GUN LOVE

Ein erschütterndes Buch, ein erschütterndes Psychogramm einer zutiefst neurotischen Gesellschaft

Das Leben – ein Song. Und wahrscheinlich eher ein Blues, vielleicht ein Chanson, da es doch mehr Traurigkeit bereit hält, als Freude. Zumindest kommt man zu diesem Schluß, wenn man Jennifer Clements Roman GUN LOVE (erschienen 2018) liest. Ein Roman wie ein endloser Blues von Louisiana Red oder ein ruhiger, dahin rollender, aber ergreifender Folk Song von Kate Wolf.

Lyrisch, in einer ruhigen, manchmal denkt man: gleichmäßig, dahinfließenden Sprache, die dann doch immer wieder berauschende, manchmal von Traurigkeit erschütterte Bilder evoziert, erzählt die junge Pearl von ihrem Leben mit ihrer Mutter irgendwo in Florida. Die beiden leben in einem Auto auf dem Besucherparkplatz eines Trailerparks, der am Rande einer Müllkippe und gleich neben einem Sumpfgebiet erbaut wurde und letzte Zuflucht für jene ist, die in einem Amerika ohne Mitgefühl, in einer Welt ohne Mitleid, ganz unten angekommen sind. Veteranen, Schmuggler, jene, die ihre Arztrechnungen nicht mehr bezahlen konnten nach einem arbeitsreichen Leben. Oder die, die minderjährig von daheim weggelaufen sind, schwanger und ohne Schutz – wie Pearls Mutter Margot. Die stammt aus reichem Hause, in dem es keine Liebe gab, sie erwartete ein Kind und wollte sich nicht dem aussetzen, was in ihrem Heim  in ihrer Situation zu erwarten war. So brachte sie allein ein schneeweißes Kind zur Welt, das sie Pearl nannte, und rannte. Nicht weit, nur ein paar Meilen, in einem gebrauchten Mercury, den sie an diesem Ort abstellte und wo Pearl die ersten 14 Jahre ihres Lebens verbringt – auf dem Vordersitz eines Autos, mit dem Geschmack von Insektenspray im Mund und den Ausdünstungen der Müllkippe in der Nase. Doch Pearls Mutter besitzt die Gabe einer übersteigerten Sensibilität, sie kann in die Menschen hineinschauen, ihre Traurigkeit erkennen, ihre Bestimmung. Und sie besitzt die Gabe der Phantasie. So wächst Pearl in einer Umgebung auf, die nicht einmal mehr mit  „Armut“ zu bezeichnen ist, und weiß dennoch viel mit ihrem Leben anzufangen, obwohl sie ein stetig wachsendes Bewußtsein für die Bedingungen hat, in denen sie lebt.

Clement versteht es auf brillante Weise, diese junge Frau aus der Rückschau diese Jahre am Leser vorüber ziehen zu lassen. Ohne dabei eine eigentliche Story zu erzählen, berichtet Pearl von ihren wenigen Freunden, von den Beziehungen unter den Bewohnern dieses Camps, von ihren Geschichten und den beschädigten Leben. Niemand hier wurde vom Schicksal verwöhnt, man darf also nicht erwarten, viel Freude auf diesen Seiten zu finden, dennoch gibt es Zusammenhalt, Freundschaft auf einem vielleicht arg niedrigen Level, aber es gibt auch Geheimnisse und Intrigen. Das ganze Leben im Mikrokosmos. Das ganze Leben ein Bluessong. Bis Eli auftaucht und Pearls Mutter in die Knie zwingt. In ihm entdeckt sie den letztgültigen Refrain ihres Lebens und erstmals fühlt Pearl, daß die Bindung zwischen ihr und ihrer Mutter nicht mehr so fest und unverbrüchlich ist, wie sie dies immer wahrgenommen hat. Die Liebe bricht die Zweierbeziehung auf und Pearl findet sich außerhalb des Mercury, allein auf dem Campingplatz, allein mit ihren Gedanken. Sie muß ihren eigenen Refrain finden, vielleicht sogar einen eigenen Song. Sie stellt fest, daß sie die mütterlichen Gaben geerbt hat, zumindest in Ansätzen. Aber das hilft ihr nicht, als die Waffen in ihre kleine Welt eindringen und alles ändern. Alles.

GUN LOVE – der Name des Romans sollte einem Warnung und Hinweis in einem sein. Clement, die Pearl durchaus reflektierend anlegt und damit ihrer Erzählung einen sehr wunden Grundton einschreibt, liefert eine Art Psychogramm einer Gesellschaft in Vereinzelung, einer Gesellschaft, in der das Mitgefühl für den anderen meist nur genau so weit reicht, bis die eigenen Kreise gestört werden. Nicht umsonst ist es am Ende eine Mexikanerin, die zumindest eine Art von Verantwortung übernimmt. Allerdings eine Verantwortung, die daraus erwächst, daß Pearls Schicksal nahezu mystische Übereinstimmung mit einer von ihr verehrten Sängerin aufweist. Alles ist Fatum, alles vorherbestimmt, nichts dem Zufall überlassen. Wenn man den Song anstimmt, kennt man das Ende. Die USA in Clements Roman haben einen Weg eingeschlagen, der vielleicht in einem Werk wie Omar El Akkads AMERICAN WAR (2017), also im Bürgerkrieg, vielleicht einem Krieg aller gegen alle, enden muß. Hier ist die Vorgeschichte. Die Geschichte eines Landes, in dem Vertrauen das eine ist, die Möglichkeit, sich zu verteidigen, das andere. Ein Land, in dem Waffen so selbstverständlich sind wie Nahrung, wie das abendliche Bierchen oder eine Aspirin-Tablette. Und in dem jeder – ob vierzig oder vierzehn – über Waffen verfügen kann, wenn er das denn will. Daß dem eine Zwangsläufigkeit entwächst, die auch und gerade vor den Zarten, den Sensiblen und den Träumern nicht Halt macht, beweist Clement mit erstaunlicher Präzision. Der Präzision eines Scharfschützengewehrs.

Mit ähnlicher Präzision – eben der Präzision eines vollkommenen Songs – beweist Clement aber auch, daß selbst da, wo nichts mehr zu existieren scheint, wofür zu leben sich lohne, Schönheit, Geborgenheit, ja Liebe, erwachsen können. Aber wie in jedem guten Bluessong, weiß auch GUN LOVE, daß all dies – Schönheit, Geborgenheit, ja, die Liebe – vergänglich sind, nicht festgehalten werden können. Unsere letzte Rettung ist vielleicht wirklich nur die Phantasie, jene Orte in uns, wo wir allein mit uns sind. Mit uns und der ganzen Welt.

Manchmal schwer erträglich, dieses Buch. Eine Aneinanderreihung von Skizzen eines jungen Lebens, das aus der Bahn gerät, bevor es überhaupt begonnen hat, das aber erst recht aus der Bahn gerät, als letzte Sicherheiten weggeblasen werden. Manchmal also auch schwer zu lesen, diese 252 Seiten, die einen immer stärkeren Sog entwickeln, vom Stillstand in einem Trailerpark zur amerikanischen Bewegung auf den Highways des endlosen Landes. Ein Buch wie ein Bluessong, der sich in einer Schleife immer weiter um sein Thema dreht, variiert, hier und da eine Improvisation einstreut, ein Break, ein Solo, und doch immer an der richtigen Stelle wieder die Melodie aufgreift und den Beat vorantreibt. Immer weiter und weiter. Wir wissen nicht, wo es uns hintreibt, wie eine gute Jam-Band nie weiß, wo sie auskommen wird. UND wie man mit vierzehn Jahren in der Weite des Landes verloren gehen kann. Refrain.

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