich ihnen gänzlich „nackt“ zu nähern, was, wie eingangs bereits erwähnt, durchaus symbolisch für die Entfremdung der Bourgeoisie vom „natürlichen“ Leben gelesen werden sollte -, er versteht sich darauf, mit bloßen Händen Krebse fürs Abendessen zu fangen, er kennt den Wald und die Fauna rund ums elterliche Haus.
MILOU EN MAI und mit dem Film der Hauptdarsteller Michel Piccoli charakterisieren diesen Mann als eine Art großes Kind. Er wird später im Film derjenige sein, der die aus dem Radio und durch seinen Neffen aufgeschnappten revolutionären Phrasen wiederholt und in die frühsommerliche Landschaft posaunt – und auch, wenn er in diesen Phrasen nichts Tatsächliches, für ihn Relevantes zu erkennen vermag, scheint er doch eine natürliche Verbundenheit mit den Wünschen und Zielen der jungen Menschen, gleich ob Studenten oder Arbeiter, zu empfinden. Dabei jedoch völlig anders gestrickt als sein Bruder Georges, ein Angeber, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Berichte aus dem Radio weitschweifig und scheinbar kenntnisreich kommentiert, jedoch gestehen muss, arbeitslos zu sein. Offenbar scheint ist Expertise in London, wo er als Journalist lebt, nicht mehr gefragt.
Es ist ein brillanter Zug des Drehbuchs, jenen so geschichtsträchtigen Mai weitestgehend indirekt stattfinden zu lassen, gänzlich durch die Brille der „besseren“, der bürgerlichen Gesellschaft zu betrachten, aus der sicheren Distanz der Provinz, spielt sich all dies doch im wunderbaren südfranzösischen Frühling ab. Lediglich eine spät im Film stattfindende Demonstration der Landarbeiter, die aber friedlich verläuft, bringt einen Hauch von Revolution ins westlich von Toulouse gelegene Département Gers. Enkel Pierre-Alain – soeben aus Paris eingetroffen – trägt all jene gemeinhin bekannten revolutionären Phrasen vor, die man auch heute noch kennt, doch erreicht er damit bei seinen Verwandten kaum etwas, außer einen angenehmen Grusel und den andauernden Streit mit Vater Georges, der ihm sein pseudorevolutionäres Gehabe vorwirft und ihn anhält, etwas „Vernünftiges“ mit seinem Leben anzufangen. Der junge Mann trägt schließlich sogar dazu bei, dass sich eine revisionistische Sicht auf die Geschlechterverhältnisse durchsetzt, spannt er seiner Tante doch deren lesbische Partnerin aus, die den jungen Mann sieht und sich recht schnell in ihn verliebt. Selbst die sexuelle Revolution, die sich darin ausdrückt, dass eine bourgeoise Dame ein lesbisches Verhältnis unterhält (mit einer deutlich jüngeren und ihr deutlich unterlegenen Frau), wird als etwas Aufgesetztes, als Attitüde entlarvt. Bei erstbester Gelegenheit werden die herkömmlichen Verhältnisse wieder hergestellt. So bleibt die einzig wahrlich revolutionäre Tat, die Pierre-Alain vollbringt, seine gesamte Verwandtschaft zu verführen, einmal an einem Joint zu ziehen. Das versetzt dann alle prompt derart in einen Rausch, dass sie singend und eine Polonaise tanzend durchs Haus ziehen – wahrlich eine bewusstseinserweiternde Entgrenzung.
Malle versteckt lauter kleine, teils bittere und in ihrer Bitternis schon wieder komische Hinweise auf das Scheitern und den Verlust der Utopie – und zugleich darauf, dass das bürgerliche Korsett, die Struktur der Bourgeoisie und des Gesellschaftskonzepts, das sie entworfen und durchgesetzt hat, letztlich stärker als alles revolutionäre Tun und jedwedes Umsturzstreben ist und somit überdauern wird. Wofür die pure Existenz dieses Films im Jahr 1990 bereits ein Beweis ist. Im Film ist es das Handeln der Familienmitglieder, welches verdeutlicht, dass die herrschenden Strukturen kaum zu erschüttern sind: Der eingangs mit Bienen übersäte – und damit als traditioneller Landbewohner, als Mann der „alten Zeit“ markierte – Hausknecht wird angehalten, auf dem Grundstück ein Grab für Madame Vieuzac zu graben, als feststeht, dass das Begräbnis durch den Streik der Bestatter nicht wie geplant auf den lokalen Friedhof stattfinden kann. Pflichtschuldigst hält er sich an den Auftrag, wird aber schlicht vergessen und gräbt noch des Nachts weiter an dem Loch, lediglich besucht von Madames Geist, der ihm einen mitleidigen Blick zuwirft. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, q.e.d.
Diese ganze Episode, die der Film völlig wortlos, lediglich am Rande, miterzählt, ist ein wahres Sinnbild für die Selbstgerechtigkeit, die selbstvergessene Ignoranz und die unüberwindlich bourgeoise Haltung dieser Leute. Die wahre Empörung bricht sich Bahn, als der Notar und Anwalt der Familie den Anwesenden eröffnet, dass das Hausmädchen, welches sich Jahre um Madame Vieuzac und um das Haus gekümmert und sich mit Milou auf ein Verhältnis eingelassen hatte, einen Teil des Erbes erhält. Das ist der alle in Aufruhr versetzende Skandal! Und der Begriff ‚Aufruhr‘ ist hier wörtlich zu verstehen. Dass man die Jäger, die durch den Wald ziehen, für blutrünstige Revolutionäre hält und aus dem Haus in den Wald flieht, um dem erwarteten Massaker zu entgehen, ist da lediglich als Petitesse, in gewissem Sinne gar als abenteuerliche Auflockerung eines an sich ja traurigen Anlasses zu verstehen. Der Begriff ‚abenteuerlich‘ ist hier allerdings als übertrieben zu begreifen. Man fürchtet sich, aber diese Furcht ist durchaus auch eine willkommene Ablenkung von den wirklich wesentlichen Fragen – wie bspw. der, was man mit dem Erbe anfängt und wie man es dagegen sichert, auch unter Subalternen verteilt zu werden. Und so locker, leicht und sommerlich dies alles in Malles Film auch daherkommen mag – es ist schon auch von einer gewissen Bösartigkeit, die hier immer wieder durch die lichten Bilder schimmert.
Dazu tragen die vielen kleinen Hinweise auf Werke der im Film dargestellten Zeit und ihrer kulturellen Umwälzungen bei, die Malle hier beimischt. Es sind entfernte Echos von Godards WEEK END (1967) und Claude Faraldos THEMROC (1973) zu vernehmen. In letzterem spielte Michel Piccoli einen sich ent-zivilisierenden Anstreicher, der mit allen Tabus der modernen Welt bricht, kannibalistisch in einem selbstgeschaffenen Höhlensystem lebt und mit der eigenen Schwester schläft. Wenn Milou revolutionäre Parolen grölend durch den Wald des Anwesens tigert, erinnert das nicht von ungefähr ein wenig an jene lang zurückliegende Rolle. In Godards Schlüsselwerk wurde einst die bourgeoise Gesellschaft mit sich selbst konfrontiert, experimentierte – ähnlich wie die Familie Vieuzac in Malles Film mit dem Joint – ein wenig mit aufregenden neuen Möglichkeiten (bei Godard ist es eine Orgie) und endete schließlich in atavistischen Zirkeln, wo, wie bei Faraldo, Kannibalismus und Inzest die letzten zivilisatorischen Tabus sind, die fallen, mehr noch – die mutwillig zerstört werden.
Malle allerdings enthält sich inhaltlich wie formal jedweder Radikalität oder gar drastischen Entwicklungen, womit er erneut einen ebenso treffenden wie schmerzhaften Kommentar auf jenen legendären Mai 68 und die Entwicklungen seither abgibt: Wenig bis nichts hat sich verändert, wenn man die Realität des Jahres 1990 betrachtet. Sicher, es gab Verbesserungen, sozialer wie politischer Natur, doch wurde den breiten Massen vor allem der Konsum zugänglich gemacht, wodurch die größten Veränderungen, wie immer, wollte man meinen, der Wirtschaft zugutekamen. Doch grundlegend verändert an den gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnissen hat sich eben nicht viel. Weder wurde der Kapitalismus überwunden, noch die Klassengesellschaft.
Natürlich ist MILOU EN MAI aber nicht, wie es vereinzelt in den Kritiken behauptet wurde, reaktionär. Malle enthält sich lediglich jedweder Stellungnahme, er ergreift keine Partei. Er stellt dar, er beobachtet und lässt sein Publikum eigene Schlüsse ziehen. Und so liebevoll diese Familie auch gezeichnet sein mag – der Film lässt wenig Zweifel daran, wie sie zu betrachten ist und wo ihre Lebenslügen liegen. Und vielleicht kann und muss man darin dann eben doch eine, wenn auch eher versteckte, Stellungnahme des Regisseurs (und Autors) Louis Malle erkennen. Er betrachtet all die Entwicklungen – persönlicher wie politischer Natur – offensichtlich mit einem milden Schmerz, zugleich aber auch mit ebenso milder Weisheit in Kenntnis der Geschichte: Seinen Figuren begegnet er trotz all ihren charakterlichen Schwächen und Mängeln größtenteils mit Nachsicht, lässt sie in all ihren Fehlern, auch den eher bösartigen, so sein, wie sie sind und gewährt ihnen ein sanftes Gleiten aus diesem Film. Sie wurden kaum berührt von den Ereignissen auf den Straßen von Paris, ihre Ängste sind unbegründet und rein medial erzeugt, dabei darf auch der Besuch aus Paris mit all seinen Phrasen und Revolutionsthesen, in seiner ganzen romantischen Verbrämung durchaus als medial begriffen werden. Diese Menschen werden ihre Leben fortführen, wie gehabt. Vielleicht liegt ihre Tragik schlicht darin, nicht einmal davon berührt zu sein, wenn der Wind der Geschichte sie anhaucht, na, eher streift. Das Erbe und wie es zu verteilen ist, berührt sie alle weitaus mehr, als alle Revolutionen der Welt, alles Aufbegehren der Massen, des Proletariats. Und am Ende fahren alle nachhause, es kommt der Sommer und geht dahin, es wird nichts gewesen sein, das Leben, es geht weiter, geht immer weiter…c´est la vie.