FRIEDEN/THREE BURIALS

Anders Lustgarten hat vielleicht keine ganz große Literatur, ganz sicher aber hat er ein hoch aktuelles Buch geschrieben

FRIEDEN (THREE BURIALS, Original erschienen 2024; Dt. 2024) ist möglicherweise das Buch zur Stunde – einer bösen Stunde. Es mag die Stunde derer sein, die Hass in sich tragen und dem Hass ungezügelt, ungebremst Ausdruck verleihen. Die Stunde auch, in der Gewalt als Möglichkeit immer wahrscheinlicher wird. Die Stunde, in der die Risse – die vermeintlichen Risse – in der Gesellschaft immer weiter aufreißen und sich zu Gräben vertiefen mögen. Wer weiß?

Anders Lustgarten hat möglicherweise dieses Buch zur Stunde geschrieben. An der südenglischen Küste wird im Sturm ein Boot aus Frankreich angespült. Darin sitzen sechs Männer mit arabischem und afrikanischem, auf jeden Fall islamischen Hintergrund. In Empfang genommen werden sie von einem Boot voller englischer Männer, die sich als Beschützer der britischen Grenzen begreifen. Zwei davon – Andy Jakubiak und Freddie Barratt – sind Polizisten. Als der selbst gewählte Einsatz vorüber ist, liegt am folgenden Morgen einer der illegalen Immigranten tot am Strand. Angespült in der Nacht. Und da findet ihn Cherry Bristow, die hier ihren Kater ausgeschlafen hat. Das tut sie häufiger, seit ihr Sohn Liam Selbstmord beging und zwischen Cherry, ihrem Mann Robert und der gemeinsamen Tochter Danielle, Liams Schwester, eine Art stiller Krieg herrscht. Cherry begreift den toten Mann, der das laminierte Bild einer Frau in seinen steifen Fingern hält, als eine Chance. Als Chance, Abbitte zu leisten, vielleicht. Sie will diesen Mann zu dieser Frau bringen und etwas Richtiges, einfach etwas Gutes tun, will, dass der Mann ein ordentliches Begräbnis erhält und nicht in einem anonymen Grab landet, wie so viele der Illegalen, die tot an Englands Stränden angespült werden. Oder in den Asylunterkünften sterben. Namenlos, familienlos.

Und so erzählt Lustgarten von der Odyssee der Cherry Bristow, die gemeinsam mit Andy Jakubiak, den sie quasi entführt, die Leiche des toten Omar zu dessen Freundin nach London bringt. Erzählt wird, wie die beiden zunächst verfeindeten Bristow und Jakubiak herausfinden, um wen es sich bei der Frau auf dem Bild handelt und wie es ihnen gelingt, sich immer wieder dem sie verfolgenden Freddie Barratt zu entziehen, der unbedingt verhindern will, dass herauskommt, was in der Nacht auf dem Meer geschah. Davon nämlich existiert ein Video, das aufzuzeichnen er höchstselbst Andy gezwungen hat. Erzählt wird aber auch die Geschichte von Robert und Danielle, davon, wie Cherrys Freund und Kollege Michael mit der Situation als Pathologe umgeht, als der er arbeitet und der immer wieder mit all den grausamen Geschichten der Toten konfrontiert wird.

Erzählt wird von einem Land, dessen Gesellschaft möglicherweise noch viel gespaltener ist, als es die deutsche ja auch sein soll; erzählt wird von einer Gesellschaft nach Corona und den Verheerungen, die die Krankheit hinterlassen hat; erzählt wird von einer schwachen Gesellschaft; erzählt wird von einer Einwanderungsgesellschaft, die sich ununterbrochen selbst belügt, indem sie von der einstigen Größe schwärmt, die sie die Welt hat beherrschen lassen, die nun aber nicht mit den Folgen dessen – bspw. der Einwanderung aus aller Herren Länder – leben und zurechtkommen will oder kann. Erzählt wird vor allem von lauter beschädigten Leben, die gelebt werden müssen und von den Menschen, die sie leben und die alle verbindet, dass sie Trost suchen. Und Frieden.

Lustgarten ist in England ein recht bekannter Autor höchst satirischer, manchmal schon zynischer Theaterstücke, die die westliche Gesellschaft, deren Establishment, deren Finanzgebaren und die Ausbeutung der restlichen Welt anprangern. Darüber hinaus ist er ein Aktivist, der auf allen Kontinenten an Aktionen vor allem gegen das Handeln multinationaler Gesellschaften und Konzerne teilnimmt. FRIEDEN ist sein erster Roman.

Wie es bei einigen seiner Stücke der Fall ist, ließe sich auch dem Buch vorwerfen, schlicht zu viel zu wollen. Lustgarten packt eine Unmenge an gesellschaftlichen, aber auch persönlichen Themen in die 315 Seiten Text. Im Kern geht es ihm natürlich um den Umgang einer bei allen sozialen Problemen immer noch reichen Gesellschaft wie der britischen (wohlgemerkt post-Brexit) mit den Ärmsten der Armen, den Hilfesuchenden. Deren Not ja zumeist erst durch das Gebaren westlicher Länder und Nationen – und eben der multinationalen Konzerne, gegen die der Autor so häufig in Aktion tritt – hervorgerufen wurde. Not, die sie dann dazu veranlasst, ihre Heimatländer zu verlassen und in eine Ferne aufzubrechen, die ihnen vollkommen fremd ist und die in den allermeisten Fällen etwas verspricht, was sie nicht halten kann. Und schon gar nicht halten will. All diese Themen werden behandelt, teils vertieft, teils wirklich nur angerissen.

Lustgarten bedient sich eines multiperspektivischen Erzählstils, ohne dabei aus der jeweils wirklich subjektiven Sicht der Betreffenden zu berichten. Eher werden Orts- und Personenwechsel angegeben, denn tatsächliche Perspektivwechsel. Grundlegend bleibt er bei einem deskriptiven, autarken Bericht, der lediglich die Perspektive dessen einnimmt, dessen Name den aktuellen Abschnitt ziert. Diese Abschnitte ihrerseits können mehrere Seiten lang sein, oft aber auch lediglich eine einzige Seite – oder weniger – umfassen. Allerdings gelingt es dem Autor, seinen Leser*innen so ein regelrechtes Gewirr verschiedener Personen und ihrer spezifischen Geschichten und Absichten nahezubringen, ohne dabei komplettes Chaos und heilloses Durcheinander zu erzeugen. Die einzelnen Figuren sind dabei recht unterschiedlich ausgearbeitet. Während wir Cherry Bristow als einen komplexen Charakter kennenlernen, bleibt der Rechtsausleger Freddie Barratt ein Abziehbild, eine Lachnummer aus dem Kabinett des Kuriosen und der Klischees. Die meisten übrigen Figuren bewegen sich irgendwo dazwischen. Tatsächliche Entwicklung wird Andy, Danielle und Robert zugestanden, wobei Andy Jakubiak sich vom Volltrottel zum Empathiker wandelt, zumindest ansatzweise, was zwar nett mitzuerleben, letztlich aber auch etwas kitschig und gewollt ist. Was die Wandlung von Danielle und die ihres Vaters betrifft, haben wir es vornehmlich mit Wiederannäherung (Tochter) zur Mutter und Entfernung (Mann/Vater) von der Gattin und somit einer dialektischen Bewegung zu tun, die dann aber doch etwas zu dicke aufgetragen wirkt.

Ähnlich verhält es sich mit der Story, die momentweise doch zur rechten Räuberpistole entgleitet. Nicht nur die Tatsache, mit einem an eine Leiche gefesselten Polizisten durch die Lande zu fahren und dabei von der Hilfe einer hochgebildeten, aber als Putzfrau und Haushälterin arbeitenden Osteuropäerin zu profitieren, ist doch arg an den Haaren herbeigezogen und immer kurz vor der Farce, sondern auch die Mittel, mit denen zwei illegal in England lebende Frauen einen Migranten aus einem geschlossenen Asyl befreien, wirkt dann doch ein wenig zu einfach und entspricht wohl eher den Wünschen des Autors denn irgendeiner Realität.

So kann man sich natürlich mit Literatur über eben diese Realität lustig machen, sich an ihr rächen, aufzeigen, wie sie sein sollte, sein könnte; abbilden jedoch kann man sie so nicht. Man spürt Satz für Satz, Seite für Seite die Wut, die das Ganze antreibt, die Lustgarten verspüren muss, ununterbrochen. Um sein(e) Anliegen zu verdeutlichen, mag Übertreibung auch ein gängiges und zumutbares Mittel sein. Doch stellt sich irgendwann die Frage, weshalb die Figuren mit der Tragik des Selbstmords eines Kindes aufgeladen werden mussten? Hätte es eine banale Ehekrise nicht auch getan? Warum braucht es bei einer Frau wie Cherry diesen Twist? Sie war zu Zeiten der Pandemie im Krankenhaus, hat dort Doppelt- und Dreifachschichten geschoben, hat das Sterben erlebt, hat die Härten erlebt, als es Verwandten nicht gestattet wurde, am Sterbebett ihrer Liebsten zu sitzen – all das, was wir kennen, was auch in Deutschland nach wie vor für eine ungeheure Wut sorgt. Aber braucht es all das, um zu erklären, weshalb diese Frau so unbedingt diesen Akt des Mitgefühls leisten will? Muss es gleich eine Art Katharsis sein, reicht es nicht, einfach ein menschliches Gefühl zu zeigen?

Andererseits muss man Lustgarten ein ausgesprochen feines Gespür für die Feinheiten und Sensibilitäten der britischen Gesellschaft attestieren. Er scheint ein seismographisches Verständnis dieser Gesellschaft haben, wenn er zu guter Letzt Südlondon in einem Riot auflodern lässt und ein wenig vorwegnimmt, was dann im Sommer 2014 Tatsache wurde, wenn auch unter anderen Vorzeichen, als ein Mob in unterschiedlichen Städten heftigste ausländerfeindliche Krawalle anzettelte. Lustgarten zeigt, wie kurz die Lunte in Großbritannien mittlerweile ist, wie dünnhäutig diese Gesellschaft nach der Pandemie, dem Brexit, der entgegen der Beteuerungen aus der ganz rechten Ecke alles andere als ein Erfolgsmodell war, und einer scheinbaren Überforderung mit immer mehr illegal ins Land strömenden Schutzsuchenden ist. Und er zeigt, wie gerade in den Gesellschaften, die sich „Zivilisation“ und „Kultur“ auf die Fahne geschrieben haben, Gewalt zum Mittel zur Lösung von Konflikten, aber auch als Katalysator eigenen Frusts und Versagens genutzt wird.

Das ist beängstigend. Vielleicht ist nicht die beste Literatur, die dabei entsteht, ganz sicher aber ist es beängstigende Literatur, aufrüttelnd und bedrückend. Und es ist die Literatur zur drückenden Stunde, ganz sicher.

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