OH…/“OH…“

Philippe Djian legt das erste große Werk seiner Spätphase vor

Philippe Djian tritt mit seinen jüngeren Werken – wo man den Beginn dieses Prozesses verorten soll, ist schwer zu beurteilen – deutlich in die Phase eines „Spätwerks“ ein. Die Texte werden kürzer, die Hauptprotagonisten älter, das Setting ändert sich. War der junge Djian ein Himmelsstürmer, der mit Werken wie BLAU WIE DIE HÖLLE, EROGENE ZONE und natürlich BETTY BLUE und deren direkten Nachfolgern französische Literaturgeschichte schrieb, der den Alltag selbst zu einem Abenteuer werden ließ in einer Welt, die scheinbar wenig an Überraschungen – es waren die 80er Jahre und jeden Moment rechnete man damit, atomar zu verpuffen – bereithielt, in der jedoch die Abenteuer in den Köpfen immer bedrohlicher wurden, so suchte der Djian der mittleren Jahre sein Heil in teils recht oberflächlichen Werken aus der gutsituierten Welt der Künstler, Schriftsteller und Werber. Nicht alles in jener Zeit war gelungen, die frühen Anhänger fürchteten, der spezielle, so gelobte und für sein Werk so lebensnotwendige ‚Sound“ dieses Autors sei abhanden gekommen. Doch in seinen letzten Büchern berappelt sich der Meister. Langsam bildet sich heraus, wie dieser vermeintliche „Pornograph“, dieser einstige „Skandalautor“ es schaffen könnte, das Beste aus der Frühphase und jene Gelassenheit, die die besseren Werke der mittleren Phase wie SCHWARZE TAGE, WEISSE NÄCHTE auszeichnete so zu verschmelzen, daß etwas neues, etwas bestechendes sich daraus entwickeln könnte. Schon in DIE RASTLOSEN deutete sich an, wohin der Weg führen kann, dort griff Djian noch auf eine stringente Erzählung zurück (und damit auf ein für ihn eher ungewöhnliches Element), die sich bei genauerem Hinsehen als eine Art Schauerroman entpuppte, dessen „zärtliche Bestie“ erst beim zweiten Hinsehen als solche erkennbar war.

Nun, mit OH…, kehrt er wieder zurück in die Gefilde des Künstler- und Kreativenalltags, greift auf die besseren Elemente seines erprobten Stils zurück und bietet auch wieder die für Djian typischen Zumutungen und Geschmacklosigkeiten, die sein Werk ebenfalls immer prägten und erheblich zu seinem Image als Skandalautor beitrugen. Michèle, eine Filmproduzentin, die außerhalb von Paris lebt, doch in der Metropole arbeitet, reibt sich in den Wochen vor Weihnachten zwischen ihrer sie beherrschenden und ewig mit ihr im Clinch liegenden Mutter, ihrem nichtsnutzigen Sohn, dessen Freundin und deren Kind sowie ihrem Exmann Richard und ihrem Liebhaber Roland – Gatte ihrer besten Freundin Anna – auf. Eines Tages wird sie vergewaltigt, ruft aber weder die Polizei, noch läßt sie sich gegenüber ihren Freunden etwas anmerken. Sie will den Täter selber stellen und bestrafen. Sie lernt ihren neuen Nachbarn Patrick kennen, der sich trotz Ehefrau als neuer Liebhaber anbietet, da Roland in dieser Rolle zusehends schwächer wird und Michèle auch das Gewissen wegen Anna plagt. Die Geschehnisse fangen an sich zu überschlagen, als ihre Mutter schwer stürzt und Michèle mit ihrem nun quasi letzten Wunsch zurückläßt – sie solle ihren Vater besuchen. Dieser Mann ist ein Massenmörder, der seit nahezu 30 Jahren in Haft sitzt, da er einst an der Atlantikküste in einem Feriendorf 70 Kinder und Jugendliche erschoß und den Michèle genauso lang weder gesehen noch gesprochen hat. Und so wird der Leser Zeuge dieser 4 Wochen zwischen Anfang Dezember und Anfang Januar, in denen sich Michèles Leben verändert, sie sich neu ausrichtet, in denen sich einige Katastrophen zusammenbrauen und die für die Icherzählerin, die kurz vor ihrem 50. Geburtstag steht, entscheidende, zukunftsweisende Veränderungen mit sich bringen…

Die Katastrophe war in Djians Werk schon immer zugleich Treibstoff der Handlung und Metapher für das Leben, das sich doch als großes Versprechen darbietet und meist als Rohrkrepierer enttäuscht. In seiner literarischen Soap DOGGY BAG wurde sie – die Katastrophe – zum prägenden Mittel allen Seins, überschlugen sich die Geschehnisse dort doch im Fünfseitentakt. Nun wagt Djian es erneut, die gewaltige Keule des Schicksals herabfahren zu lassen und dennoch gelingt ihm ein weitaus glaubwürdigerer Text als jene Soap oder auch jene letzten oben genannten Werke. Er mutet uns eine Icherzählerin zu, die manchmal ironisch, oft schon sarkastisch, in seltenen Fällen zynisch aus ihrem Leben berichtet, was sie – geschrieben von einem Mann, der nunmal den Ruf hat, seine Frauenfiguren seien meist sexistische Abziehbilder übelster Machophantasien – zu einer reinen Kunstfigur werden läßt, die aber gerade dadurch mit hoher Autorität spricht. Es gelingt ihm, auf die besseren Elemente seines frühen Stils zurückzugreifen und damit eine Atmosphäre zu schaffen, die – das Schrille aussparend – selbst das größte Ungemach unter dem ständig rieselnden Schnee eindämmt und ebenso still wie allerdings auch unerbittlich passieren läßt. Und da kann man nur das Beste über diesen Autoren sagen, was sich über ihn sagen läßt: Djian eben…

Es ist dieser Stil, dessen atemberaubendes Niveau der frühen Werke er hier manches Mal scheinbar mühelos erreicht – der allerdings auch kongenial übersetzt wurde – , der dieses Werk über seine unmittelbaren Vorgänger heraus- und generell in den Status eines Djian-Klassikers (die Zeit wird es zeigen) erhebt. Der Rezensent wagt einmal eine solche Prognose. Denn dies ist organisch, es fließt, es greift ineinander. Die Erzählung gleitet elegant dahin, die Worte und Sätze perlen teils, der Humor ist hintergründig und wie immer arbeitet Djian mit den für ihn typischen Auslassungen. Wie oft, erzählt er antiklimaktisch, wir müssen uns Teile der Handlung und erst Recht die Charaktere der Protagonisten aus den teils spärlichen Informationen, die uns gegeben werden, zusammenklauben und -setzen. Und wie so oft in den Büchern dieses Sklaven des Stils, entpuppt sich manches, was eben nett und sympathisch erschien, was uns in Sicherheit wiegte und erfreute als doppelbödig, als falsch und gefährlich. Djian lesen ist immer auch das, was er beschreibt – ein Abenteuer.

Wir folgen dieser Nichtgeschichte (auch da greift der Autor auf seine frühen Werke zurück und setzt auf das Episodische, das Zerfaserte und Uneinheitliche) aus der Sicht einer Frau, die versucht, sich, das eigene Leben und ihre Beziehungen zusammen und in der Balance zu halten und dabei nicht vollkommen den Kopf zu verlieren. Natürlich wird schon die Ichperspektive aus Sicht einer Frau manchen abstoßen, ebenso die Idee, diese Frau mit einem Vater auszustatten, der natürlich an den norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik erinnert (minus dessen ideologischen Überbau). Ein wenig mutet diese letztere Idee allerdings so an, als wolle Djian unbedingt wieder an sein Image als Skandalnudel anschließen, andererseits sieht man darin auch seinen unbedingten Willen, aufs Ganze zu gehen. Und es wird nicht viele Autoren geben, die sich je Gedanken gemacht hätten, wie eigentlich die Angehörigen des Täters mit der Tat klarkommen, wobei die Taten hier nur rudimentär erklärt werden und das ganze Konstrukt eher dazu dient, einen gewissen Härtegrad in Michèles Charakter zu erklären.

Diese Michèle wird eine Sonderrolle in Djians Kosmos einnehmen, davon ist auszugehen. Nicht nur ist sie die erste Frauenfigur, der der Erzähler seine subjektive Stimme leiht, sie wirkt auch wie ein Antwort auf all die Fragen, die Djians Frauen in den über dreißig Jahren seines Erzählens aufgeworfen haben. Daß sie ihren Peiniger, jenen Mann, der sie vergewaltigt hat, schließlich quasi mit dessen eigenen Mitteln zur Strecke bringt und damit die ganze Erbärmlichkeit jener Männer aufdeckt, die Sexualität mit Gewalt und beides mit Macht verwechseln, werden viele nicht wahrnehmen wollen, da es einfacher sein wird, dem Autor vorzuwerfen, er bediene das Klischee, vergewaltigte Frauen wollten „es“ ja eigentlich selber. Doch keineswegs ist dem so – der Autor Philippe Djian stellt mit dieser Wendung seiner Geschichte durchaus das eigene Werk in Frage, stellt all diese Machotypen in Frage, die er – einmal abgesehen von Zorg – im Laufe der Jahre kreiert und literarisch präsentiert hat. Ihr ganz allein gelingt das, sie ganz allein ist die Antagonistin unzähliger Männerfiguren in einem weiten Werkkosmos. In gewisser Weise ist Michèle Djians lebendigste, weil glaubwürdigste Figur. Sie hat Tiefe, sie ist nachvollziehbar und dennoch psychologisch genau auch in ihrer Widersprüchlichkeit. Ein Quantensprung, wenn man so will. Und eine sehr ehrliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Schaffen (als Mann, als Künstler, als männlicher Künstler).

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