LA STRADA
Einer jener Filme für die Ewigkeit
Der 34jähtige Federico Fellini schenkt dem Neorealismus neun Jahre nach dem Krieg eine emotional-humanistische Perspektive. Und verabschiedet sich aus dem ästhetischen Korsett der Bewegung – was ihm prompt Ärger mit den Vertretern der reinen Lehre einträgt. Doch ob man es mit dem „klassischen“ und dem späten Fellini hält oder ob man eher wenig mit seinem Kino anfangen kann – die traurige Mär vom großen Zampano (Anthony Quinn) und der naiven Gelsomina (Giulietta Masina) bleibt in Erinnerung als eines der dramatisch zutiefst berührenden Stücke der Kinogeschichte.
LA STRADA – DAS LIED DER STRASSE (1954), wie der deutsche Verleih dem Titel hinzu dichtete – singt eine Ballade – die Ballade vom Schausteller Zampano, der Gelsomina ihrer Mutter abkauft, weil er eine Assistentin braucht. Er singt von der Zuneigung, vielleicht sogar Liebe, die Gelsomina zu dem rauen und rüpeligen Zampano empfindet; von ihrer Treue und Loyalität; singt von ihrer Freundschaft zum Seiltänzer Matteo (Richard Basehart), den es immer juckt, den Zampano zu necken; singt von der Wut, die immer im Zampano gärt und die Matteo zu spüren bekommt; singt vom Totschlag und dem Schmerz, von der Trauer und dem Vergehen auch der guten Dinge, singt von Trennung und Tod.
Feine, wenn auch tief empfundene Melancholie, ja Trauer, ist es, die Fellinis Meisterwerk durchzieht. Durchaus noch den neorealistischen Regeln verhaftet, hat er sein Roadmovie, das LA STRADA letztlich ist, in den Hinterhöfen und den Brachen angesiedelt, auf der offenen, holprigen Straße und zwischen am Rande der Städte zerlaufenden Siedlungen, wo die Verwüstungen des Krieges noch zu erahnen sind, wo das Unkraut die Asphaltdecke der Straßen durchbricht und die Ränder des dunklen Bandes markiert, wo die Armut derart grassiert, daß sie Mütter dazu treibt, ihre Töchter zu verkaufen. Fellini zeichnet ein realistisches Bild dieser Not, doch dann tritt er über in die Welt der Gaukler und Artisten, der Illusionen und bewußten Täuschungen. Eine Welt, in der ein Mensch wie Zampano groß tun kann, eine Welt, in der Matteo mit seinen Allerweltsweisheiten als Philosoph durchgeht und eine Welt, in der ein Mensch wie Gelsomina ankommen und Bedeutung erlangen kann.
LA STRADA weist so viel Talent und Können, ja Genie auf und ist doch ein Beispiel dafür, daß die ganz großen Kinomomente immer abhängig sind von den Schauspielern, die sie vermitteln. Vielleicht wäre es so oder so ein großartiger Film geworden, die Sternstunde des Kinos, die er ist, ist er vor allem dank seiner Darsteller.
Anthony Quinn spielt den Zampano mit viel Mut zur derben Hässlichkeit, als einen steten Quell unbändiger Energie, als eine ewig dampfende Testosteron-Maschine. Zampano ist – im Büchner’schen Sinne – nah an der reinen Kreatur, reduziert auf die rudimentären Bedürfnisse, die sofort befriedigt werden müssen. Und er ist voller Wut, nur auf sich selbst konzentriert, der Welt gegenüber feindlich, als enthielte sie ihm vor, was ihm zustünde. Menschen sind in seiner Wahrnehmung Gebrauchsgegenstände, die er eben nutzt, seine Bedürfnisse und Wünsche zu stillen. Frauen stellen da nur ein Mittel in einer ganzen Reihe notwendiger Mittel dar. Gelsomina jedoch nimmt Zampano nicht einmal als Frau wahr, sie ist für ihn etwas, das ihm zu Diensten zu sein hat, ihm gehört und womit er verfahren kann, wie er will. Und wenn es (ihm) passt, kann er sie auch mißhandeln und prügeln. Diese Figur ist Quinn wie auf den Leib geschneidert, er kann seinen Machismo perfekt ausspielen und stellt ihn doch – anders als in unzähligen Rollen, in denen er damit reüssiert – in den Dienst einer traurigen Geschichte, die diesem Menschen zwar in gewissem Sinne Gerechtigkeit widerfahren läßt, die aber weiß, daß es für ihn kaum echte Gerechtigkeit geben kann in dieser Welt. Wer der Welt ein Feind ist, wird in ihr feindlich behandelt. Selten wurde, ohne viel Aufhebens, der Machismo einer solchen Figur auf der Leinwand so gnadenlos als das entlarvt, was er ist: Das Gedröhn einer leeren Behauptung einerseits, der Schutzschild des Mannes gegen das Weiche der eigenen Seele andererseits. Zampano ist ein Herumtreiber, er ist ein Aufschneider, ein Trinker und Schläger. Aber nachdem er Matteo getötet hat, ist er ein bemitleidenswertes Nervenbündel, ein unter seinem Gewissen Leidender. Der sich davonstiehlt, weil er Gelsominas einfache, reine und schon vom Wahnsinn des Unverständnisses getragene Trauer weder versteht, noch erträgt. LA STRADA ist auch – ohne dies an irgendeiner Stelle vordergründig zu thematisieren – auch ein Film über die Differenz zwischen Männern und Frauen. Es waren Männer, die Europa angetan haben, was ihm angetan wurde. LA STRADA, Fellini, weiß das. Der Film atmet den Geist dieser Erkenntnis.
So sehr Anthony Quinn in dieser Rolle – vielleicht der besten seiner ganzen Karriere – auch besticht, mehr noch verdankt der Film seine Reputation Giuletta Masina. Fellinis Gattin verbreitet in dieser – ihrer berühmtesten – Rolle als trauriger Clown einen Zauber, der Gelsomina zu einer unvergesslichen Figur des Kinos macht. Dieses kleine Wesen, fast einem Troll gleich, mit diesem wunderbar ausdrucksstarken Gesicht, das der Welt mit all der Freundlichkeit der „Naiven“ begegnet und letztlich an dieser Freundlichkeit und Grundliebe zum Menschen, zum Sein selbst zugrunde geht, dringt in die Herzen der Zuschauer und nimmt dort einen Platz ein, wie es nur wenige Figuren der Kinoleinwand schaffen. Es gelingt Masina immer wieder, uns innere Zustände und deren Veränderungen, manchmal sind es sehr plötzliche Wechsel, zu zeigen, ohne dabei auch nur ein Wort zu verlieren. Die Rolle der Gelsomina, die Art, wie diese an Zampanos Seite die Trommel rührt, die Trompete bläst und die Zuschauer mit ihren Tanzschritten bezaubert, ist bewußt am naiven, freundlichen Tramp angelehnt, den Chaplin erfunden hatte. Wie dieser, ist auch Gelsomina von tiefer Neugier auf die Welt erfüllt, mehr aber noch von einer schwer nachvollziehbaren Zuneigung zu Zampano. So sehr sie sich traurig gibt, als ihre Mutter sie „abgibt“, ein Zwischenschnitt auf ihr Gesicht, daß wir Zuschauer, nicht aber ihre Verwandten sehen können, deutet uns bereits an, daß Gelsomina sich durchaus zu freuen weiß, daß sie mit Zampano gehen darf – denn der bringt sie auch raus aus einem Leben, dessen Prämissen längst festgelegt, dessen Verlauf stark vorherbestimmt gewesen wäre. Und obwohl Zampano sie von allem Anfang an schlecht behandelt (wobei sie viel besser als wir, die Zuschauer, zu verstehen scheint, daß der große Kerl nicht anders kann), verläßt sie ihn nicht, auch nicht, als sie Gelegenheit hätte und mit den fahrenden Artisten des Zirkus oder in Matteo weitaus freundlichere Begleiter gefunden hätte. Und obwohl sie uns ihre Zuneigung zu dem brutalen Kerl nie expressis verbis erklärt – ist es eine seltsam unterwürfige Art von Liebe?, ist es Berechnung, da sie ohnehin nicht wüsste, wohin?, oder ist es die Abhängigkeit der Schutzbefohlenen? – ist Masinas Gesicht, ihre Mimik, ein endloses Gedicht, berichtet uns von all den Kräften und Mächten der Seele, die – für Gelsomina selbst vielleicht unverständlich – in ihr walten und wirken. Es ist die reine Poesie, die Masina uns mit ihrem Spiel bietet, in dem sie dem berühmten Vorbild aus den Tagend es Stummfilms in nichts nachsteht.
Doch ist es natürlich auch die Poesie des Erschaffers dieses Märchens aus den Nachkriegszeiten, die die Poesie der Schauspieler zum Strahlen bringt. So sehr Fellini sich zunächst dem Neorealismus und seiner strengen Programmatik verpflichtet gefühlt haben mag, daß dieser Mann – der weitere Verlauf seiner Karriere beweist es uns ja nachdrücklich – sich nicht lange in enge Korsetts eines Dogmas schnüren lassen würde, kann man bereits LA STRADA ansehen. Mutet mancher spätere Film des Regisseurs vom Setting sowieso wie ein Jahrmarkt oder eine Zirkusaufführung an, greift er hier nicht zufällig zum Milieu der Gaukler und Illusionisten, um diese Geschichte zu erzählen. Denn dort, am Rande der Gesellschaft, abseits sowohl des Milieus der Bourgeoisie als auch der – vom Neorealismus oft verherrlichten – Arbeiterklasse, da, wo sich die Gestrandeten und Verlorenen, die Verlierer und Außenseiter einfinden, dort kann eine Geschichte reiner Menschlichkeit, jenseits aller Ideologie und allen Dogmas, eine Geschichte der Liebe in beschädigten Zeiten noch passieren. Und dort kann man sie als Künstler noch unbeschadet erzählen.
Die Verbindung von Kameraarbeit, der Leistung der Darsteller und der Mise en Scène deutet an, welch poetische Kraft die Filme dieses Künstlers einst beseelen würde. Wenn Matteo auf dem Hochseil eine Schüssel Pasta verputzt, später Gelsomina ein Lied auf der Posaune beibringt und mehr noch in jener Szene, in der die entlaufene Gelsomina in die Prozession gerät und es Fellini mit einer ungemein beweglichen Kamera gelingt, uns gleichzeitig einen „objektiven“ Blick auf die rauschhafte Feier zu gestatten und zugleich „subjektiv“ nachempfinden zu lassen, wie Gelsomina dieses Erlebnis wahrnimmt, und erst recht anhand der vielen Schnitte auf und Großaufnahmen von Masinas Gesicht in all seinen Facetten der Freude, Zuneigung, Liebe, des Schmerzes über die dauernde Zurückweisung, der Enttäuschung, einmal gar des Hasses können wir Fellinis Genie, seine Vielfalt, die Kraft seiner Bilder bewundern. Die Poesie der Kamera korrespondiert mit der Poesie der Geschichte, korrespondiert mit der Poesie der Figuren, korrespondiert mit der Poesie des Blicks, korrespondiert mit der Poesie Fellinis.
Ein verletzter Kontinent hatte keinen Sinn mehr für das Happy End und Fellini pfropft seiner Ballade, seinem „Lied der Straße“ auch kein solches auf. Wer sich so weit von der Menschlichkeit entfernt hat wie Zampano (oder der Menschlichkeit immer derart entfremdet gewesen ist), den wird die Liebe einer vermeintlich Schwachsinnigen nicht „heilen“. Eher rennt er weg, wenn die pure Anwesenheit des andern eine dauernde Mahnung an das eigene Gewissen, die eigene Menschlichkeit wird. Er hat Gelsomina immer übel mitgespielt, daß weiß Zampano, er hat sie ausgenutzt und mißhandelt. Doch indem er Matteo tötet, tötet Zampano den Glauben in Gelsomina, jenen Glauben, der sie Zampano hat hörig sein lassen, jenen ungebundenen Glauben, daß der Mensch im Kern eben doch gut sei. Matteo – den Fellini keineswegs als „gut“, sondern als durchaus selbst zu Brutalitäten neigend zeichnet, nur sind seine Brutalitäten feinsinniger als die des schwerfälligen Zampano, womit der Regisseur das Milieu, in dem seine Geschichte spielt, durchaus realistisch als eines beschreibt, in dem wenig Mitmenschlichkeit oder Mitleid herrschen, auch wenn der Zirkusdirektor sein Personal als „große Familie“ anpreist – dieser Matteo ist in der ganzen Handlung der einzige, der Gelsomina je als ein menschliches Wesen mit Widersprüchen und Bedürfnissen wahrnimmt. Auch wenn er sie neckt, indem er ihr vor Augen führt, wie sehr sie sich von Zampano abhängig gemacht hat, versteht er doch instinktiv, daß und warum dem so ist. Ihm gelingt es, Gelsomina zu verdeutlichen, daß auch ihr ein wenig Glück zusteht, daß auch sie Bedeutung habe und ihre Wünsche, Träume und Bedürfnisse ein Recht haben, wahrgenommen zu werden, geträumt zu werden und in Erfüllung zu gehen. Doch auch ihm – oder der Freundschaft dieser beiden – ist kein Happy End gegönnt.
Mit der Ermordung dieses Parvenüs zerstört Zampano Gelsominas Weltbild so nachhaltig, daß auch sein eigenes, einfaches und von einfachsten Bedürfnissen geprägtes Weltbild ins Wanken gerät. Es ist diese Vision, die Fellinis Film so außergewöhnlich macht: Wie es ihm gelingt, ohne viele Worte, ohne große Erklärungen, einfach Kraft der Handlung und Kraft der Ausdruckstärke seiner Hauptdarsteller uns ewige Wahrheiten nahe zu bringen und in uns wirken zu lassen: Wer einen Menschen tötet, der tötet eine Welt. Wenn Zampano erfährt – Jahre, nachdem er sie einfach im Schnee schlafend zurückgelassen hatte – , daß „das Mädchen mit der Trompete“ irgendwann einsam und sprachlos am Strand gestorben ist, und wenn Zampano ob dieser Auskunft, die er wie nebenbei von einer Waschfrau zu hören bekommt, am Strand zusammenbricht und wir ihn dort weinend verlassen, dann bricht nicht einfach nur dieser grobschlächtige Mann zusammen und weint um sich, sondern da weint einer um uns alle. Da weint einer – stellvertretend für seinen Regisseur und damit stellvertretend für uns – um die Möglichkeiten eines Lebens, um die Möglichkeiten der Liebe, um die Möglichkeiten eines Happy Ends, die wir alle so leichtfertig aufs Spiel gesetzt und vergeben haben.
LA STRADA singt diese Ballade der vertanen Möglichkeiten, der ungeliebten Liebe, des falsch gelebten Lebens mit leiser Melancholie, aber ohne je zynisch oder abwertend zu sein. Federico Fellini, der sich von hier aus aufmachte, der (Kino)Welt seine ganz eigene Magie einzuschreiben und ihr Bilder für die Ewigkeit zu schenken, weiß nur allzu genau um die fürchterlichen Verletzungen, die die jüngste Geschichte dem europäischen Kontinent zugefügt hat. Der Neorealismus reagierte schließlich auf genau diese Geschichte. Doch anders als Visconti oder zunächst auch Roberto Rossellini, ist Fellini der Meinung, daß man dieser Geschichte etwas entgegen zu setzen habe: Das Leben selbst in all seinen Facetten, in all seiner Traurigkeit und Großartigkeit. Was auch immer wir uns antun, es bleiben die grundsätzlichen Themen der Liebe und des Todes, die uns beherrschen. Mag sein, daß wir uns alle Poesie ausgetrieben haben – Zampano legt beredt Zeugnis davon ab – die Poesie selbst lässt sich nicht vertreiben. Niemals. Fellini wusste das.
So überdauert nur die leise Melodie, die Matteo Gelsomina einst beigebracht hatte, an jenem glücklichen Tag im Zirkus. Diese Melodie wird ein Volkslied. Die einfache Gelsomina in ihrer gnadenlosen Naivität, die einen wachen Sinn für die Schönheit und die vergessene Freundlichkeit der Welt hatte, bekommt zwar nie die Liebe und Zuneigung, die ihr zugestanden hätten, doch sie gibt uns dieses „Lied der Straße“. Und damit zumindest das – einen Trost…