DAS GRÜNE LEUCHTEN/LE RAYON VERT
Ein später Rohmer, einer der schönsten...
Delphine (Marie Rivière) erhält eine plötzliche Absage ihrer Freundin für den gemeinsamen Griechenlandurlaub. Sie verfällt ein wenig in eine Depression, da sie einerseits nicht weiß, mit wem sie nun die Sommer- und Ferienzeit verbringen soll, zugleich erkennt sie einmal mehr, wie sehr sie ihren Exfreund vermisst, der sie am Telefon verschiedentlich abblitzen lässt. Freunde versuchen sie aufzumuntern und so fährt sie mit in die Normandie, wo sie freundlich aufgenommen wird, doch nach einigen Tagen will sie zurück nach Paris, weil sie sich fremd fühlt. Ihr Exfreund besitzt ein Appartement in den Alpen, im Jura, er ist bereit es ihr zu überlassen. Doch auch hier spürt sie nur die Einsamkeit, die sie umgibt, zumal sie nun auch mit der Abwesenheit ihres ehemaligen Partners konfrontiert wird. Sie will Menschen, Männer, Freunde kennenlernen und verliert sich immer mehr in ihren eigenen Bedürfnissen und Ansichten. Schließlich bricht sie auf nach Biarritz, wo sie am Strand liegt, die Liebesgrotte besucht und sich unter den Badenden und Sonnenden erneut nur allein fühlt. Als sie beschließt, wieder gen Paris aufzubrechen, trifft sie am Bahnhof einen Mann, der ihr nicht nur anders begegnet, als fast alle ihre bisherigen Begegnungen, er nimmt sie ernst, auch in ihrer Unwägbarkeit, sondern sie vor allem wahrnimmt. Er schlägt vor, sie möge ihn nach Saint-Jean-de-Luz begleiten, wo er hinmüsse. Sie entscheidet sich dazu und so finden die beiden sich am Strand wieder, den Sonnenuntergang beobachtend. Marie erklärt ihm, daß sie auf das „grüne Leuchten“ warte, ein Phänomen, das nur selten, bei passender atmosphärischer Dichte, zu sehen sei. Sie hat einige Rentner belauscht, die darüber sprachen, und beschließt, es als Zeichen ihrer emotionalen Gewißheit zu betrachten. Als die Sonne verschwunden ist, ruft sie: Da! Ich habe es gesehen! – und lacht. Fin.
Betrachtet man heute einen Film wie diesen – 1986 erschienen und in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet – merkt man schnell, daß er wie aus der Zeit gefallen wirkt. Zu geschwätzig, lange Einstellungen ohne viel Geschehen, eine Handlung, die nach heutigen Maßstäben kaum als solche zu bezeichnen ist und eine Hauptfigur, die dem Zuschauer schnell auf den Wecker fallen kann, stehen für den typischen Stil des Regisseurs, markieren aber auch exakt seine Ausnahme- wie Außenseiterstellung im französischen und europäischen Kino.
Die Filme Eric Rohmers waren schon in ihrer Zeit oft widerständig und brachen radikal mit den herkömmlichen Film- und Sehgewohnheiten des Mainstreams. Es waren wirklich Außenseiterprodukte. Rohmer – bekannt für die schier endlosen Dialoge, die er seine Protagonisten in teils improvisierten Szenen sprechen ließ, aber auch für die Leichtigkeit der Inszenierung, die scheinbar so schwerelose Art, wie seine Filme dahingleiten – stand selbst im Zirkel jener Regisseure, die sich einst aus der Redaktion der Filmzeitschrift ‚Cahiers du Cinéma‘ aufgemacht hatten, das Kino neu zu erfinden und zu definieren, eher am Rande, da er sich oft mit der Hochkultur entstammenden oder aber in ihrer Beiläufigkeit fast banal wirkenden Themen auseinandersetzte. Zudem setzte er gerne thematische Schwerpunkte und drehte Zyklen, die sich um bestimmte Themenkreise bewegten. So unter anderem den Zyklus „Komödien und Sprichwörter“.
LE RAYON VERT (1986) war der fünfte Film dieses Zyklus´. Dem Obertitel entsprechend, kann man ihn eine Komödie nennen, wenn man auch sagen muß, daß die zugrunde liegende Geschichte durchaus tragisches Potential hat. Die junge Delphine auf der Suche nach sich selbst, könnte der Untertitel lauten. Marie Rivière, die die Rolle selber ausgearbeitet, entwickelt und ihre Dialoge auch größtenteils selber geschrieben, bzw. improvisiert hat, gibt dieser Frau eine seltsam zurückhaltende, mal fröhliche, dann wieder fast verzweifelte Intensität, wobei sie manchmal in Sekundenschnelle zwischen den Zuständen hin und her gleiten kann. Hin und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Gesellschaft und Anerkennung einerseits und dem Bedürfnis, sie selber sein zu wollen, ihren inneren Beweggründen und Motiven auf die Spur zu kommen und ihnen entsprechend zu handeln, driftet sie durch einen Sommermonat, den alle irgendwo in den Ferien verbringen, den nur sie aufgrund einer Absage des gemeinsamen Griechenlandurlaubs nicht genießen kann. Rohmer inszeniert Delphine als eine Suchende, die durchaus hysterische Züge trägt, die sich ungern etwas sagen lässt und trotz ihrer Beteuerungen, zuzuhören und sich doch immer Mühe zu geben, es allen recht machen zu wollen, genau das nicht tut. Sobald ihr jemand etwas Kritisches mitzuteilen hat, beginnt sie wasserfallartig zu reden, nutzt die Sprache als eine Art Schutzwall vor den Ansprüchen und Bedrängnissen der Außenwelt. Wird sie gefragt, ob sie an etwas teilnehmen möchte – einen Besuch bei Freunden auf dem Land, schwimmen gehen, tanzen – lehnt sie ab, wird sie gefragt, was sie wolle, kann sie es nicht sagen, reagiert eher verstört in der Erkenntnis, daß sie im Grunde nicht weiß, was sie eigentlich will. Außer die Beziehung mit ihrem Ex-Freund aufzufrischen, den sie in den Film rhythmisch unterteilenden Telefonaten anruft, nur um jedes Mal abgewimmelt zu werden. Sie ist auf der Suche nach Freunden, einem Mann, einer Beziehung und kann doch das, was ihr zustößt, widerfährt, was sie beobachtet und wahrnimmt nicht wirklich glauben, nicht einordnen, begreift immer weniger, wieso sie immer wieder die Erfahrung macht, draußen zu sein. Doch zeigt uns Rohmer auch, daß ihre Ansprüche oft sehr einfach und fast demütig sind: Ein Spaziergang, den Sonnenuntergang beobachten, ein Buch lesen – Delphine erwartet gar nicht viel von ihrem Leben und ist umso erschütterter, daß sogar dieses Bisschen sie zu überfordern scheint, ihr verweigert wird vom Leben selbst.
„Draußen“ wird zu einer Chiffre: Dreimal sehen wir Delphine in der freien Natur, wobei Rohmer dabei Bilder unvergleichlicher Schönheit gelungen sind. Sie steht an einem Gletscher und wäscht sich die Hände mit Schnee – eine Szene mit heute fast dokumentarischem Charakter – , ein andern Mal sitzt sie in Biarritz an der Liebesgrotte, die jedoch geflutet wird und dazwischen platziert gibt es eine Szene, in der Delphine an einem Gatter steht auf einer Wiese, umgeben von Sträuchern und im Hintergrund Bäumen. Sie verharrt weinend, während alles im Bild in Bewegung ist, vom Wind gezaust, selbst ihre Haare. Dieses Bild könnte ikonographisch für den Film stehen: Eine junge Frau, ständig in Bewegung aber im Grunde unverändert, statisch, während um sie herum alles bewegt wird. Man möchte in diesem Bild verweilen, für Stunden, es betrachten und sich darin verlieren. Und doch ist es eben auch ein deutlicher Verweis auf das „Draußen“, den Raum, der Delphines Sein scheinbar definiert.
Typisch für Rohmer ist der Dreh, eine so dahin geschrieben hoch dramatische Situation in eine Sommerkomödie zu packen, die ganze Problematik Delphines an dem Problem aufzuhängen, mit wem sie in Urlaub fahren soll. So wirkt ihre Aufgeregtheit, ihr Lamento oft leicht überzogen, wie schon erwähnt etwas hysterisch und einerseits reagieren ihre Freunde auch entsprechend, wenn sie sie auffordern, endlich „etwas zu tun“, ohne dieses „etwas“ zu spezifizieren, andererseits wird sie von ihnen aufgemuntert, indem sie ihr lachend vergleichsweise einfache Auswege aufzeigen und sie einladen, mit ihnen in Urlaub zu fahren. Sie muß also objektiv nicht allein wegfahren, nicht allein sein. In mehreren langen Gesprächseinstellungen sieht man, wie ihre Freundinnen und die Leute, bei denen sie einige Tage in der Normandie unterkommt, versuchen, sie nicht nur aufzumuntern, sondern ihr regelrecht zu helfen und doch immer wieder an dieser Wand aus Worten abprallen, die Delphine um sich errichtet. Ihre Reise durch Frankreich – in die Normandie, in die Alpen, nach Biarritz – wird so eine vergleichsweise undramatische Suche nach sich selbst. Das Gleichnis vom ‚grünen Leuchten‘, das sie zufällig erlauscht, wird ihr dabei zum Menetekel: Sie will es unbedingt, als Zeichen letzter Gewißheiten. Wenn sie schließlich an den jungen Mann gerät, der sie einlädt und nach Saint-Jean-de-Luz mitnimmt, und mit ihm den Sonnenuntergang beobachtet, beschließt sie mit einem Lachen, das Leuchten gesehen zu haben – und stellt damit an Stelle des Regisseurs die ganze Dringlichkeit des Films in Frage. Ein brillantes Ende, vollkommen unerwartet und in sich vollkommen richtig.
LE RAYON VERT könnte mit seiner scheinbar leichten Stimmung, der distanzierten Kamera, die die Protagonisten oft minutenlang einfängt, ohne selbst eine Bewegung zu vollziehen, den improvisierten Gesprächen an Abendbrottischen in wunderschön verwilderten Gärten von Sommerhäusern, mit seinem wachen, oft wie beiläufig wirkenden Blick auf die Schönheit des Landes, wie ein Vorläufer jener Komödien wirken, die das deutsche Kino in den 1990er Jahren geflutet haben. Doch kann man eben anhand eines Films wie diesem auch exakt die Fallhöhe bestimmen, die man einnimmt, wenn man sich auf Rohmer-Gebiet begibt. Denn es ist eben die Kunst dieses Meisters, seine Filme leicht wie eine Sommerbrise wirken zu lassen und zugleich doch exakt zu sein, was Kamera und Mise-en-Scene betrifft. Rohmer hat angemerkt, daß er hier großen Wert auf Authentizität gelegt habe und deshalb etwas weniger pedantisch beim Bildaufbau gewesen sei, dennoch ist gerade darin das Rohmer-Typische zu erkennen. Ähnlich verhielt es sich bei dem vier Jahre älteren PAULINE À LA PLAGE (1982), dessen Stil, Form und Inhalt nicht allzu weit von LE RAYON VERT entfernt sind.
Rohmer hat früh Filmgeschichte geschrieben mit Werken wie MA NUIT CHEZ MAUDE (1969) oder LE GENOU DE CLAIRE (1970), doch sind es gerade auch seine späteren Filme, denen zuzuschauen solch ungeheures Vergnügen bereitet, weil man einerseits einen Hauch von Frankreich und französischer Lebensart verspürt und zugleich tiefgreifende Betrachtungen und intellektuell wie emotional immer Anregendes geboten bekommt. LE RAYON VERT ist dabei sicherlich einer, wenn nicht der schönste Film dieser späten Phase. Ganz sicher ist es aber einer der typischsten Filme von Eric Rohmer.