DER KALTE

Erinnern ist schwer, es tut weh und es kann befreien

Einen Schlüsselroman nannte die Kritik Robert Schindels zweiten Roman. Einen Panoramaroman nennt der Klappentext dieses Werk. Beides trifft zu. Allerdings ist das Buch auch lesbar und sinnig, wenn man nicht die passenden Schlüssel besitzt, um sämtliche Verschlüsselungen des Romans zu entschlüsseln. Der Leser, der hier sämtliche Figuren dieses Wiener Reigens – von Claus Peymann bis Thomas Bernhard, von Alfred Hrdlicka bis Manfred Deix und Peter Turrini, von Hans Pusch bis Kurt Waldheim – verstehen und erkennen möchte, muß entweder über ein gutes Erinnerungsvermögen in zeitgeschichtlichen Zusammenhängen verfügen oder aber eine Menge Recherche neben der Lektüre betreiben. Doch bleibt das Vergnügen an der Lektüre auch ungetrübt, wenn man nicht bei jeder Firgur sofort versteht, wer gemeint ist. WAS gemeint ist, versteht der Leser durchaus.

Rober Schindel malt ein Sittengemälde Österreichs, besser und genauer: Wiens, in den Jahren 1984 bis 1988, also jener Jahre, in die die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten fiel, Alfred Hrdlicka mit seinem „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ einen Furor auslöste, in denen Claus Peymann (dessen Wirken hier um einige Jahre vorverlegt wird) als Intendant der Institution „Wiener Burgtheater“ kreative Skandale produzierte, Thomas Bernhard mit Beschimpfungen seiner Landsleute Jahr um Jahr für Aufregungen im Blätterwald verantwortlich war und schließlich – gemeinsam mit Peymann und dem Burgtheater-Ensemble – mittels seines Stücks „Heldenplatz“ nicht nur einen in der Theatergeschichte einmaligen Skandal verantwortete, sondern auch dafür sorgte, daß Österreich begann, sich nicht mehr als „Hitlers erstes Opfer“, sondern auch als Mittäter zu begreifen. All diese Figuren treten hier auf, bekommen teils herrliche Dialoge in den Mund gelegt, werden aber auch genialisch gegeneinander ausgespielt und dadurch entlarvt als Teile einer Kulturschickeria, die sich immer des neuesten gesellschaftlichen Mittels, Themas und Tabus zu befleissigen weiß, um Aufmerksamkeit zu erheischen.

Bis dahin wäre dies eine manchmal als leichte Komödie, manchmal als schwebende Elegie getarnte Wiener Geschichte, die im eigenen Fett zu ertrinken drohte. Gut geschrieben, mit leichter Hand, flirrend die Eigenarten der etwaigen Protagonisten einfangend, sich manchmal an der eigenen Detailwut begeisternd. Ein Prosawerk, das unterhält, manchmal erinnert, sich durchaus erregen kann ob der Dreistigkeit so mancher Kulturschaffenden und somit eben ein klassischer Schlüsselroman. Doch Schindel führt seinen eigentlichen (?) Hauptprotagonisten ein: Edmund Fraul, Auschwitzüberlebender, ehemaliger Kommunist, Reisender in Sachen Holocaust, Ehemann von Rosa, einer jüdischen Auschwitzüberlebenden, und Vater von Karl, Schauspieler am Burgtheater. Dieser Edmund Fraul ist „der Kalte“. Erkaltet im Herzen und der Seele, sucht er Helden im Alltag einer unheldischen Gegenwart, verachtet seinen Sohn für dessen Substitutionsexistenz, kann mit seiner „unpolitischen“ Frau, deren Dämonen als unkontrollierte Gedanken ihren Kopf befeuern, nicht viel anfangen und sucht schließlich die Nähe zu dem Täter Rosinger, der einst mit Frauls Hilfe überführt und verurteilt wurde. Diese beiden nähern sich im Laufe des ca. 650 Seiten starken Romans einander immer mehr an, erst sprachlos sich beäugend (indem Fraul Rosinger in dessen Lieblingslokalen, die sich zufällig mit seinen eigene decken, aufsucht), dann schweigend Schach spielend und schließlich sich gegenseitig „Auschwitzgeschichten“ erzählend auf Spaziergängen und zu guter Letzt, indem Rosinger Fraul zur Adresse eines Altnazis verhilft, die er dank seiner Schwesster erhält, die wiederum mit Jupp Toplitzer, kommendem Star der „Freiheitlichen“ (und in dieser Funktion natürlich an Jörg Haider angelehnt), zusammenarbeitet.

Es ist der Kontrast, den Schindel maximal scharf kontruiert zwischen dem „offiziellen“ Gedenken, das staatsmännisch und -tragend daherkommt und eben auch immerzu parteipolitischem Geplänkel dienen muß, dem „kulturellen“ Gedenken, das sicherlich gut gemeint eben auch immer die Eitelkeiten der Kulturschaffenden (v.a. Hrdlicka bekommt hier in der Figur des Bildhauers Krieglach sein Fett weg als ebenso eigensinniger wie egozentrischer Großkotz, der sich zwar gegen den Faschismus aussprechen, privat allerdings nicht viel anders als brutal und herablassend gegenüber allen und allem handeln kann) und dem stillen, sprachlosen, oft angsterfüllten, manchmal aggressiven Gedenken derer, die den Horror des Holocausts wirklich haben erleben müssen. Die Geschichten, die Fraul und Rosinger einander auf ihren Spaziergängen durch Wien erzählen, enthalten all die Schrecknisse, die der kennt, der sich mit dem Thema beschäftigt hat. Und dennoch gelingt es Schindel, sei es durch die Lakonie der Sprache, sei es durch die Einwürfe Frauls, die eisig sind und oft brutal, erneut das ganze Grauen dessen aufzubringen, das die Chiffre „Auschwitz“ beinhaltet, wenn sie keine Chiffre mehr ist, sondern konkreter Ort wird. Es gibt eine Stelle im Text, da Fraul feststellen muß, daß er die von ihm aufgestellte Regel – „Keine bekannten und bereits dokumentierten Geschichten!“ – brechen muß und die Akten der Frankfurter Auschwitzprozesse zitiert. Ein bitterer Moment, in dem ein Opfer feststellen muß, daß seine eigene Erinnerung nicht einmal mehr ihm gehört, daß die eigene Erinnerung längst aufgegangen ist in einem weitaus weiteren Erinnerungsfeld. Und daß dieses Opfer selbst – denn Fraul schreibt Bücher über Auschwitz, hält Vorträge zum Thema in Schulen und bei Vorlesungen – dazu beigetragen hat, die Erinnerung zu verallgemeinern, zu katalogisieren, zu klassifizieren und damit auch erträglich(er) zu machen. Es ist der Täter Rosinger, der mit seiner Erinnerung daran, wie er sieben Kinder mit Phiolspritzen tötete, nicht nur nicht mehr leben kann, sondern dem Gerippe reinen, nackten, kalten Erinnerns Fleisch und Blut und Haut verleiht. Der das Grauen wirklich spürbar macht.

Robert Schindel wurde als Sohn jüdischer Kommunisten geboren und überlebte das letzte Jahr der Hitlerdiktatur versteckt in Wien. Er macht es sich in seinem Großwerk nicht leicht, wenn er sich der unterschiedlichen Erinnerungen eines Kommunisten, der aus politischen Gründen und einer Jüdin, die aus rassistischen Gründen in einem KZ einsaßen stellt, wenn er die Schrecknisse aufführt und die Hilflosigkeiten offenbart, die die unterschiedlichen Erinnerungskulturen mit sich bringen, wenn er deutlich zeigt, wie heftig die Beschädigungen auch Jahrzehnte nach den eigentlichen Erlebnissen noch sind und daß die, die übrig blieben, durchaus verbittert, kalt und aufgrund dessen auch unsympathisch sein können. Und in der Figur des Karl, der seine Freundin Margit für die Burgtheaterdiva Astrid von Gehlen verläßt und hernach mit der zumindest gefühlten Schuld an Margits Selbstmord leben muß, bearbeitet Schindel auch ein Thema, das erst in den letzten Jahren mehr und mehr Aufmerksamkeit erhält: Die Kinder der Überlebenden, die Kinder der Opfer, die selber keine Opfer sind, sein können, sein müssen und unter der Last des Nichtopferseins nahezu zusammenbrechen.

Es ist ein Werk ohne eine eigentliche Hauptfigur, der Handlungsfaden ist dünn und – das wurde dem Roman von der Kritik auch vorgeworfen – die Konstruktion geht nicht unbedingt auf, dennoch bleibt nach der Lektüre der Eindruck, an jenen Jahren selbst teilgehabt zu haben. Es ist ein detailversessenes Zeitgemälde jener 80er Jahre, die heute so weit weg erscheinen, es ist das Panorama einer Stadt, die sich nach der Topographie des Romans zu erschließen sicherlich großen Spaß machen würde und es ist ein Buch über Erinnerung, Erinnern und Verdrängen, über die „Zumutung des Erinnerns“, das es in sich hat. Es ist ein vielperspektivisches Werk, in dem mehrere Icherzähler ihre Stimmen erheben und das dennoch immer auktorial bleiben muß, um das Große und Ganze zu erfassen, es ist ein Panoptikum und ein Kabinett voller Schreckensgestalten. Manchmal wundert man sich, daß Schindel bei all dem immer noch bereit ist, durchaus gnädig und – noch erstaunlicher – auch wirklich witzig-charmant zu sein. So gönnt er (stellvertertend für uns alle) dem jungen Bruder der Margit Keyntz, einem begnadeten Chorsänger, eine Art Happy-end, wenn er diesen nicht nur mit seiner großen Liebe Dolly, höhere Tochter jüdischer Abstammung, sondern auch mit der Nebenbuhlerin Helen als scheinbar glückliches Trio abziehen läßt. Hoffung auf eine Generation, die sich einerseits der sie bindenden Tabus entledigt, andererseits bereit ist, die Geschichte zwar zu kennen, jedoch auch zu überwinden? Und last but not least geht Schindel erstaunlich gnädig mit Waldheim selbst um, den er als einen hilflosen Trottel präsentiert, der sich beim besten Willen nicht erinnern kann, ob er nun etwas mitbekommen hat von den Judendeportationen, oder nicht.

Robert Schindel ist ein großer Roman gelungen, an dem man Kritik äußern kann ob der Überfülle der Personen, die den Leser zu überwältigen drohen (und gerade am Anfang hohe Aufmerkamkeit und Konzentration erfordern), ob der parallelen Handlunsgstränge, die nicht so recht zusammenkommen wollen, ob der manchmal etwas holzschnitthaften Figurenzeichnung, die dann auch ins Karikaturhafte abrutscht. Doch letztlich wäre das kleinlich. Der Roman ist zu genau, ist zu wichtig und ist zu wuchtig, um ihn an diesen Kleinigkeiten zu messen oder gar auflaufen zu lassen.

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