RETTE SICH, WER KANN (DAS LEBEN)/ SAUVE QUI PEUT (LA VIE)
Es rette - wer kann - das Kino!
Paris in den kalten 70er Jahren. Denise (Nathalie Baye) will die Stadt verlassen, sie will aufs Land. Sie verläßt ihren Freund, den Filmemacher Paul Godard (Jacques Dutronc), der ausgesprochen unzufrieden ist mit seinem Leben zwischen seiner zukünftigen Exfreundin, der Mutter Cecile (Cécile Tanner) seines Kindes und den diversen Prostituierten, die er regelmäßig aufsucht. Schließlich lernt er die Hure Isabelle (Isabelle Huppert) kennen, die Denise Wohnung übernehmen kann. Isabelle ist selber bedient von dem Leben, das sie führt und welches sie ihrer Schwester (Anna Baldaccini) auszureden versucht. Godard verlängert seinen Aufenthalt in dem Luxushotel, in dem er. Als Godard das Hotel eines Tages verlässt, wird er von einem Wagen angefahren und stirbt. Cecile und die Tochter entfernen sich – entlang eines Streichorchesters – durch einen Torweg von der Unfallstelle. Fin.
Nach einer fast zehnjährigen Pause vom Film, lediglich unterbrochen von kaum verständlichen Videoexperimenten und marxistischen Manifesten im Filmformat, kehrte der französisch-schweizerische Filmphilosoph Jean-Luc Godard 1980 mit SAUVE QUI PEUT (LA VIE) [Originaltitel], seinem, wie er es nannte, „zweiten ersten Film“ auf die Leinwand zurück. Wie ehedem verrätselt und schwer zu decodieren, kam nun zu seinen sowieso schon inhaltlichen wie formalen Experimenten auch ein technischer Aspekt hinzu: Verlangsamung, Doppelbelichtungen, das stakkatoartige Wiederholen einzelner Bildsequenzen weisen schon in jene Richtung, die ihren Höhepunkt wahrscheinlich drei Jahre später mit der A-Synchronität von Bild und Tonspur in PRÉNOM CARMEN (1983) fand. Der Zuschauer muß sich ununterbrochen seines Status als Zuschauer bewußt werden, es wird ununterbrochen auf den Status des Films als Film hingewiesen. Godard wagt das Experiment, zugleich inhaltlich etwas zu erzählen und die Erzählung dabei dennoch permanent zu unterlaufen, indem man auf ihren Status als Erzählung, einer Fiktion in einem Film, verweist. Doch der Film verweigert seine Zustimmung insofern, daß er die Erzählung als kohärente Einheit verweigert und auch offensiv bekämpft. Was bleibt ihm auch übrig – dem Film, dem Erzähler, dem Regisseur in und außerhalb des Films?
Der Philosoph Jean-François Lyotard hatte im Jahr zuvor in einer Aufsehen erregenden Studie die „großen Erzählungen“ – ob wissenschaftlicher, philosophischer oder auch ästhetischer Natur – für gescheitert erklärt. Da keine letztgültige Legitimation zu erringen sei, die die genannten Disziplinen, die im Sinne der Aufklärung den Vorrang vor Glauben und Mystizismus erhalten hatten, in ihrem selbst bedachten Rang bestätigten, falle es schwer, ein aufklärerisches Glaubenssystem einem mystizistischen – oder sonstwie gearteten – vorzuziehen. Als selbstverständlich angenommene Hierarchien schienen damit ins Wanken zu geraten, was enorme Folgen in den Wissenschaftszirkeln zwischen Berkeley und Paris, Frankfurt und Bologna hatte. Jean-Luc Godard – der trotz der beidseitigen Beteuerungen, sich nicht zu beeinflussen, erstaunliche Überschneidungen sowohl in seinen Analysen wie auch seinen „Methoden“ mit einigen Denkern des Poststrukturalismus aufweist – kommt zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie Lyotard und befragt (s)einen Film also darauf hin, was zu erzählen wäre, wie es zu erzählen wäre und ob eine Erzählung nicht zwangsläufig destruiert werden muß, um „wahr“ zu werden im Rahmen ihrer medialen Darbietung.
Eine scheinbar lose, unzusammenhängende Folge einzelner Szenen und Sequenzen, stellt Godards Wiedereintritt in die Welt des Sichtbaren aber auch einen Kommentar auf die Zeitläufte dar, wie auch eine nahezu poetische Annäherung an eine Wirklichkeit, die un-gefilmt, nicht-gefilmt nicht zu existieren scheint. Womit der Regisseur wiederum die Ideen eines anderen Denkers der Postmoderne aufgreift, reflektiert und in gewissem Sinne auch bestätig, nämlich die des Medienphilosophen Jean Baudrillard: Denise fährt Fahrrad, einer der Gründe, warum sie aufs Land will. Godard zeigt uns die dazu nötigen Bewegungen des Frauenkörpers und des Rades in Doppelbelichtungen, in abgehackten Bewegungssequenzen, Wiederholungen und gibt damit der filmischen Wirklichkeit, die eben die Macht hat, die Realität derart zu stückeln, eine vollkommene Poesie. Film ist die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde? Hier kann man Godard dabei beobachten, wie er dem Gedanken folgt, Stück für Stück, Bild für Bild. Poesie ist überhaupt eins der Merkmale der Welt, stellt dieser Film geradezu nüchtern fest. Die Poesie des Alltags: Das Anzünden einer Zigarette, wenn man Isabelle (Huppert) heißt, und der Blick, der dabei an der Kamera vorbei geworfen wird. Die Poesie der Perversion, wenn wir elend lang einer geradezu De Sade´schen Anordnungsorgie beiwohnen. Manchmal ist es eine Poesie der Überwältigung – die sich mächtig erhebende Stimme einer Opernsängerin, die das ganze Hotel, in dem Paul Godard lebt, auszufüllen scheint – , mal ist es eine Poesie des Abstrakten und des sich im Abstrakten ausdrückenden Surrealen – wenn Cecile und ihre Tochter durch einen langen Torweg gehen und plötzlich ein komplettes Streichorchester eben diesen Torweg bespielt – , dann wieder die oben erwähnte Poesie der Bewegung, die sich rein filmisch in den Aufnahmen der Fahrradbewegung ausdrückt. Vielleicht der Moment, in dem Film Transzendenz schaffen, da er einen Ausdruck seiner selbst findet, einen Ausdruck, den er primär auszuüben in der Lage ist. Die Poesie des Films. Und den – den Film, schlechthin das Kino – hatte Jean-Luc Godard ja bereits 1967 im Schlußtitel seines Meisterwerks WEEK-END (1967) für beendet erklärt. Jetzt zurück zu kehren und nach dem Ende des Kinos einfach weiter zu machen, war an sich vielleicht schon ein poetischer Akt?
Godard, also Jean-Luc Godard, scheint diese Poesie, die durchaus auch komische Züge annehmen kann, gegen eine Wirklichkeit verteidigen zu wollen, die selbst ebenso skurrile und durchaus hässliche Züge annehmen kann. Dabei bleibt im Film immer unklar, woran Godard – dem Regisseur des Films ebenso wie dem Regisseur im Film – eigentlich gelegen ist? Daran, eine filmbildsprachliche Perspektive auf die Realität der späten 70er Jahre einzunehmen? Will er Kritik üben? Oder wendet er sich im Grunde ab vom inhaltlichen Erzählen generell und damit einer selbstreferenziellen Introspektion als Filmschaffender zu? Es ist dieses Enigma, das aufzulösen wahrscheinlich nicht einmal Jean-Luc Godard in der Lage wäre. Paul Godard, der im Film immerzu als Regisseur behauptet wird, den wir aber nie bei der Arbeit und nur äußerst widerwillig an einem nie näher definierten „Projekt“ arbeiten sehen, wirkt ausgebrannt und resigniert. Er ist aggressiv gegenüber fast jedem in seiner Umgebung. Das Geschlechterverhältnis handelt der Film fast wie nebenbei ab, wenn männliche Sexualität als ein mechanischer Vorgang gezeigt wird, als instrumentelle Machttechnik, weibliche Sexualität hingegen erschöpft sich in den zwar zotigen, aber unverstellt ehrlichen Geschichten, die Isabelle und ihre Schwester beim Kaffee am Frühstückstisch austauschen. Paul Godard stromert durch diesen Film, ist zwischendurch abwesend, distanziert sich, was kaum deutlicher werden kann als in seiner Suche nach Befriedigung bei Huren, sein Verhältnis zu nahezu jedem Mitmenschen ist belastet oder zerstört. Sein Tod – als Sündenbock, der beladen ist mit den Problemen des (filmischen) Gestern(?) – löst für Godard, Jean-Luc, vielleicht die Möglichkeit ein, einen „zweiten ersten Film“ drehen zu können. So, wie das Kino an sein Ende kam, 1967/68, so kam auch der Regisseur Jean-Luc Godard an sein Ende? Waren die Jahre im filmischen Untergrund, im Underground, Jahre an den Gestaden des Styx? Wenn er zurückkehrt und sich erneut filmmedial auszudrücken beginnt, noch komplizierter, intellektueller und verkopfter als zuvor, so ist dies vielleicht der äußerste Kompromiß, den er eingehen konnte: Es ist Film nach dem Film eines Regisseurs nach allen Regisseuren. Schauet und staunet. Aber erwartet nicht, zu verstehen. Auch eine Methode, sich die vom Hals zu halten, die dieses Kino eh nur ablehnen KÖNNEN, weil es eine urgrundtiefe Bedrohung liebgewordener Routinen darstellt.
Vielleicht sollte man sich bei dieser Art Kino – so sie einen denn überhaupt interessiert – unbedingt nur auf die Bilder einlassen. Vielleicht sollte man SAUVE QUI PEUT (LA VIE) wie einer Installation im einem Museum, wie einem Happening beiwohnen. Vielleicht sollte man sich in diesen Film begeben, als habe man nie zuvor einen Film gesehen.
Eines ist sicher: wer sich auf Godard einläßt, hat nie zuvor einen FILM gesehen.