I…WIE IKARUS/I…COMME ICARE
Engagierter Politthriller, der leider an den Rändern ausfranst
1979, sechzehn Jahre, nachdem es real stattgefunden hatte, nutzte der sonst in seiner Karriere auf Actionunterhaltung spezialisierte Henri Verneuil das Attentat auf John F. Kennedy als Grundlage der Analyse sich verselbstständigender Kräfte – Geheimdienste, Geheimbünde – , denen es gelingen könnte, einen Staat im Staat zu etablieren, der die eigentliche Macht ausübt, soweit, nicht genehme Politiker – auch Staatspräsidenten – ausschalten zu lassen. Nach dem ebenso eigenwillig wie spannend inszenierten Attentat, das im Ablauf jenem auf den amerikanischen Präsidenten 1963 erstaunlich getreu nachgestellt ist, setzt die eigentliche Handlung damit ein, daß der Oberstaatsanwalt Volney seine Signatur verweigert unter dem Abschlußbericht der Kommission, die das Attentat auf den Präsidenten untersuchte. In einem Fernsehstudio sitzen sich Volney und die sechs anderen Mitglieder der Kommission gegenüber und der Staatsanwalt erklärt seine Bedenken und Zweifel. Schließlich formuliert er einen Katalog von Fragen, die aus seiner Sicht bisher nicht zufriedenstellend beantwortet wurden. Nun hat er das Recht, eine neue Untersuchung durchzuführen. Er und sein Team fangen praktisch von vorn an…
Ein sichtlich engagierter Yves Montand spielt diesen Mann, Henri Volnay, mit einer Nüchternheit und einer Prise Humor exakt an der richtigen Stelle, so daß der Zuschauer es ihm allein zu verdanken hat, während der zwei Stunden Laufzeit des Films nicht an der Kälte, die der dargestellte Staat ausstrahlt, erfroren zu sein. Umso drastischer und schockierender das Ende. Volnay gibt uns die Chance, momentweise daran zu glauben, man könne den Machenschaften des Staates auf die Spur kommen, könne mit den Mitteln des Rechtsstaats Aufklärung fordern und erlangen. Doch auch dieser so überzeugte Mann ist schließlich bereit, zu unlauteren Mitteln zu greifen, um an Information zu gelangen. Der, der das Spiel dreckig spielt, gibt zwangsläufig die Regeln vor – und die können sich permanent ändern, wie selbst jene feststellen müssen, die unmittelbar beteiligt waren und meinten, die Regeln aufzustellen. Langsam entblättert sich vor Volnay das Muster einer Wahrheit, ohne daß es ihm je gelänge, wirklich zu durchschauen, womit oder mit wem er es zu tun hat. Die Dienste sind involviert, vielleicht auch mit diesen verbandelte Außenstehende. Bis weit in die Aufdeckung der Filmverschwörung hinein hält sich das Drehbuch an all jene Widersprüche, mit denen der Warren-Report in realitas konfrontiert war: Bildfälschungen, verschwundene Zeugen, Privatfilme, die im Widerspruch zu offiziellen Aussagen stehen usw. So hat man es mit einem unterschwelligen Bedrohungsgefühl zu tun, welches der Film gut aufrecht zu erhalten weiß. Nach und nach werden die weiten Horizonte, die uns die Panoramascheiben der Büros bieten, in denen der Film größtenteils spielt, und die ein Gefühl von Freiheit vermitteln könnten, immer bedrohlicher, wirken die Protagonisten vor jedem weit gefassten Fenster wie ausgestellt und ohne Deckung. Zugleich aber beschleicht den Betrachter das Gefühl, wer auch immer hinter all dem steckt, hat die Ruhe weg. Niemand scheint diesen eifrigen Staatsanwalt wirklich zu fürchten.
Verneuil findet exakte Bilder für seine Parabel: kalt, transparent, distanziert. Durch besagte Panoramascheiben sehen wir immer wieder die Skyline einer Stadt, die nie näher benannt wird, so wie auch das hier beschriebene Land keinen Namen trägt. Ein technokratischer Staat westlicher Prägung im letzten Drittel des 20. Jhd. Man spricht Französisch, zahlt wohl in Dollar und Cent und die Flagge erinnert an ein der Trikolore verfallenes Stars’n’Stripes-Banner. Die vermeintlich besten Errungenschaften des Abendlandes vereint in einem in Bürokratie erstarrten Staatswesen, dessen Institutionen sich verselbstständigt zu haben scheinen? I…COMME ICARE (1979) nähert sich thematisch, inhaltlich und ideologisch sehr den damals gängigen linken Verschwörungstheorien. Möglicherweise ist dies eher den Interessen seines Hauptdarstellers Montand zu verdanken, wollte Verneuil, was man deutlich merkt, doch wohl vor allem einen spannenden Thriller im Politmilieu erzählen. Montand, von vielen als Salonsozialist verlacht, hatte zu Beginn der Dekade gemeinsam mit Constantin Costa-Gavras und Jorge Semprún an zwei, bzw. drei Projekten zusammen gearbeitet, die heute als Klassiker des politischen Films gelten: Z (1969), L` AVEU (DAS GESTÄNDNIS; 1970); gemeinsam mit Costa-Gavras auch den experimentelleren ÉTAT DE SIÈGE (DER UNSICHTBARE AUFSTAND; 1972). Mag sein, daß es ihn zum Ende dieses blutigen, ideologischen Jahrzehnts noch einmal bewog, einen politischen Film zu drehen, eine Art Fazit, der sich das Attentat auf Kennedy und eine bestimmte, gängige Sichtweise auf die Apparate, die dahinter stecken mochten, zunutze macht, um eine Gesellschaft zu analysieren, die sich in ihrem Autoritätsglauben eingerichtet hat.
Doch so sehr der Film formal die Atmosphäre zu halten und auch zu verstärken weiß, inhaltlich merkt man nach gut der Hälfte, daß den Machern nicht wirklich klar ist, wohin sie wollen. Das Ganze wird von Beginn an als Ermittlung aufgezogen, wobei die Geschichte vom angeblichen Einzeltäter Lee Harvey Oswald bis hin zu jenem gefälschten Foto, das ihn mit dem Gewehr posierend zeigt, dazu dient, das grobe Handlungsgerüst aufzubauen. Dieser Einzeltäter hier bleibt letztlich blaß, doch er ist deutlich ein Sündenbock. Wir sehen sogar, daß er, nachdem er seine Part gespielt hat, getötet wird. Doch taucht er in einem Programm auf, daß dem Milgram-Experiment nachempfunden ist. Daraus scheint der Film dann abzuleiten, daß es die Gleichgültigkeit, die Autoritätshörigkeit des durchschnittlichen Normalbürgers sei, die überhaupt erst ein solches Attentat begünstigt. In einer langen Szene, die das berühmt-berüchtigte Experiment von 1961 nachstellt, wird dem Zuschauer noch einmal erklärt, worum es geht: Da soll eine Versuchsperson eine andere bestrafen, wenn diese gewisse Lernaufgaben nicht zufriedenstellend löst. Der Staatsanwalt Volnay wohnt dem Experiment bei, begehrt aber schließlich auf, das sei ja nicht zu ertragen. Daraufhin erklärt der Wissenschaftler, der die Leitung über das Verfahren hat, daß der Bestrafte Teil des Teams sei und lediglich der Bestrafende eine Versuchsperson. Eigentlich würde hier erprobt, wie weit Menschen aus Befehlsgehorsam und Autoritätsgläubigkeit zu gehen bereit sind. Und auch Volnay habe sich erst zu einem recht späten Zeitpunkt erregt. Der Staatsanwalt muß begreifen, daß auch er – selber Teil einer staatlichen Institution, selber eine Autorität – genau den gleichen Gesetzen gehorcht: Wenn eine anerkannte Autorität etwas befiehlt, dauert es lange, sehr lange, bis wir bereit sind, sowohl die Autorität als auch die Anweisung in Frage zu stellen. Obwohl der Film nie eine Erklärung für oder gar echte Aufklärung des Komplotts liefert, verstehen wir doch, daß der vermeintliche Attentäter Teil der Verschwörung gewesen sein muß. Er ist freiwillig auf das Dach gegangen, von wo aus er geschossen haben soll, er hat dort eine Waffe vorgefunden, er wusste, wo sie lag etc. Dem Staatsanwalt wird zumindest dies ganz deutlich: Der Mann wusste, was gespielt wird, er wusste nur nicht, welche Rolle für ihn bestimmt war.
I…COMME ICARE konstruiert daraus einen Teil der Erklärung dafür, daß ein Attentat, wie jenes auf „den Präsidenten“, das, so heißt es an einer Stelle des Films, einem Staatsstreich gleichkomme, überhaupt möglich sei. Der Attentäter, der schließlich doch nur ein Sündenbock ist, konnte nur in diese Lage geraten, weil er so autoritätsgläubig sei. Es ist ein interessanter Gedankengang, nähme man doch zunächst an, daß ein Attentat auf den Präsidenten maximalen Ungehorsam bedeutet. Sicherlich ist aber etwas an der Aussage dran, daß ein Staatstreich solcher Art eben nur möglich ist, wenn die Bevölkerung sich ruhig verhält. Man könnte auch sagen: Wie sediert. Anders als Costa-Gavras teils erschütternde Filme, wirkt I…COMME ICARE bei allem Bemühen um eine politische Dimension jedoch oft wie angerissen und nicht ausgeführt. Dennoch gelingt Verneuil, zu dem Zeitpunkt immerhin enorm erfolgreich mit Belmondovehikeln wie PEUR SUR LA VILLE (ANGST ÜBER DER STADT;1975) oder LE CORPS DE MON ENNEMI (DER KÖRPER MEINES FEINDES; 1976), ein ungeheuer spannender, in seiner Analyse trotz aller Einwände zwingender Politthriller, den anzuschauen auch heute noch lohnt.