MORGENGRAUEN/A L`AUBE

Philippe Djian - jetzt noch reduzierter, noch klarer und umso dringlicher

Philippe Djian hat niemals einen Zweifel daran aufkommen lassen, daß es ihm beim Schreiben vor allem um eines geht: Stil. Diesen seinen Stil hat er in etlichen Romanen und Kurzgeschichten variiert, ein wenig modifiziert, immer verfeinert, schließlich immer stärker auf Reduktion getrimmt. Nach einer etwas schwächeren Periode zur Mitte seines Werkes, ist der mittlerweile 71jährige seit einiger Zeit wieder voll auf der Höhe. Mit Romanen wie OH (2012) und MARLÈNE (2017) hat er neue, ungeahnte Höhen erreicht.

Und auch sein zuletzt auf Deutsch erschienenes Werk, MORGENGRAUEN (A L`AUBE; Original 2018 erschienen, Dt. 2020) schließt da nahtlos an. Vielleicht noch reduzierter, noch anti-klimaktischer, noch mehr auf die reine Handlung konzentriert, als die unmittelbaren Vorgänger, kann man hier allerdings auch etwas beobachten, das den letzten Werken ein wenig abging, was man in gewisser Weise zwar vermisste, allerdings dann eben auch dem früheren Werk zuzurechnen bereit war: Die Fähigkeit, aus kleinen Alltagsbegebenheiten nahezu abenteuerliche Situationen entstehen zu lassen. Wie in den frühen, großen Romanen wie BETTY BLUE (1985) oder VERRATEN UND VERKAUFT (1986), konzentriert sich Djian in dem, was er dem Leser de facto bietet, auf ganz alltägliche Situationen: Ein Haus suchen und beziehen, das Frühstück zubereiten, einen Terminkalender führen. Dabei lässt er kleine Ärgernisse wie Katastrophen, die Freude beim Gelingen wie wahre Triumphe erscheinen. Das erinnert an jene Passagen in BETTY BLUE, in denen Zorg, das Alter Ego des Autors, ein Chili aufsetzt und kocht, eine Flasche Bier in der Abendsonne öffnet und sich so seine Gedanken macht über das Sein und den Zustand einer Welt, in der man nie weiß, was auf einen zukommt. Und wenn es einen dann trifft, trifft es einen mit voller Wucht.

Wo aber in den frühen Werken – die durchaus auch abenteuerliche Geschichten zu erzählen wussten – die Treffer eher menschlicher und psychischer Natur waren, hat Djian es sich in den letzten beiden Dekaden nicht nehmen lassen, die Treffer durchaus als wahre, sehr reale  Katastrophen auszumalen. Die stehen dann in ihrer Wucht oftmals den kleinen Alltagskatastrophen gegenüber, das eine spiegelt sich im andern, unterminiert das andere, stellt es in Frage. Relativiert. Da gab es Frauen, die damit leben mussten, daß ihre Väter ganze Schulklassen gemordet hatten, Naturkatastrophen waren immer wieder Auslöser fürchterlicher Schicksalsschläge und manche seiner Protagonisten und Protagonistinnen waren zu wahrlich schrecklichen Taten fähig. Zusehends nutzte Djian ein Stilmittel der von ihm bewunderten amerikanischen Literatur: Innere Widersprüche und Abgründe spiegelten sich in äußeren Begebenheiten. Landschaften (metaphorische, wirkliche beschreibt er ungern) wurden zu Spiegeln seelischer Landschaften. Und genau diese Fähigkeit, mittlerweile äußerst verfeinert, nutzt er in MORGENGRAUEN nahezu exemplarisch. Allerdings nur, indem er uns indirekt von den schrecklichsten Begebenheiten – Entführung und Tod eines kleinen Kindes, Selbstmorde, fürchterliche Unfälle und Zufälle, die wie Unfälle aussehen – berichtet. Auf der reinen Erzählebene finden sie hier und da Erwähnung in den Dialogpassagen, obwohl sie für die Figuren des Romans einschneidend und wesentlich sind. Bei keiner dieser Katastrophen sind wir als Leser anwesend, nie bekommen wir sie im Moment ihres Geschehens geschildert.

Die Geschichte, die Djian erzählt, ist einmal mehr denkbar einfach, offenbart aber nach und nach Abgründe, die es in sich haben. Die 33jährige Joan kehrt nach fünfzehn Jahren in Boston in ihre Heimatstadt vor den Toren der Metropole zurück. Nach dem Unfalltod ihrer Eltern muß sie sich um ihren wesentlich jüngeren Bruder Marlon kümmern, der autistische Züge aufweist. Joan selbst arbeitet bei ihrer Freundin Dora in deren Boutique und zugleich in einem von Dora betriebenen Callgirl-Ring für höhere Ansprüche. Die Eltern, einst Aktivisten in der Bürgerrechtsbewegung, sollen, so Howard, ein alter Freund der Familie, Geld und andere wertvolle Dinge im Haus gebunkert haben. Von diesem Punkt aus erlebt Joan eine zunehmend beschwerliche Zeit, die fast zwangsläufig auf ein zwar erwartbares, aber dennoch unerwartetes Finale hinausläuft.

Djian tut erst gar nicht so, als wolle er eine kohärente, geschlossene Handlung präsentieren. Die Geschichte um Joan und ihren Bruder Marlon ist in manchmal plötzliche Zeitsprünge, dann wieder ruhige, fast vor sich hintreibende Passagen aufgeteilt. Wie erwähnt, werden die wirklich dramatischen Ereignisse nur indirekt geschildert, eher interessieren den Autor die Reaktionen seiner Figuren auf das, was ihnen zustößt. So kann er dem Leser gelegentliche Ungeheuerlichkeiten präsentieren – durchaus garniert mit einem gewissen grimmigen Humor – die man aber immer zu glauben bereit ist. Gerade durch die taffe, sich nie geschlagen gebende Joan, die uns ihre Perspektive auf die Geschehnisse leiht, bleibt die episodische Handlung geerdet. Ob es um Handgreiflichkeiten mit Kunden, das aufkeimende Sexualleben Marlons, dessen sehr viel ältere Freundin Ann-Margaret und deren zunehmende Übergriffigkeit, ob es um Howards Begehren oder Doras Krebserkrankung geht – Djian präsentiert zwar die größten, vor allem in der Häufung haarsträubenden Unwahrscheinlichkeiten, kann aber gerade anhand dieser überlebensgroßen Elemente der Handlung umso deutlicher machen, wie das Leben beuteln, wie übel es dem Menschen mitspielen kann.

Philippe Djian geht für diese Geschichte nach Amerika, wo er selbst einst einige Zeit gelebt hat und das er nicht nur literarisch verehrt. Er hat in seiner Karriere immer mal wieder Romane geschrieben, die nicht in Frankreich angesiedelt waren, sondern in oft nicht näher beschriebenen Ländern und Orten, die an Südamerika oder Spanien erinnerten. Nun aber wird er sehr spezifisch und genau, man spürt, daß er die Verhältnisse in und um Boston, Cambridge, Harvard bis hin zum Walden Pond, an dem einst Henry David Thoreau seine Hütte erbaute, recht genau kennt. Das gibt dem Roman ebenfalls Erdung, eine gewisse Realistik. Vielleicht ist es auch dieser genauen Schilderung der Verhältnisse gedankt, daß Djian dann eine Geschichte erzählen kann, die, nimmt man alle Ereignisse zusammen, die sie vorantreiben, die aber nicht direkt erzählt werden, wahrscheinlich jeder Produzent ablehnen würde, packte man sie in ein Drehbuch. Obwohl diese Vielzahl von katastrophalen Ereignissen natürlich so nur in Amerika passieren kann – in einem Amerika, das uns durch Hollywood vermittelt wurde.

Es ist genau dies die Magie von Philippe Djian, seinen Lesern Unglaubliches in einem immer strengeren, immer – im besten Sinne des Wortes – redundanteren Stil zu präsentieren, und dabei für sich in Anspruch zu nehmen, daß genau dies ihm als Schriftsteller zusteht. So spielt er auf sehr unterschiedlichen Ebenen mit Fragen der Fiktion, des Melodramas, eben der Magie der Erfindung, der Fiktion, die uns mehr über uns und die Welt, in der wir leben (müssen) erzählt, als es ein Geschichtsbuch je könnte. Man muß das nicht mögen und Djian ist für seine Romane immer wieder angegriffen worden. Doch wenn der Leser sich auf diese Magie einlässt, eröffnet sie ihm noch immer unglaubliche Räume sprachlicher Entfaltung und Phantasie, tiefe Einblicke in das menschliche Wesen, konfrontiert mit seinen schlimmsten Albträumen, dem Zerbersten seiner Träume, den Resten seiner Ambitionen. Und immer auch mit einem Hoffnungsschimmer, daß ganz so arg nicht werden wird. Bis es eben vorbei ist.

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