DER TOD IN ROM
Koeppens grandioser, erschreckender, brutaler Abschluß der "Trilogie des Scheiterns"
1954 erschien mit DER TOD IN ROM der abschließende Band der sogenannten „Trilogie des Scheiterns“ von Wolfgang Koeppen. Hatte er sich im ersten Roman TAUBEN IM GRAS (1951) mit den gesellschaftlichen Auswirkungen und Kontinuitäten nach 1945 beschäftigt, damit, wie die Bourgeoisie langsam wieder Fuß fasste und dabei gern vergaß, was eben noch gewesen war, wurden diese Entwicklungen im zweiten Band, DAS TREIBHAUS (1953), im spezifisch politischen Umfeld der neuen bundesrepublikanischen Hauptstadt Bonn untersucht. Nun war der Gegenstand des Romans die Familie,die Keimzelle, das angebliche Ur-System aller Gesellschaften, in dessen Gemengelage sich Terror, Verbrechen, Pein, Not und Kontinuität eingefressen hatten, spiegelten und durch den Autor analysiert wurden.
In den frühen 50er Jahren – eine Zeitungsschlagzeile berichtet uns, die „Dschungelfestung“ sei gefallen, was auf das Jahr 1954 hindeutet, in dem die Schlacht um Điện Biên Phủ die entscheidende Wende im Indochinakrieg der Franzosen brachte – trifft sich in Rom die Familie Pfaffrath mit dem Onkel Judejahn, einem untergetauchten SS-General. Seine Gattin Eva und die gemeinsamen Söhne Dietrich und Adolf sind mitgereist, um den tot geglaubten Ehemann und Vater zu treffen, obwohl sie aus verschiedenen Gründen vor der Begegnung auch zurückschrecken. Eva, selbst eine überzeugte Nationalsozialistin, die ernsthaft am Untergang Deutschlands und dem Tod des Führers leidet, fragt sich, ob ihr Mann ihr tot nicht lieber wäre – als Held im nordischen Walhalla, wo sie, dezidierte Nicht -, wenn nicht gar Anti-Christin, die Gefallenen des Nazi-Regimes sich vorzustellen beliebt. Pfaffrath, mittlerweile Oberbürgermeister einer westdeutschen Gemeinde, glaubt, den Schwager durch seine Beziehungen wieder nach Deutschland holen zu können. Derweil weilt sein Sohn Siegfried zufällig ebenfalls in Rom. Er ist ein moderner Komponist, dessen Werk durch den dem Nazi-Terror entkommenen Dirigenten Kürenberg in der ewigen Stadt aufgeführt werden soll. Judejahns Söhne, Absolventen einer nationalsozialistischen Eliteschule, vor allem Adolf, der in Anbetracht der Schrecken des 2. Weltkrieges und des Holocaust Priester geworden ist, scheuen das Wiedersehen mit dem übermächtigen Vater aus ganz unterschiedlichen Gründen. Und Judejahn selbst, nach wie vor überzeugter Nazi, der im Mittleren Osten als Berater und Waffenlieferant für diverse Regime tätig ist, verachtet nicht nur seine Schwägerin und deren Gatten, sondern auch die eigenen Nachkommen, da diese sich mit der neuen, „lauen“ Zeit arrangiert haben. Selbst ist und bleibt er stolz auf das Geleistete. Er wünscht sich neue, todbringende Kriege herbei, nicht nur, um weiterhin ein heldisches, soldatisches Leben führen zu können, sondern weil er im Krieg eine Art Transzendenz des menschlichen, anthropologischen Daseins erblickt und erfahren zu haben glaubt.
Waren die Vorgänger eher leise Romane, nicht zuletzt auch literarische Experimente, in denen Wolfgang Koeppen sich an Versatzstücken der literarischen Moderne versuchte, treten diese Elemente in DER TOD IN ROM zugunsten eines wütenden, ja zornigen, manchmal ungezügelten Schreibens zurück. Auch hier gibt es noch Brüche und abrupte Wechsel zwischen subjektiver und auktorialer Erzählperspektive, manchmal fast ohne erkennbaren Übergang, es gibt an die spätere Cut-Up-Technik erinnernde Sprünge zwischen Schauplätzen und Personen, um Gleichzeitigkeit zu simulieren, auch ein freies Spiel mit der Interpunktion, aber all das nimmt weniger Raum ein, als in den Vorgängern, drängt sich weniger auf und tritt im Rahmen der Erzählung zurück, wenn der Stil sich nicht gar in den Dienst des Erzählens stellt. Offenbar war es dem Autor hier um die Klarheit und Verständlichkeit zu tun, mit der die Ungeheuerlichkeit des faschistischen Kontinuums beschrieben werden sollte. Koeppen bedient sich dabei durchaus auch einer Vulgärsprache, lässt den SS-General Judejahn offen, manchmal obsessiv über Bordellbesuche und „Judenhuren“ berichten, die einem deutschen Mann zur Verfügung gestanden hätten, macht wenig Aufhebens um Komißsprache und derbe Schimpferei und Beleidigungen. Ebenso – und das ist doch weitaus interessanter – lässt er Judejahn offen über dessen Taten während des Krieges berichten. Ob Massenerschießungen, Kriegsverbrechen, Vergeltungsmaßnahmen an Zivilisten und vor allem eine unfassbare Verachtung gegenüber allen, die als „minderwertig“ – ob Juden, „Neger“, „Zigeuner“ o.a. – erachtet werden, nichts lässt Koeppen aus. Schwer erträglich ist das während der Lektüre und doch wahrscheinlich sehr, sehr nah an der Realität der frühen 50er Jahre.
Man wundert sich, daß in der deutschen Literaturwissenschaft oft behauptet wurde, die Gräuel seien nie zur Erwähnung gekommen. Hier werden sie nicht nur erwähnt, sie werden explizit benannt, grell ausgestellt, sind wesentlicher Teil der Charakteristik dieses Mannes und dessen, wofür er – symbolisch – steht. Daß das in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit Mitte der 50er Jahre nicht gern gelesen oder gehört wurde, kann man sich vorstellen. Mitten in die Restaurationsphase der Adenauer-Ära, in die Jahre des Aufschwungs, des beginnenden Wirtschaftswunders hinein mit dem Grauen konfrontiert zu werden, das im eigenen Namen, dem des „deutschen Volkes“, verübt worden war, kann und wird nur den wenigsten gefallen haben. Doch erstaunt es, daß offenbar auch in den Dekaden danach kaum wahrgenommen wurde, daß hier jemand klar benannt, ausgesprochen hatte, was geschehen war. Und zudem weit darüber hinausging, indem er aufzeigte, wie die Täter langsam wieder Fuß fassten, zurückkamen, sich bürgerliche Existenzen aufbauen konnten, trotz „Entnazifizierung“ und Besatzungsstatuten. Daß Koeppen voller Wut, ja Ingrimm, schrieb, ist während der Lektüre deutlich zu spüren. Und es ist auch zu spüren, wen er für die Entwicklungen verantwortlich macht.
In allen drei Romanen sind es Intellektuelle, Künstler und die Bourgeoisie, deren Kreise der Autor beschreibt. Arbeiter, kleine Angestellte, gar die Halbwelt, kommen am Rande zwar immer vor, doch stehen sie selten bis nie im Fokus. Es ist das Bildungsbürgertum, das Koeppen beschreibt und auch angreift. In DER TOD IN ROM führt diese Analyse weit: Rom als Hauptstadt des den Nächsten liebenden Christentums, aber auch Stadt der europäischen Antike, Hort abendländischer Schätze und Ursprung europäischer Kunst- und Kulturlandschaft, ist nicht zufällig Kulisse dieses Familientreffens. Adolf, der Priester-Sohn Judejahns, reflektiert es in einer Szene höchstselbst: Dient er nicht erneut einem Herren, der mit Demokratie und moderner Rechtsstaatlichkeit wenig zu tun hat? Ist er wirklich dem väterlichen Dunstkreis, der Nazi-Eliteschule und ihren pervertierten Werten entkommen, oder hat er das eine Regime lediglich gegen ein anderes, älteres, fester sitzendes, eines mit einem scheinbar menschlichen Antlitz eingetauscht? Und auch in der Figur des Komponisten Siegfried – ein Echo auf, eine Korrespondenz mit Thomas Manns Adrian Leverkühn aus dem DOKTOR FAUSTUS (1947) – kommt einmal mehr Koeppens Vorbehalt gegen den Intellektuellen, sein Mißtrauen gegenüber Bildung als „Festungsgürtel gegen die Masse in uns selbst“ (Elias Canetti) zum Ausdruck. All die Bildung, all das bildungsbürgerliche Gehube, haben nicht verhindern können, daß da eine jede Bildung verachtende Bande an die Macht kam, die all das, was einst „deutsche Kultur“ ausmachte in den Dreck trat, der Lächerlichkeit Preis gab, in einem nie da gewesenen Zivilisationsbruch ad absurdum führte. Wenn Adolf sich hinter der Soutane, wenn Siegfried sich hinter seiner „modernen“ Musik verstecken will, wenn beide glauben, darin den Bruch mit der eigenen Familie, der Tradition zu vollziehen, stellt Koeppen sie doch vor allem bloß, stellt bloß, daß die Verflechtung sich nicht lösen lässt. Die Kontinuitäten deutschen Denkens und Handelns sind zu stark in DER TOD IN ROM, als daß der einzelne diesen entkommen könnte, anderes, radikaleres Denken und Brechen wären wohl vonnöten, um hier eine echte Abkehr zu verwirklichen.
Wie gelegentlich bei Koeppens Schreiben, hat auch die Lektüre von DER TOD IN ROM bei aller Begeisterung sowohl über den Stil, als auch die inhaltliche Auseinandersetzung, einen Beigeschmack. Denn gelegentlich kommt der Autor sich in seinem Furor selbst ins Gehege. Die stärkste Figur des Romans ist der Alt-Nazi Judejahn, dem der Autor psychologisch einiges dessen einschreibt, was Jahrzehnte später Klaus Theweleit in seinen bahnbrechenden MÄNNERPHANTASIEN (1977/78) analytisch so genau auf den Punkt brachte. Judejahn ist ein brutaler, frauenverachtender, sexualisierter und gerade darin das Leben verachtender Mann, der den Krieg liebt, ihn, wie seine Geliebte, den Tod, ebenfalls transzendiert, der seinen Körper panzert und zugleich tief in sich den „kleinen Gottlieb“, das verängstigte Kind, einschließt und versteckt. Die Verachtung gegenüber Frauen, geboren aus Angst vor ihnen – Theweleits Grundthese findet ihre literarische Bestätigung bei Koeppen. Judejahn ist literarisch sehr überzeugend. Und die ihm eigene Verachtung gegenüber dem „fidelnden“ Neffen Siegfried und erst recht gegenüber dem eigenen Priester-Sohn Adolf, steckt Koeppens Schreiben gelegentlich an. Zwar wird dieser Über-Vater, Patriarch alter Schule, SS-General, Kriegsverbrecher, auch immer wieder lächerlich gemacht, doch eine gewisse Ehrfurcht vor der Kompromißlosigkeit, der ehernen Härte dieses Mannes, ist dem Text anzumerken. Und darin dann auch die Skepsis gegenüber den „verweichlichten“ Söhnen, die es mit dieser kriegsgestählten Generation nicht aufnehmen können, die dann aber passender wie unpassender Weise als homosexuell und sogar päderastisch veranlagt (Siegfried, der auch in diesem Detail auf Thomas Mann und die Figur des Aschenbach aus der nicht zufällig titelverwandten Novelle DER TOD IN VENEDIG rekurriert), innerlich nicht gefestigt (Siegfried und Adolf) und sich in ihren Selbstzweifeln dennoch nicht der eigenen Unreife bewusst (Adolf) gezeichnet werden. Ohne daß der Autor dieser Intention folgen wollte, schleicht sich doch eben jene Perspektive in den Text, die Judejahns gewesen sein dürfte. Zumindest bis in die letzten Seiten hinein.
Dann lässt Koeppen in einer ebenso grandiosen wie erschreckenden Engführung im Text Väter und Söhne, Schwestern und Schwägerinnen, Täter und Opfer aufeinander treffen und – auch hier ist die Sexualisierung ein wesentliches Element – in den Begehrlichkeiten (Judejahn sieht sich bei einer jungen Römerin, die er, sie konsequent als „Judenhure“ betitelnd, obwohl der Leser weiß, daß sie katholisch ist, für sich als Bettgenossin auserkoren hat, durch seinen priesterlichen Sohn ausgestochen) einander zum Schicksal werden. Er schreckt dabei auch nicht davor zurück, Judejahn in seinem Wahn erneut zum Mörder werden zu lassen und zugleich in einer fürchterlichen Volte zum Vollstrecker seiner ureigenen Obsession, Juden töten zu müssen, viel mehr, als er schon getötet hat, denn darin sieht er sein Versagen: Nicht genug getötet zu haben. So schreibt sich auch in diese Entwicklung die deutsche Kontinuität ein. Was geschehen ist, wird weiterhin geschehen, schon allein deshalb, weil die Täter ihre Taten weder bereuen, noch als solche überhaupt begreifen. Und so verflüchtigt sich im Entsetzen über diese letzten 20, 30 Seiten des Romans der Beigeschmack und macht einem tieferen Verständnis dessen Platz, was hier so deutlich wird: Wie genau es Wolfgang Koeppen gelingt, nach der gesellschaftlichen und der politischen Analyse des Nationalsozialismus eine treffende psychologische Analyse derer zu liefern , die das Regime in Kraft gesetzt und am Leben gehalten haben. Und eine Analyse davon zu liefern, wo das Kraftzentrum all des Schreckens liegt: In der Familie.
In der Familie, in der Verachtung der Väter für die Mütter und die Kinder, was folgerichtig die Verachtung der Kinder für ihre Väter zeitigt. In der deformierten Sexualität – auch, wenn solcherart Analysen heute vielleicht schon zu altbacken anmuten mögen und Koeppen gerade was die Figur Siegfried betrifft auch zu weit gehen mag, wenn er dessen Homosexualität an Päderastie koppelt und beides in dessen Wunsch, niemals Kinder zeugen zu wollen als Dekadenz denunziert, womit er eine allzu konservative und überholte Vorstellung offenbart – kommen genau diese Brüche zwischen Erzeuger und Erzeugten, zwischen Herrschern und Beherrschten überdeutlich zum Ausdruck.
Für solch eine frühe Analyse der Psychologie der Täter ist Koeppen dann doch etwas Bahnbrechendes gelungen. Er trifft es dann eben doch erschreckend genau, wenn er das Ideologische desavouiert und ihm die Maske herunterreißt, um die dahinter liegenden, darunter verborgenen, damit übertünchten Ängste, die Obsessionen und die Allmachtphantasien, den Narzissmus und den patriarchalen Herrschaftsanspruch bloßzustellen.
DER TOD IN ROM ist eine schmerzhafte Lektüre, die Zeit erfordert und aus der Trilogie heraussticht, da sie so Tiefliegendes offenbart, weit über die eher deskriptive Analyse der Vorgängerromane hinausreichend. Mag man vor allem DAS TREIBHAUS heute eher als zeitgenössisches Dokument deutscher Befindlichkeit betrachten, TAUBEN IM GRAS vor allem ob seiner gewagten Konstruktion und des der Moderne entsprechenden Stils bewundern, der Koeppen als einen Solitär im Kanon deutscher Nachkriegsliteratur ausweist – DER TOD IM ROM hat in seiner Schrecklichkeit, seiner Kompromißlosigkeit und der Genauigkeit der Analyse Bestand. Wer etwas erfahren will über die Täter, der sollte das Buch zwingend zur Hand nehmen.