MONSTER/MIFLETZET HAZICHARON

Wer spricht? Ein kontroverser Text zur Stellung des Erinnerns

Gerade aktuell: Eine Amerikanerin schreibt über Einwanderer aus Mexiko. Und die Proteste reißen nicht ab. Warum? Weil die Autorin sich eine Perspektive aneignet, die sie nicht aus eigener Anschauung kennt. Auf ihren Kern reduziert, steht die Frage im Raum: Wer spricht? Wer äußert sich zu welchem Thema in welcher Tonart? Und steht es jedem in gleichem Maße zu, sich zu jedem Thema zu äußern? In Zeiten der vermeintlich absoluten Meinungsfreiheit, die so viele so bedroht sehen, werden die Antworten grober. Jeder sollte zu allem seine Meinung sagen dürfen, egal wie prekär das Thema, egal wie komplex der Kontext ist. Und im Grunde ist diese Haltung ja auch richtig. Sie entbehrt nur gelegentlich der Empathie, die gewisse Themen verlangen. Zugleich ist aber auch zu spüren, wie viele es leid sind, sich in die Schwierigkeiten bestimmter Standpunkte, in die Wesentlichkeit bestimmter Themen einzudenken. Einfache Standpunkte scheinen gefragt zu sein.

Yishai Sarid ist ein israelischer Autor jüdischen Glaubens. Er schreibt den Roman MONSTER (MIFLETZET HAZICHARON; Original erschienen 2017) in Form eines Rechenschaftsberichts, den ein Historiker, der regelmäßig israelische Schulklassen in die ehemaligen Todeslager in Polen begleitet, verfassen soll, weil es bei seinem letzten Auftrag – er sollte einen deutschen Regisseur begleiten, der einen Film über „Auschwitz“ zu drehen gedenkt – zu einem Zwischenfall gekommen ist. Der namenlose Berichterstatter hat den Deutschen geschlagen. Wie konnte es dazu kommen? Auf den knapp 174 Seiten versucht der Verfasser sich zu erklären. Er erklärt, wie die Reisen in die ehemaligen Konzentrationslager immer mehr an seiner Seele fraßen, wie er die Schüler wahrgenommen hat, wie er den Umgang mit den Polen wahrgenommen hat, wie die oft wochen- oder gar monatelangen Trennungen von seiner Frau und seinem Kind die Familie belasteten, wie ihm seine Arbeit und deren scheinbare Vergeblichkeit immer weiter in eine Verbitterung getrieben haben, die auch vor den eigenen Leuten, dem eigenen Volk, der eigenen Glaubensgemeinschaft nicht Halt gemacht hat. Er beschreibt, wie der Holocaust, die Shoah, mehr und mehr zu einer Art Label geworden ist, aus der jeder die für sich geeignete Position ableitet. Und zugleich muß er sich eingestehen, daß er selber nicht nur Nutznießer dieses Labels geworden ist, da ihm seine Reisen ein gutes Einkommen beschert haben, sondern daß er in eine Abhängigkeit von seinem Arbeitgeber – der Erinnerungsstätte Yad Vashem – geraten ist, die mit Dankbarkeit, aber vor allem auch mit Eitelkeit zu tun hat. Hier fand er die Anerkennung, die er sich gewünscht hat, er, der nie Historiker der Shoah werden wollte. So wurde er ein guter Erzähler des Grauens, das er nicht erleben musste, das auch für ihn ein Narrativ ist, welches sich aus Hunderten, Tausenden Seiten erlesenen Wissens zusammensetzt.

Wer spricht? Im Jahr 2000 erschien das Buch DIE HOLOCAUST-INDUSTRIE. WIE DAS LEIDEN DER JUDEN AUSGENUTZT WIRD (THE HOLOCAUST INDUSTRY. REFLECTIONS ON THE EXPLOITATION OF JEWISH SUFFERING; 2000) von Norman Finkelstein und löste eine erbitterte Kontroverse aus. Vor allem die Kernthese, daß das amerikanische Judentum den Holocaust erst spät „entdeckt“ und dann begonnen habe, daraus eine ertragreiche Industrie aus Schuld und Komplexen zu generieren, sorgte für ungeheure Aufregung und ebensolchen Unmut. Die Debatte kann man nicht neu auflegen, im Kontext mit Sarids Buch ist sie aber aufschlußreich, weil auch hier die Frage „Wer Spricht?“ maßgeblich war. Daß es mit Finkelstein ein Politikwissenschaftler jüdischen Glaubens war, dessen Angehörige ebenfalls Opfer in den Todeslagern geworden sind, machte es so schwer erträglich, eine Haltung einzunehmen. Ganz besonders für Deutsche. Finkelstein bediente teils die Narrative der Leugner der Shoah – es habe viel weniger Tote gegeben, als behauptet, war eine dieser Aussagen. Zudem stellte Finkelstein die Singularität der Shoah in Frage. Wie nicht anders zu erwarten, wurde er damit in Kreisen gewürdigt, denen er sicherlich weder nahestand, noch nahestehen wollte. Es war seine Position als Jude, die seine Haltung für alle Teilnehmer an der Kontroverse so schwierig machte. Denn es ist etwas fundamental anderes, ob ein Mensch jüdischen Glaubens oder ein Relativist aus England, wie der „Historiker“ David Irving, eine solche Behauptung aufstellt. Oder gar ein Deutscher.

Iris Hanika veröffentlichte im Jahr 2010 den Roman DAS EIGENTLICHE. Hier wurde es schon schwieriger, der Autorin in ihrem Urteil zu folgen. Man verstand sehr wohl, welches Anliegen sich hier auszudrücken anschickte, verzweifelte aber doch an der Form und dem Stil des Werks. Letztlich blieb der Eindruck, daß auch jene, die sich der Erinnerungskultur verschrieben haben, aus rein egoistischen, meist psychologisch zu erklärenden Gründen handeln. Ein wenig wurde man das Gefühl nicht los, daß hier auf eine besonders subversive Art die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ nicht nur in Frage gestellt, sondern schon ein wenig der Lächerlichkeit preisgegeben wurde. Und auch in Hanikas Text klingt immer wieder der Vorwurf der kommerziellen Ausbeutung eines Menschheitsverbrechens an. Doch Hanika ist Deutsche, sie ist (soweit dem Rezensenten bekannt) keine Jüdin. Und sofort steht da wieder die Frage im Raum, wer spricht? Es verwundert übrigens nicht, daß sich ihr Buch auf der Lektüreliste zu einem Seminar findet, das im Institut für Staatspolitik abgehalten wurde, jener Kaderschmiede, die der selbsternannte Vordenker der „Neuen Rechten“, Götz Kubitschek, im sachsen-anhaltinischen Schnellroda errichtet hat. Aber gut, seine Leser kann man sich nicht aussuchen.

Wozu nun dieser Exkurs? Weil auch in Sarids Roman die oben aufgeworfenen Fragen und Themen anklingen. Und man doch zugleich ein ganz anderes Ringen spürt. Ein Ringen mit der Geschichte, die nicht wirklich die eigene ist in dem Sinne, daß man erlebt hat, wovon man spricht, und doch immer die eigene bleibt, gerade dann, wenn man Hinterbliebener der Opfer ist. Aber eben auch ein Ringen damit, wie das Erinnern institutionalisiert wird, wie Bürokratie und der Alltag des Erinnerns, den es zumindest für den Erzähler gibt, das „Eigentliche“ längst überdecken. Und schließlich ein Ringen mit der Erkenntnis, wie die Erinnerung für gegenwärtige Probleme instrumentalisiert wird – auch von den eigenen Leuten. In einer der aufwühlendsten Szenen des Buches wird beschrieben, wie Schüler das, was ihren Vorfahren angetan wurde, als Blaupause nehmen, um das Verhalten Israels gegenüber seinen heutigen Gegnern und Feinden nicht nur zu rechtfertigen, sondern sogar mehr Härte einzufordern. So wird hier nicht nur das Wachhalten der Erinnerung beschrieben und hinterfragt, sondern auf schmerzliche Weise auch die Verflechtung des Geschehenen mit der Gegenwart (und Zukunft) verdeutlicht. Was den Leser unweigerlich zu der Frage bringt: Wer liest? Wie liest diesen Text ein Deutscher? Wie liest ihn ein Israeli, wie ein Amerikaner, wie ein amerikanischer Jude? Wie liest ein Palästinenser einen solchen Text?

Nüchtern, nur selten von Emotionen aufgerührt, in einem manchmal schwer erträglichen, weil fast anbiedernden Stil, versucht der Erzähler seinem Vorgesetzten in Yad Vashem zu erklären, wieso es zu jenem Schlag kam, den er gegen den deutschen Regisseur führte. Warum er selbst, am Ort jener unbegreiflichen Gewalt, zu einem gewalttätigen Mittel greifen musste. Und er musste, das macht uns dieser Text klar. Mehr, als uns lieb sein kann.

Sarids literarische Qualität liegt darin, wie es ihm gelingt, die dem Erzähler eigenen Verletztheiten, seine Zweifel und auch seine Eitelkeit nie auszustellen, gar zu denunzieren, indem er sie karikiert oder überspitzt, sondern eher in Nebensätzen anklingen, zwischen den Zeilen hindurchschimmern zu lassen. Da entsteht eine feine Textur, ein Bericht, der genaues Lesen erfordert. Es ist ein schwieriges Erzählen, weil es Fragen aufwirft, aber im Grunde nie Antworten bietet. Nur den Schmerz der Unzulänglichkeit, mit einer nie vergehenden Geschichte umzugehen, die dem nahe kommt, was man in Ermangelung eines besseren Wortes gern „das Böse“ nennt. Ist der eine Schlag gegen die Millionen Toten aufzurechnen? War er gerechtfertigt? Oder entspricht er an sich schon dem Übertreten einer roten Linie, die zu halten uns die Menschlichkeit, unser Festhalten an der Zivilisation, so desavouiert sie uns auch erscheinen mag, gebietet?

Es fällt scheinbar leichter, wenn es ein israelischer, ein jüdischer Autor ist, der diese Fragen aufwirft. Aber das täuscht. Was man vielleicht im hintersten Winkel seines Geistes als Entlastung empfinden möchte, wird durchkreuzt. Denn als nicht-jüdischer Leser wird man auch auf diesen Seiten viel zu deutlich mit der Frage der Täterschaft und der eigenen Haltung dazu konfrontiert, als daß man sich in irgendeiner Weise entlasten könnte.

Wer spricht?

Wer liest?

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