DER MANN, DER NIEMALS LEBTE/BODY OF LIES: Postmoderne Spiele mit der Realität
Wie Ridley Scott die Wirklichkeit als Konstruktion geheimer Dienste entlarvt
Die CIA braucht ein Agentennetz im Nahen Osten. Der Agent Roger Ferris (Leonardo Di Caprio), der fließend Arabisch in unterschiedlichen Dialekten spricht, ist vor Ort und versucht, sich in diverse Organisationen einzuschleusen. Er macht vor wenig halt, ist aber der Überzeugung, nur der Einsatz vor Ort, das Vertrauen bestimmter Personen, die Arbeit mit Verbindungsleuten und Spitzeln ermögliche einen Zugriff auf die Ziele, die er und seine Vorgesetzten erfassen wollen. Sein Führungsoffizier ist Ed Hoffman (Russel Crowe), ein nahezu manischer Anhänger aller möglichen technischer Hilfsmittel. Er und Ferris stehen ununterbrochen in Kontakt per Headset und Handy. Ferris wird ununterbrochen durch Satelliten und Drohnen überwacht. Ferris schreckt zwar vor Folter nicht zurück, sieht jedoch auch die Nutzlosigkeit solcher Methoden. Durch gesichertes Material wissen die beiden, daß der Kopf einer neuen Terrororganisation in Jordanien lebt. Ferris geht dorthin und macht die Bekanntschaft von Hani Salaam (Mark Strong), seines Zeichens Chef des jordanischen Geheimdienstes. Er mag Ferris, warnt diesen jedoch auch, er möge ihn, Salaam, niemals belügen. Hoffman führt ein eigenes Kommando durch, das jedoch fehlschlägt und Ferris dadruch in Gefahr bringt. Vor allem verliert er das Vertrauen Salaams. Nun müssen sich Ferris und Hoffman etwas überlegen. Sie beschließen, eine fingierte zweite internationale Terrororganisation zu „gründen“ und bedienen sich dafür eines ahnungslosen Architekten, der plötzlich im Mittelpunkt des Interesses aller möglichen Terroristen steht. So glauben Ferris und Hoffman in Kontakt mit dem von ihnen Gesuchten zu kommen. Ein fingierter Bombenanschlag bringt die Dinge ins Rollen, führt jedoch auch zur Enttarnung von Ferris. Salaam, der sich erneut von Ferris getäuscht glaubt, beginnt nun seinerseits ein Spiel mit mehreren Variablen, von denen eine eben Ferris heißt…
BODY OF LIES erinnerte viele bei seinem Erscheinen 2008 an den Politthriller SYRIANA (2005). Beide behandeln ein teils ähnliches Sujet – die Arbeit westlicher Agenten vor Ort im Nahen Osten. Die Bedingungen einer dem Westen vollkommen fremden Kultur und Religion, die Machenschaften verschiedenster Organisationen und deren Verflechtungen. Die Unterschiede bleiben jedoch unübersehbar. SYRIANA setzt das Treiben der Dienste in einen weiten und sehr unübersichtlichen Kontext, macht es zum Teil eines potentiell unendlichen Netzes aus Organisationen, Regierungen, Gesellschaften, Konzernen, Stiftungen, Banken und Privatpersonen. Ridley Scott hingegen erzählt aus einer Welt, in der es scheinbar nur geheime Kräfte gibt. Eine Welt, die von Betrug und Verrat, Täuschung und Wirklichkeitsvarianten geprägt ist. Vielleicht ist es sogar eine Welt, die in dieser Form überhaupt erst von den Diensten erschaffen wurde?
Politik als Movens oder auch nur Deckmantel für geheime Operationen fällt hier vollkommen aus. Nicht einmal – auch darin unterscheidet sich BODY OF LIES deutlich vom anderen Film – die Wirtschaft hält hier noch her als große Triebkraft hinter all dem Spionieren, Töten und Vernichten. Hier, so scheint es, hat man es mit einer Welt zu tun, in der sich die Geheimkräfte längst verselbständigt haben. Sinn ihres Daseins sind ausschließlich sie selbst. Wenn es sein muß, liefern sie den Grund für ihre Arbeit dann auch gleich selber, indem sie inszenieren, wovor sie angeblich schützen und bewahren sollen. Ed Hoffman, der immer, ununterbrochen – beim Autofahren, Einkaufen, beim Spielen mit den Kindern, am Abendbrottisch – über ein Headset in Verbindung zu seiner geheimen, seiner eigentlichen Welt steht und auch ununterbrochen an der Kommunikation mit ihr teilnimmt, wirkt in seinem fast jungenhaften Eifer wie eine Kind, das die tollsten Spielsachen der Welt zur Verfügung hat – Drohnen, Satelliten und Menschen, die er nach Lust und Laune hin und her schieben kann, dabei aber schon lange verlernt hat, was die Wirklichkeit da draußen vorm Fenster bedeutet. Ferris ist in diesem postmodernen Szenario so etwas wie ein Relikt aus den Tagen, da Agenten noch selbstständig und auf eigene Faust handelten. ‚Old school‘, sozusagen. Ed Hoffman ist der Prototyp des postmodernen Kriegers: Seinen Zielen entrückt, distanziert zu dem, was er tut, tötet er und läßt töten, als hätte er es mit einem überdimensionierten Computerspiel zu tun. Und Crowe spielt ihn auch so: Etwas verschwurbelt und zynisch, hochbegabt und ausgestattet mit der Aufmerksamkeitsspanne eines ADHSlers, sitzt dieser „Techniknerd“ vor seinen riesigen Bildschirmen und folgt einem Echtzeitspiel „da draußen“, das er steuert, dessen Regeln er bestimmt und das ihn von jetzt auf gleich nicht mehr interessiert, wenn seine „Bedürfnisse“ – also sein Wissensdurst – gestillt sind. Daß Menschen sterben, scheint ihm ein empathisch nicht nachzuvollziehender aber unvermeidlicher Nebeneffekt. Wenn er dann – zweimal im Film – selbst vor Ort erscheinen muß, da seine Pläne schief gelaufen sind, wirkt er vollkommen deplatziert. Der natürliche Ort dieses Typus ist der Sitz vorm Rechner. Die reale Welt existiert in ihrer materiellen Form nur indirekt für einen Ed Hoffman und mit ihr konfrontiert, versteht er sie nicht nur nicht, sie macht ihm auch Angst, da sie sich ihm widersetzt. Ein Affront für seine medial befeuerten Allmachtsphantasien.
Dieser Ed Hoffman, so scheint es, ist auch die heimliche Hauptfigur dieses Films. Ridley Scott, und mit ihm Roger Ferris, wechselt die Schauplätze wie es sonst nur James-Bond-Filme tun. Doch an den Strippen eines Mannes wie Hoffman wirkt das alles vollkommen plausibel. Auch hier kommt zum Ausdruck, daß dies ein durch und durch postmodernes Spiel ist – sowohl inhaltlich, als auch auf der Leinwand. Ein postmoderner Film, der aus einer postmodernen Welt erzählt. Daß dann Schauplätze wie Handlungsstränge ständig wechseln, entspricht der Fragmentierung dieser Welt in ihren digitalen Schemata. Es entspricht aber auch der Handlungslogik eines Videospiels, eher noch der eines Traums. Die Postmoderne wird von ihren eigenen Gespenstern heimgesucht – was als Traum von der Befreiung selbst von Raum und Zeit begann, endet in grausigstem Surrealismus. Der virtuelle Raum frisst den materiellen.
Ridley Scott ist ein spannender Action/Agententhriller gelungen. Scott versteht es, sein Publikum zu unterhalten und zugleich bis ins Mark zu erschüttern. Eine seltene Gabe. Dabei stellt er manchmal unbequeme Fragen und formuliert durchaus gewagte Thesen, entwirft gewagte Zukunfts- oder Gesellschaftsszenarien. Gerade in den vergangenen Jahren wendete er sich vermehrt Fragen von Religion und deren Transfer in politisches Handeln zu. Das vorneweg. Zu allem Militärischen hegt Scott zudem ein recht ambivalentes Verhältnis. Ob in G.I. JANE (1997) oder in BLACK HAWK DOWN (2001), ob in GLADIATOR (2000) oder KINGDOM OF HEAVEN (2005) – immer wieder zeigt er Militär im Einsatz. Von den antiken über die mittelalterlichen zu den Gemetzeln jüngeren Datums – und nun stehen wir hier, im Cyberkrieg.
Es wurde Scott vorgeworfen, eine Figur wie Ed Hoffman zu verherrlichen. Doch was gäbe es da zu verherrlichen? Ed Hoffman als perfektes Produkt seiner Zeit, steht viel zu sehr im Einklang mit all jenen im Publikum, die ein ‚iphone‘ oder ‚smartphone‘ ihr Eigen nennen. Also mit nahezu jedem dort. Ed ist uns recht ähnlich, er ist uns zu nah. Der Unterschied zwischen uns und ihm ist marginal: Wir ballern auf Pixel, was er ebenfalls tut, seine Treffer zeigen aber mehr Wirkung. Ed Hoffman ist eine faszinierende Gestalt. Wir erkennen etwas von uns in ihm, auch etwas, das wir alle gern sein wollen, ein wenig: Ein Gott, der Erschaffer von Welten, Herr über Leben und Tod. Erschreckend, wenn wir dann sehen müssen, daß es ein manchmal bockiger Mensch, ein zu groß geratener Bengel ist, der da zu Werke geht. Und möglicherweise ist es das, was uns an der Darstellung stört: So sympathisch er erscheinen kann, so scheint nach unseren Maßstäben auch böse zu sein. Seine Spiele mit doppeltem Boden, die immer nur für andere gefährlich, ja potentiell tödlich sind, die Unbekümmertheit, mit der er die brutalen Konsequenzen zur Kenntnis nimmt, die sein Tun hat – Eds Selbstsicherheit nährt den Verdacht, daß „unsere Maßstäbe“ in der Welt, wie Ed sie erschaffen hat, in der er lebt und sich zuhause fühlt, in die er uns nach der Logik des Films immer weiter hineinzieht, gar keinen Wert haben. Diese unsere Maßstäbe hat eine menschliche Gemeinschaft, wie Scott sie präsentiert, lang schon hinter sich gelassen. Diese Maßstäbe sind lediglich Mittel zum Zweck, wie eine Drohne oder ein Satellit. Spielzeug in den Händen der Hobbygötter.
Indem BODY OF LIES ein verzwicktes Geflecht verschiedener inhaltlicher wie formaler und stilistischer Ebenen bietet, verdeutlicht er sein eigenes Konstruiert-Sein, entlarvt damit sein Film-Sein und dreht eine letzte Pirouette, indem er nicht nur dazu steht, sondern vielmehr die Frage an sein Publikum richtet, ob die Wirklichkeit selbst nichts weiter als eine mediale Konstruktion sei. Das Konstrukt des Films, seine hanebüchene Handlungsebene, korrespondiert mit eben jenen Wirklichkeitskonstruktionen, die Hoffman und Ferris ersinnen. Sich selbst befeuernde Systeme allenthalben, paranoide Realitätserfahrung, die sich ununterbrochen ihre eigene Evidenz schafft. Ferris kann sich zwar an eine erfahrbare Realität klammern, sich wirklich frei bewegen kann er nicht. Die Möglichkeiten moderner Überwachung sind ebenso faszinierend, wie sie uns kalte Schauer über den Rücken schicken. Obwohl Ferris die vermeintlichen Abenteuer erlebt, hängt er an Hoffmans Fäden. Totale Überwachung macht es möglich. So korrespondiert Ferris räumliche Beweglichkeit mit einer eigentlichen, virtuellen Gefangenheit. Scott schließt an die Mediendiskurse seiner Zeit an, Baudrillard läßt grüßen. Der Skandal für den Zuschauer, Scotts Provokation, liegt darin, daß sich Regisseur wie Werk jedweder Bewertung des Geschehens enthalten. Fast kühl erzählt er seine Story, aus der Halbtotalen, wenn man so will. Im letzten Drittel des Films kippt der Plot dann in eine reine Spannungshandlung mit allen Elementen, die ein intensiver und auch actiongeladener Polit-Thriller eben braucht. Das ist dem Genre geschuldet. Doch was zuvor geschieht, wird ebenso kritisch in seiner Wirkung zelebriert, wie es ob seiner Ästhetik des reinen Machtspiels und Verrats bewundert wird. Scott zieht eine gewisse machiavellistische Ebene ein. Machtspiele als Lustspiele.
So kritisch der Film an seiner Basis wirken mag, kann er seine Faszination an den technischen Spielereien und Möglichkeiten kaum verbergen. Ein Filmemacher räsoniert über die technischen Bedingungen der Postmoderne hinsichtlich seines Arbeitsgeräts. Wie sollte da eine wirklich kritische Distanz zustande kommen? Es ist dann eben auch das vergleichsweise ungetrübte Verhältnis zu allem Technischen einerseits, mehr aber noch die Darstellung der Araber andererseits, was an diesem Film bitter aufstößt. Obwohl Scott ein an sich vorsichtiger, nachdenklicher und durchaus dem Fremden gegenüber zumindest neugieriger Künstler ist – obwohl er bereits 1989 einzelne Vorwürfe des Rassismus gegenüber seinem Werk BLACK RAIN (1989) abwehren musste, ebenso im Jahr 2000 in Bezug auf BLACK HAWK DOWN und die Darstellung der Somalis – und obwohl er in seinem eigenen Werk KINGDOM OF HEAVEN ein ausgesprochen differenziertes Bild der arabischen Kultur und ihrer Angehörigen zeichnet, tut er sich in BODY OF LIES in der Darstellung der Araber schwer. Sie bleiben eine vergleichsweise gesichtslose Masse, da ähnelt Scotts Film vielen seiner Zeitgenossen, wie etwa RULES OF ENGAGEMENT (2000) oder ZERO DARK THIRTY (2012). Mag ein Mann wie Hani Salaam (Mark Strong) neben Hoffman auch ein gleichberechtigter Spieler im Spiel der geheimen Mächte sein, dem ein mindestens so verschlagenes strategisches und taktisches Gespür zugeschrieben wird, wie seinem amerikanischen Pendant – bedenkt man, daß drei Viertel des Films in arabischen Ländern spielen, daß Ferris hier eigentlich der Fremdkörper ist, obwohl er Sprache und Kultur versteht, muß man konstatieren, daß die Araber im Film zumeist Staffage bleiben, bedrohlich wirken und ihre Darstellung, die Inszenierung, wenig Raum für gegenteilige Interpretation läßt. 2008 lag der Schock des 11. September schon einige Zeit hinter uns allen, dennoch bedient Ridley Scott unkritisch das Bild des verschlagenen Arabers, der undurchschaubar und hinterhältig dauernd Böses im Schilde führt. Mag sein, daß das Bild der islamischen Religion und des Moslems im Westen derart gelitten haben, ein Künstler wie Scott sollte es eigentlich besser wissen.
BODY OF LIES ist ein Paradebeispiel der doppelbödig-ambivalenten Kriegs- und Agentenfilme des neuen Jahrtausends. Ebenso doppel- wie uneindeutig, bedient er Propaganda und Kritik zugleich, postuliert den Krieg, so wie er ihn darstellt, als ununterbrochenes Spiel geheimer Kräfte, deren Mittel, Methoden und vor allem Motive nicht mehr nachvollziehbar sind. Mehr als daß der Film sein Sujet kritisch darstellte, zeigt er sich fasziniert und eingenommen davon, macht sich zugleich aber über uns alle lustig, die wir uns dieser Mittel bedienen, denkend, wir täten ja das richtige, weil wir diese Mittel schließlich zivil nutzen. Genau diese Lesart der postmodernen Entwicklung stellt Scott allerdings als Lüge aus. Wie so oft, ist dem Briten ein packender, interessanter, intensiver, aber momentweise eben auch ärgerlicher Film gelungen. Er fordert uns heraus, unsere Zeit erneut unter anderen Aspekten und Vorzeichen zu untersuchen.