AUF BEIDEN SEITEN
Lukas Hartmann erzählt von der Gefährlichkeit weicher Fakten
Der Journalist Mario wird von seiner Exfrau Bettina gefragt, eher gebeten, sie zu ihrem mittlerweile an Demenz erkrankten Vater zu begleiten. Dieser, Dr. Armand Gruber, war einst Marios Deutschlehrer und kurzfristig dessen Mentor, so wie Mario sein Lieblingsschüler gewesen ist. Das war 1970 und auch die Schweiz wurde erschüttert von den Unruhen, die – von Paris, Berlin, Berkeley aus – in konzentrischen Kreisen nicht nur die akademische, sondern nach und nach die Jugend der westlichen Welt generell erfasst hatte. Gruber, ein Pedant und erzkonservativer Antikommunist, zeitlebens an einer Biographie Adalbert Stifters schreibend, der für ihn das Prinzip der Harmonie verkörperte, war ein ebenso strenger wie fordernder Lehrer, der allerdings in Mario eine Seite zum Schwingen gebracht hatte. Dieser wollte die Anerkennung des Lehrers. Die Umstände schließlich führten dazu, daß Mario mit Grubers Tochter bekannt wurde und auch, wenn es noch einmal nahezu neun Jahre bis zum Ende des „roten Jahrzehnts“ dauern sollte, verliebten die beiden sich und gründeten eine Familie. Nun also musste sich der linke Journalist Mario an seinem Schwiegervater abarbeiten. Und dieser an ihm. Mittlerweile – es ist das Jahr 2010 – schon lange geschieden, willigt Mario ein, Bettina zu begleiten und bei diesem Besuch widerfährt ihnen seltsames: Gruber offenbart ihnen, daß er Mitglied jener Gruppierung innerhalb des Schweizer Militärs gewesen ist, die 1990 als P-26 aufflog. Eine Gruppe, die bei einer Besatzung des Landes durch Truppen des Warschauer Pakts, also „des Russen“, als eine Art Guerilla ausgebildet im eigenen Land einen Untergrundkampf gegen die neuen Herren führen sollte. Es war nie geklärt worden, ob eine links-sozialistische Regierung, frei gewählt, möglicherweise von der P-26 bereits als Grund zu einem Putsch betrachtet worden wäre. Mario, schockiert darüber, daß sein Schwiegervater also offenbar nicht nur ein Falke und geistiger kalter Krieger, sondern durchaus auch ein Verfechter „heißer“ Lösungen in diesem Krieg gewesen ist, beginnt, seine Erinnerungen an den Mann, nach und nach aber an sein Leben und seine Ehe mit Bettina aufzuschreiben. Eingeflochten in diesen dem Leser nüchtern dargebrachten Bericht, sind Erinnerungen Grubers selbst, in denen dieser sich zu rechtfertigen sucht, seine Welt- und Lebenssicht jedoch auch zu erklären trachtet. Hinzu kommen in einem Mittelteil die Erinnerungen von Karina, Bettinas bester Freundin, deren Vater Hausmeister in einem Geheimdienstkomplex gewesen ist und die somit ihr Leben ahnungslos in unmittelbarer Nähe all der dreckigen Geheimnisse verbracht hatte, die ein Staat so ansammeln kann im Laufe der Zeit.
Worin besteht der Unterschied zwischen Literatur, also dem Schöngeistigen, und Sach-, bzw. Fachliteratur? Natürlich kann man nun Seiten füllen mit all den Differenzen zwischen fiktionalen Erzählungen des Ungefähren und den ‚hard facts‘ der Realität, die uns in naturwissenschaftlichen Werken, aber auch in solchen zur Geschichte, Soziologie, in Biographien etc. nahegebracht werden. Es gibt aber einen Unterschied, der selten benannt wird, Vielen vielleicht gar nicht zu Bewußtsein kommt. Es war ein ihm bekannter Dozent an seiner Universität, der den Rezensenten einst diesen Gedankengang erschloß: Einen Philosophen, Theoretiker, Analytiker zu verstehen, mag schwere Arbeit sein – schließlich erfasst man die Gedanken Kants, Hegels, eines Wittgenstein, Heidegger, Luhmann oder Derrida nicht mal so eben. Doch hat man sich die Grundgedanken dieser Meisterdenker einmal erschlossen, ist es relativ einfach, auf der erarbeiteten Basis sich ganze Systeme zu eigen zu machen. Literatur hingegen, oft abwertend ‚Schöngeistiges‘ genannt, ist weitaus weniger berechenbar, als wir das vielleicht denken. Man mag ja glauben, man könne sich das Erzählende vom Leib halten und es mag einige geben, denen das gelingt, das sind jene, die gemeinhin als Nicht-Leser angesehen werden können, denen sich das a priori der Abstraktion von Sprache schlicht nicht erschließt, denen der Akt des Lesens nicht nur Langeweile, sondern gleichsam Unwohlsein bereitet. Lassen wir diese einmal außen vor, bleibt Literatur für den Lesenden dennoch unberechenbarer Grund und somit viel, viel gefährlicher, als jedwede Form fachlicher oder sachlicher Literatur. Beginnen wir ein neues Werk – den neuen Roman eines geliebten Autoren oder auch ein Werk eines uns völlig Unbekannten – so beginnt für den Leser ein jedes Mal das Leben, ja, die Welt aufs Neue. Mit all ihren Gefahren. Einen Roman zu lesen ist mindestens so gefährlich, wie ohne Kompaß durch unbekanntes Terrain zu laufen, denn wir wissen nichts davon, was uns erwartet: emotional, psychisch, intellektuell, sozial. Ein neuer Roman ist in der Lage, unser gesamtes Leben zu verändern, ohne daß wir auch nur ahnten, was uns bevorsteht.
Lukas Hartmann, der dem Rezensenten einst als Autor eines packenden (Abenteuer)Romans über die Reise des Malers Webber auf James Cooks dritter und letzter Reise begegnete, schafft es mit seinen historischen wie zeitgenössischen Romanen fast ein jedes Mal, diesen Leser zu „erwischen“. Ohne Sentiment, ohne Kitsch, gelingt es Hartmann Mal um Mal, seine Geschichten aus einer Wirklichkeit zu erzählen, die plötzlich und unerwartet oder schleichend und zunächst unerkannt ihr Antlitz wandelt und sich manches Mal in das Gegenteil dessen verkehrt, was sie war – aus der Sicherheit elterlicher Fürsorge wird die existenzielle Unsicherheit dessen, der alles verloren hat, in einem drei Tage andauernden und letztlich doch ewig nächtlichen Gespräch werden aus Fremden Liebende, die Sicherheit europäischer Aufklärung verkehrt sich in das Staunen des Künstlers im Angesicht dessen, was schlicht nur noch ‚die Schöpfung‘ genannt werden kann. Oder aber, wie im vorliegenden neuen Werk des Autors, vertraute Menschen entpuppen sich als weitaus kältere Krieger, als jene, für die man sie sowieso schon gehalten hatte.
Zusammengefasst klingt ein Abriß des Inhalts recht unzusammenhängend und willkürlich. Doch ist es eben die große Kunst des Lukas Hartmann, dies alles durch seine Sprache, seinen Stil, seine Art des Erzählens zusammen zu bringen, kunstvoll miteinander zu verweben und dann eben vollkommen natürlich erscheinen zu lassen. Da entblättert sich keinesfalls ein Spionagethriller vor uns oder eine Spannungsgeschichte, das sollte man nicht erwarten, keineswegs. Sondern es entrollt sich die Geschichte zwischen Generationen – zwischen jener Grubers, die jung noch den Krieg erleben musste und die Ängste spürte, die auch in der neutralen Schweiz dadurch ausgelöst wurden, und den aufbegehrenden Studenten, für die Mario stellvertretend steht. Doch werden uns mit Bettina und Karina auch andere Wege dieser Generation aufgezeigt, so wie mit Marios Vater, der sich aus sehr kleinen Verhältnissen hocharbeiten musste oder mit Karinas Eltern, die schweigend ihre Arbeit verrichteten und Ruhe für eine Bürgerpflicht hielten, Alternativen zu dem konservativen Intellektuellen Gruber und seinen geisteswissenschaftlich verkopften Anliegen und Themen präsentiert werden. Da treten dann die auf, die die Zeitenwende des Zweiten Weltkriegs als Chance begriffen haben, die aber auch gar nicht anders konnten, als sich von dem Leben der eigenen Eltern abzuwenden, da die Zeiten sich radikal wandelten. Und Mario, Bettina und Karina stehen stellvertretend für eine Generation, der erstmals die Welt offen stand, für deren Ziele es scheinbar keine sozialen Grenzen, Begrenzungen, Einhegungen mehr gab und die letztlich vielleicht genau daran gescheitert ist: Daß den Möglichkeiten, die ihnen offenstanden, manchmal schlicht ihr Talent nicht entsprach, oder die Energie, die sie bereit waren, für ihre Ziele aufzubringen oder aber – was sicher für Mario gilt – die in ihren Überzeugungen eben bei weitem nicht so gefestigt gewesen sind, wie sie es sich und andern gern weismachen wollten, Salonsozialisten halt.
Doch wird eben auch der Riß, der Konflikt thematisiert, der sich auftut zwischen dieser Generation der müde gewordenen Möchtegernrevoluzzer (denen Hartmann, Jahrgang 1944 und damit nur ca. 10 Jahre älter als seine Hauptfigur Mario, aber deutlich jünger als Gruber, ein schlechtes Zeugnis ausstellt), die sich nur allzu gern zwischen Rotwein aus Frankreich und Urlaub in der Toskana eingerichtet hat, und deren pragmatisch veranlagten Kindern, die ihr Leben weitestgehend ideologiefrei und in einem Bewußtsein von Frieden leben können. Und je weiter der Text voranschreitet, je mehr Mario uns berichtet und je ehrlicher er sich dabei macht, desto deutlicher wird uns der Verlust, den er (und er stellvertretend für Viele) erlitten hat: Nicht nur hat er seinen Glauben, seinen Idealismus verloren, hat sich in diesem Verlust eingerichtet, sondern er hat auch den Kontakt verloren: Zu den eigenen Kindern, vor denen er einst weggelaufen ist, zu seiner Geschichte, zu den eigenen Eltern usw. Es sind dies Momente in dieser Lektüre, die den wachen Leser eiskalt erwischen, nahezu hilflos vor diesem Text sein lassen, der das Scheitern in seinem ureigenen Kern erklärt. Und uns nicht selten an eigene Verluste, Lebenslügen und Wirrungen erinnert: Gruber, der eigentlich als Professor und Stifter-Experte reüssieren wollte und doch nur unwilligen Jugendlichen die deutsche Grammatik und die eine oder andere Ballade nahegebracht hat; seine Tochter, von der einmal alle glaubten, sie habe das Zeug zur gefeierten Pianistin, die aber dann ganz zufrieden war, einfach Kindergärtnerin sein zu dürfen; Mario, der die welterschütternden Reportagen aus Afrika schreiben wollte und froh ist, wenn seine „Portraits“ irgendwo im hinteren Teil des Lifestyle-Magazins erscheinen, für das er jetzt arbeitet; Karina, deren Leben ein einziges Auf und Ab zwischen diversen Männern, Drogen, abgebrochenen Studien und schließlich später Genugtuung als Anwältin und Geliebte war. Es sind andere, die hier eher am Rand „miterzählt“ werden, deren Leben in einem positiven Sinne verlaufen sind, vielleicht, weil sie unter den Startbedingungen, die sie hatten, nie mit einem „Mehr“ hätten rechnen dürfen? Marios Vater, dessen Schwestern, letztlich auch Karina, die aus den dunkelsten Stunden auferstehen und leben konnte.
Hartmann gelingen dabei Momente und Sätze – am eindringlichsten dort, wo Mario das eigene Scheitern als Vater, als Mann und Autor beschreibt und eingesteht – die tief in den Leser dringen, denen man – lesend – ob ihrer Nüchternheit, Klarheit und Wahrheit hilflos ausgeliefert ist. Momente, in denen sich eben genau jene Zeilen von oben bewahrheiten, daß Literatur ein immer gefährliches Terrain bleibt, weil wir noch so abgebrüht sein oder uns für noch so distanziert gegenüber dem geschriebenen Wort halten können, die Meister werden uns immer wieder überraschen und Winkel unserer Seele entdecken, in denen wir berührt werden, ob wir das wollen oder nicht. Hartmann legt momentweise einen Schmerz offen, seziert einen inwendig, emotional wund geriebenen Menschen in seinen ebenso schmerzhaften wie scheinbar nutzlosen Versuchen, sich die Welt, das Leben, jene Teile des Lebens und der Welt vom Leibe zu halten, denen wir alle möglicherweise am aller schutzlosesten ausgeliefert sind. So geht Literatur.
Und ganz nebenbei – wo der wesentliche Umbruch dieser Geschichte doch in jenen „schicksalhaften“ Jahren 1989/90 spielt – wird uns, den deutschen Lesern dieses klugen Schweizer Autoren, einmal eine Perspektive auf diese angeblich ach so „deutschen“ Jahre geboten, in denen der Mauerfall zwar eine Rolle spielt, jedoch nicht die Zentralperspektive einnimmt, sondern lediglich zum Gradmesser dafür wird, wie weit uns die Welt, in der weiter gehungert, gefoltert und gestorben wurde, durch den nationalen Taumel und die Wiedervereinigungsbesoffenheit entrückt war. Es tut gut, diese Jahre literarisch einmal auf diese Art, diese ganz und gar nicht-deutsche Art und Weise, reflektiert zu bekommen.
Einmal mehr also gelingt Lukas Hartmann ein kleines literarisches Wunder zwischen zeitgeschichtlicher Einordnung politischer Begebenheiten, menschlicher Dramatik vor den Zeitläuften, Introspektion und dies alles serviert in seinem ureigenen literarischen Stil.