LETZTE SCHICHT/LORRAINE CONNECTION

Ein Wirtschaftskrimi in bester Tradition

In den 1980er Jahren begann mit den ersten Privatisierungen vormals staatlicher Betriebe und der Bildung großer Wirtschafts-Konglomerate und Mischkonzerne jene Epoche, die heute gern unter dem Label „Neoliberalismus“ subsumiert wird. Was die Folgen davon waren – ansteigende Arbeitslosigkeit in den 90er Jahren, prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, Vereinzelung, der sogenannte dritte Arbeitsmarkt, etc. – wissen wir Heutigen nur allzu genau. Und wir wissen auch, daß in dieser Phase mitnichten zum Wohle der Gesellschaften oder zumindest im Sinne der freien Marktwirtschaft gehandelt wurde, da der Markt ja angeblich alles regele, sondern in Hinterzimmern Mauscheleien, Absprachen und Bevorzugungen stattfanden, die oft schlimmste Folgen für (Fach)Arbeiter und Angestellte zeitigten. Eine eigene Rolle spielten dabei EU-Fördertöpfe und EU-Subventionen. Enorme Summen verschwanden in schwarzen Kanälen, auf privaten Konten und auf nicht mehr nachvollziehbaren Wegen in den Untiefen weit entfernter Steuerparadiese. Aus diesen Zusammenhängen eine spannende Erzählung zu generieren, erfordert nicht nur genaue Kenntnisse dieser Entwicklungen, sondern auch das Gespür dafür, wo in diesen Verflechtungen der Mensch zu finden ist. Wo man menschliche Schicksale darin findet, von denen erzählt werden kann, ohne Sozialkitsch zu produzieren.

Die Wirtschafts-Historikerin und Schriftstellerin Dominique Manotti (Marie-Noëlle Thibault) gelingen in regelmäßigen Abständen genau solche Geschichten. Ob Korruption in der Atomwirtschaft, Statistikfälschungen zur Beförderung der eigenen Karriere oder eben Scheinfirmen, um EU-Subventionen abzugreifen und zugleich Einfluß auf Fusionspläne staatlicher Konzerne zu nehmen, wie im vorliegenden Band LORRAINE CONNECTION (erschienen 2006) – die Autorin schöpft nahezu in allen ihren nominell als Kriminalromane gehandelten Werken aus dem Fundus der Skandale französischer und europäischer Wirtschaftspolitik  der vergangenen 30 Jahre. Es gelingt ihr, hochkomplizierte und komplexe Verstrickungen so aufzubereiten, daß dem – allerdings aufmerksamen – Leser die Zusammenhänge verdeutlicht werden, und zugleich Spannung zu erzeugen, indem sie Figuren menschlich erscheinen lässt, nur gelegentlich – was beim Sujet fast naheliegend ist – in Klischees abrutscht, und die Auswirkung europäischer Politik auf die Schicksale „kleiner“ Leute spürbar zu machen.

In LORRAINE CONNECTION bildet der Übernahmekampf zwischen dem Rüstungskonzern Matra-Hachette und dem koreanischen Mischkonzern Daewoo in den 90er Jahren um die Thomson Multimedia, einem staatlichen französischen Elektronikgiganten, der sowohl Rüstungselektronik als auch Unterhaltungselektronik entwickelte, den Hintergrund. In einer lothringischen Fabrik kommt es vermehrt zu Arbeitsunfällen. Nach einem solchen kommt es zu spontanen Arbeitsniederlegungen und schließlich zu einem wilden Streik. Die Arbeiter, die, ohne es zu ahnen, während der Besetzung der Fabrik auf hochbrisantes Material hinsichtlich geheimer Konten stoßen, kommen mit ihren Aktionen sowohl der Fabrikleitung, als auch Hintermännern in die Quere, die die bewußt runter gewirtschaftete Fabrik nutzen, um europäische Fördergelder abzugreifen, zugleich aber auch die eigene Karriere in Richtung Chefposten zu befördern. Zugleich suchen die zuständigen Verantwortlichen einer ebenfalls an der Übernahme des Thomson-Konzerns interessierten Firma nach Möglichkeiten, den scheinbaren Gewinner Daewoo auszustechen. Da die Fabrik in Lothringen ebenfalls zu Daewoo gehört, setzen sie hier an und schicken einen ehemaligen Geheimagenten, der mittlerweile als Privatdetektiv arbeitet, um im Umfeld des Streiks und der daraus resultierenden Ereignisse zu recherchieren. Dieser Mann – Charles Montoya – sticht in ein Wespennest, da er feststellen muß, daß zumindest eine der beteiligten Seiten nicht einmal vor Mord zurückschreckt, um ihre Interessen durchzusetzen. Und schnell merkt er eines: Die eigentlichen Verlierer der ganzen Angelegenheit sind die Arbeiter.

Manotti gelingt es, diese Schicksale eindringlich, ohne dabei je unsachlich oder gar pathetisch zu werden, zu schildern. Sie bedient sich gelegentlich eines Stakkato-Stils, der durchaus an die Prosa James Ellroys erinnert, lässt kurze, oft Prädikat-freie Sätze auf den Leser los, die ihre Sprengkraft in ihrer Atemlosigkeit oft erst beim zweiten Hinschauen preisgeben. Lothringen ist eine gebeutelte Region, seit die Stahlwerke geschlossen haben. Hier finden die ehemaligen Stahlarbeiter meist nur Hilfsjobs, als Unausgebildete stehen sie an Förderbändern und erledigen unter teils kriminellen Bedingungen Handgriffe, Hilfsarbeiten. Auch die Frauen der Region arbeiten mittlerweile in diesen prekären Jobs und werden dabei doppelt und dreifach ausgenutzt. Der Lohn reicht meist kaum bis zum Monatsende, die Menschen leben in runtergekommenen Wohnsilos, es gibt wenig Solidarität, viel Angst und viele Drogen. So wird der wilde Streik auch zu einem Initiationserlebnis für einige, doch zerfällt die kurzfristig empfundene Stärke der Gemeinschaft schnell wieder, machen sich Mißtrauen und Ablehnung breit, schaut letztlich ein jeder, wo er selbst bleibt.

Manotti beschönigt hier nichts. Sie zeigt die Arbeiter nicht als im sozialistischen Sinne am Marxismus geschulte Proletarier, sondern als normale Menschen, die längst den Glauben daran verloren haben, daß sie im großen Spiel der Wirtschaftsmächte überhaupt noch eine Chance haben. Sie nehmen sich selbst als Verschiebemasse wahr, sie sind die, die geopfert werden. Und als Montoya schließlich die Listen mit den geheimen Konten einsehen kann, erfährt er, in welch zynischem Ausmaß das stimmt. Wenn man über die Gegensätze von Klassen und Schichten schreibt, wenn man  Wirtschaftsmagnaten und Arbeiter, Marketingstrategen und  ehemalige Agenten, Drogendealer und Kleinstadtkommissare auftreten lässt, läuft man schnell Gefahr, ins Holzschnittartige, eben in Klischees abzudriften. Manotti ist, wie bereits erwähnt, nicht ganz davor gefeit. Doch en gros gelingen ihr durchaus realistische Charaktere, wirklichkeitsnahe Figuren. Ebenso gelingt es ihr – und das ist der eigentliche Clou des Buches – trotz der erwähnten Agenten und Drogendealer, nie in die Kolportage abzurutschen. Weder werden hier Verschwörungstheorien bedient, noch eine Räuberpistole konstruiert. Die Entwicklungen sind glaubwürdig und bleiben im Kern auf der Ebene eines nah an der Realität angesiedelten Wirtschaftskrimis, in dem Korruption, Geheimkonten und Schmiergelder eine wesentliche Rolle spielen. Die Verflechtungen ins kriminelle Milieu sind mehr als glaubwürdig, da der aufmerksame Zeitungsleser allzu oft schon von genau solchen Verstrickungen lesen konnte.

In Frankreich mögen die Unterschiede der Klassen noch ausgeprägter sein, als in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die die trennenden Schranken zwar nicht vollends überwunden, aber doch sehr durchlässig hat werden lassen. In Frankreich gibt es – ähnlich wie in England, wo man gerade aktuell beobachten kann, was es im Einzelnen bedeutet, wenn eine vergleichsweise kleine Clique gelangweilter Eliteschüler mit dem Leben aller, dem Schicksal eines ganzes Landes spielt – sie noch, die Eliteschulen, die fast zwangsläufig zu diplomatischen, politischen oder Karrieren in der gehobenen Staatsbürokratie führen. Auch der aktuelle französische Präsident Emmanuel Macron entstammt diesem Elitesystem und somit sind die Charaktere, die dieses System hervorbringt, möglicherweise auch näher an dem, was man gemeinhin „Klischee“ nennt. Einige der Figuren, die Manotti aufbietet, sind spürbar diesem Elitesystem entwachsen und sie verdeutlicht dabei auch, wie die Netze untereinander gesponnen sind, wie eng die Verflechtungen teilweise schon seit Jugendtagen sind, wie diese Verbindungen funktionieren. Eine Hand wäscht die andere, im Notfall lässt man diesen oder jenen über die Klinge springen und rettet die eigene Haut. Und immer hat man irgendwo noch einen Gefallen gut, ist man im Gegenzug aber auch jemandem etwas schuldig.

Manotti bezieht – das steht außer Frage – deutlich Stellung. Ihre Sympathien liegen bei den Arbeitern, jenen, die die Gesellschaft vergessen zu haben scheint. Somit steht sie auch  in der klassischen Tradition jener sozialkritischen Kriminalromane der 1970er Jahre, deren exponierteste Vertreter jene Autoren wie Horst Bosetzky (-ky) oder das schwedische Duo Sjöwall(Wahlöö waren. Doch macht sie es sich auch in der Beschreibung der Arbeiter und Angestellten der Fabrik nicht leicht. Auch  hier gibt es Mißtrauen und Intrigen, auch hier ist nicht ein jeder an der Gemeinschaft interessiert und es gibt auch hier jene, die sich kaufen lassen, wenn der Preis stimmt. Und es gibt Rassismus. Es ist ein hoher Verdienst, diese Gemengelage anklingen zu lassen, ohne didaktisch zu werden, Spannung zu erzeugen, den Leser mitzunehmen und dennoch differenziert und durchaus auch distanziert auf alle Schichten und Klassen zu blicken, die hier aufeinanderprallen.

Es braucht vielleicht gerade Kriminalromane, vordergründig der Unterhaltung verpflichtet, um genau und dezidiert aufzuzeigen, wie diese Systeme, die meist im Hintergrund wirken, wie sie funktionieren und welche teils fürchterlichen Auswirkungen sie haben.

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