SEOM – DIE INSEL/섬/THE ISLAND
Eine filmische Meditation von Kim Ki-duk
Hee-jin (Suth Jung) betreibt ein kleines Angelressort an einem abgelegenen See. Auf dem Wasser treiben Flößer mit Hütten, wo die Gäste schlafen und ihrem Hobby nachgehen können. Hee-jin fährt mit einem Kahn über das Wasser und versorgt sie mit Lebensmitteln, heißem Tee, Kaffee und gelegentlichen Liebesdiensten. Sie ist aber auch bereit, Prostituierte zu besorgen und auf den See zu den Freiern zu bringen.
Hee-jin ist stumm, ihr Körper mit Narben übersät, sie hat sich offenbar in sich selbst zurück gezogen. Dennoch lässt sie sich nichts gefallen. Als ein zudringlicher Gast sie verhöhnt und nicht für Geleistetes bezahlen will, taucht sie nachts aus dem See auf und zieht den Mann ins Wasser. Mit Müh´ und Not gelingt es seinen Kumpeln, ihn zu retten.
Eines Tages mietet sich Hyun-Shik (Kim Yoo-suk) bei ihr ein. Der Mann wirkt verloren und verzweifelt. Hee-jin fühlt sich auf eigenartige Weise zu ihm hingezogen und beginnt, ihn zu beobachten. Der Mann ist ein Flüchtiger, der seine Frau und deren Liebhaber erschossen haben muß. Unter der erlittenen Schmach scheint er ebenso zu leiden, wie unter der Schuld, die er auf sich geladen hat.
Hyun Shik führt eine Pistole mit sich und will sich damit das Leben nehmen. Hee-jin gelingt es, ihn davon abzuhalten. Der Flüchtige bastelt mit Draht und einer Zange kleine Tiere und Gegenstände. Er lässt Hee-jin eins davon zukommen, was sie rührt.
Die beiden nähern sich an, doch als Hee-jin Hyun-Shik Intimität zu gewähren scheint, fällt dieser gleichsam über sie her. Es gelingt ihr zwar, den erzwungenen Geschlechtsverkehr abzuwenden, doch stößt Hyun-Shik sie durch sein Verhalten ab.
Hee-jin, die auch für andere Gäste bereits Prostituierte organisiert hat, ruft Eun-a (Park Sung-hee), die aber nur gelegentlich als Dirne arbeitet. Hyun-Shik vergnügt sich mit ihr, verliebt sich aber in Hee-jin. Mehrfach kehrt Eun-a zum See zurück, da sie sich ihrerseits in Hyun-Shik verliebt hat. Hee-jin beobachtet die Annäherungsversuche eine Weile, dann fesselt sie Eun-a und versteckt sie auf einem der leeren Flößer. Als sie sie schließlich holen will, findet sie nur noch die Leiche der jungen Frau, die offenbar in Panik bei einem Befreiungsversuch ins Wasser gefallen und ertrunken ist.
Hee-jin holt den Motorroller der Frau, bindet die Leiche daran und versenkt beides im See.
Die Polizei erscheint am See und sucht offenbar nach Hyun-Shik, der einen erneuten Selbstmordversuch unternimmt, indem er ein Bündel Angelhaken schluckt. Hee-jin findet ihn gerade rechtzeitig, versenkt ihn im See, befestigt die Leine der Haken jedoch in der Hütte. Nachdem die Polizei, die zwischenzeitlich einen anderen Gesuchten auf einem anderen Floß gefunden und festgenommen hat, Hyun-Shiks Hütte leer vorgefunden hat, holt Hee-jin die Leine ein, rettet Hyun-Shik, belebt ihn und zieht ihm dann die Angelhaken aus Rachen, Gaumen und Mund. Mit einem Holzstöckchen, das sie ihm zwischen die Lippen klemmt, bewahrt sie ihn davor, den wunden, verletzten Mund zu schließen. Nun gibt sie sich dem Mann hin – in ihem Rhythmus und nach ihren Regeln.
Eun-a hatte einen Zuhälter, der zuvor schon am See aufgetaucht ist. Erneut kommt er und sucht nach ihr. Hee-jin tötet auch ihn und versenkt seine Leiche, an eine Autobatterie gebunden, ebenfalls im See.
Zwischen Hyun-Shik und Hee-jin kommt es zu einem Streit, weil er ihr vorwirft, eine kaltblütige Mörderin zu sein. Er fällt über sie her und vergewaltigt sie, nennt sie eine Hure und nimmt den Kahn an sich, um vom See zu fliehen. Die verzweifelte Hee-jin blickt ihm nach, nimmt ihrerseits einen Bund Angelhaken und führt ihn sich in die Vagina ein. Schreiend bricht sie zusammen und stürzt in den See.
Hyun-Shik hört den Schrei, kehrt um, rettet Hee-jin und entfernt nun seinerseits die Haken aus Hee-jins Geschlecht. Die beiden erleben eine kurze Zeit des Friedens, während der Hyun-Shik Hee-jin gesund pflegt.
Ein anderer Gast, der ebenfalls eine junge Geliebte bei sich hat, verliert durch Zufall seine goldene Uhr, die in den See fällt. Er fordert einen Taucher an, der die Uhr suchen soll. Dabei wird die Leiche von Eun-a gefunden.
Hee-jin, die die Vorgänge von Hyun-Shiks Hütte aus beobachtet, baut den Außenbordmotor ihres Kahns an das Floß, lässt den Kahn Leck laufen und steuert die kleine Insel vom See weg, auf einen Fluß hinaus und dann in ein Schilfdickicht. Später, die Liebenden sind eingeschlafen, treibt das Floß im gleißenden Sonnenlicht auf das Wasser hinaus.
Hyun-Shik steht nackt in einem niedrigen Schilfhain und sieht sich um.
Hee-jin liegt leblos in dem sinkenden Kahn, ihr Schamhaar entspricht jenem Schilfhain, in dem eben ihr Geliebter verschwunden ist.
Filme des Südkoreaners Kim Ki-duk sind oft verrätselte, suggestive Werke voller meditativ anmutender Ruhe und Schönheit, die sich oftmals in Grausamkeiten spiegelt, welche ihrerseits eine eigene Ästhetik entwickeln. Verzweiflung, Erlösung, Katharsis, Religiosität als spirituelle Antwort auf eine feindsame, manchmal unwirkliche Welt, sind wesentliche, wiederkehrende Themen und Merkmale seiner Filme. Ganz besonders treten diese Merkmale in dem Frühwerk SEOM – DIE INSEL (섬/THE ISLAND/2000), oftmals als ein „obsessives Werk“ bezeichnet, hervor.
Eine stumme Frau, ein Flüchtiger, Angler, die in auf einem See treibenden Hütten wohnen und sich scheinbar vom Alltagsstress erholen – das Personal in Kims Film ist erratisch, wie es die Geschichte ist. Nichts wird erklärt, alles bleibt Andeutung, der Interpretation des Zuschauers überlassen. Menschen treffen aufeinander, die sich nur funktional wahrzunehmen scheinen. Die stumme Frau, offenbar die Hüterin des Sees, fährt mit ihrem Kahn über das Wasser und versorgt die Angler mir heißem Tee, Kaffe, dem Nötigsten, prostituiert sich aber auch, wenn sie darum gebeten wird. Oder sie besorgt ein paar Prostituierte, wenn die Männer – es sind nur Männer auf dem See – darum bitten.
Nebelschwaden ziehen über das Gewässer und tauchen Kims Bilder in eine Unwirklichkeit, die diesen Ort, wie seinen Film, entrückt wirken lassen, einer überprüfbaren Wirklichkeit entzogen. Wunderschön mutet das an, wenn die Kamera das spätsommerliche, fast schon herbstliche Laub in den Bäumen an den Ufern des Sees einfängt, wenn sie in das Wasser eintaucht und die grünliche Undurchdringlichkeit dort bestaunt, wenn sie über die Seeoberfläche gleitet und das Spiel des Lichts auf dieser einfängt. Wenn die Wirklichkeit hier einbricht – eine junge Frau kommt mit ihrem Motorroller angefahren, die Polizei sucht nach einem Verdächtigen und findet dabei einen anderen Gesuchten, Streit bricht unter einigen Angelfreunden aus – wirkt dies auf den Zuschauer wie ein Eindringen in einen Traum, der sich gegen das Erwachen sträubt.
Doch die jenseits der Träume liegende Realität dringt immer in den Schlaf vor und so auch hier: Wenn auch nur angedeutet, erahnen wir, daß der Flüchtige seine Frau und deren Liebhaber umgebracht haben muß. Verzweifelt, voller Schuldgefühle und Schmerz, hat er sich auf diesen See zurückgezogen, doch spätestens, wenn die Polizei anrückt und laut und vulgär, schließlich auch gewaltsam, nach ihm sucht und einen anderen findet und bedroht, hat die Wirklichkeit auch Hyun-Shik, so der Name des Flüchtigen, eingeholt und zwingt ihn zu einer Reaktion. Und diese Reaktion fällt drastisch aus. In seinem Schmerz darüber, Schmerz zugefügt zu haben, verloren zu haben, was er liebte, und schuldig geworden zu sein – alles Interpretation – verschluckt er ein ganzes Bündel Angelhaken, die ihm die Kehle, den Mund, den Gaumen zerreißen. Seine Rettung ist die stumme Frau, Hee-jin, die mit Hingabe seinen Rachen von den Haken befreit und anschließend pflegt, ihm Luft zufächelt, ihn liebkost. Und die Hyun-Shik ihren Körper anbietet, langsam, vorsichtig, tastend.
Es waren diese und die Szene, in der sich Hyun-Shiks Selbstmordversuch darin spiegelt, daß Hee-jin sich ebenfalls einen Bund Angelhaken in die Vagina einführt und so versucht, sich das Innerste herauszureißen, die gerade beim europäischen Publikum Entsetzen hervorriefen. Schnell wurde Kims Film jenen Werken zugeschlagen, die im Westen gern „Asia Extreme“ genannt werden und oftmals Subgenres des Horrorfilms, u.a. sogenannte „Torture Porn“-Filme, umschreiben. Doch weiter könnte ein Werk wie Kims nicht vom Splatter- und Terrorkino entfernt sein. Nicht nur, daß er auf explizites Zeigen der Verletzungen verzichtet, die Grausamkeit der Verstümmelungen, die sich die Protagonisten zufügen, ist folgerichtig im Kontext ihrer erklärbaren oder auch – in Hee-jins Fall – unerklärlichen Verzweiflung. SEOM bildet eine existenzielle Verzweiflung ab, die nach existenziellen Exerzitien verlangt. Eher erinnert das an große Solitäre des europäischen Kinos – Bergman, Tarkovskij, entfernt auch an Buñuel.
Hyun-Shik vergewaltigt Hee-jin, die ihm daraufhin eine Prostituierte zuführt, die sich in den einsamen Mann verliebt. Hee-jin tötet sie, wie sie auch den mehrfach am See auftauchenden Zuhälter der jungen Frau töten wird. Beide versenkt sie im See, der damit zu einem symbolischen Ort wird: Hier liegen die Geheimnisse, das Verdrängte, die „Leichen im Keller“ des Unbewussten, hier werden die Figuren mit ihren innersten Ängsten konfrontiert. Die Polizei findet durch Zufall die Leiche der jungen Frau und das ungleiche Paar, Täterin und Mitwisser, fliehen mit einer der Holzinseln hinaus auf das Gewässer, hinein in das Schilf, wo Hyun-Shik schließlich nackt durch den Schlick watet, verloren in der einem Schilfgewächs ähnelnden Scham der offenbar toten Hee-jin.
Liebe als reines Gefühl, Sexualität als konkretes Abstraktum, Gewalt als Bindemittel. In Kims Welt findet eine fast europäisch-katholische anmutende Spiritualität Ausdruck. Die Schöpfung, voller Schönheit, in deren Angesicht wir verstummen wollen – wie Hee-jin es längst getan hat – erfordert Hingabe, Reinheit, Zurücknahme. Rücksicht, vielleicht. Sexualität und Gewalt sind hier nur zwei Seiten ein und derselben Medaille, bedingen einander und symbolisieren den Einbruch menschlicher Verkommenheit, existenzieller Niedrigkeit in ein an sich perfekt anmutendes System. Ein System, das wir begreifen müssen, das uns aber unbegreiflich bleibt und deshalb umso würdiger des Bestaunens ist. Die Grausamkeit des Menschen stellt Kim wieder und wieder aus: Das Angeln an sich ist ein brutaler Vorgang, einer der hier Residierenden schneidet einem lebenden Fisch die Filetstücke aus dem Leib und schmeißt das Tier dann zurück ins Wasser, aus dem es zu einem späteren Zeitpunkt, noch lebend, wieder auftauchen wird, ein Vogel wird in seinem Käfig ins Wasser geworfen, Hyun-Shik zerhackt lebende Fische, die er nie zu essen gedenkt. Die Angler hocken, wenn sie ein größeres Geschäft erledigen müssen, über Bodenklappen in den Hütten und lassen ihre Hinterlassenschaften direkt in den See plumpsen. Der Mensch ist in diesem System ein Störfaktor, er bringt seine niederen Bedürfnisse und Instinkte ein und zerstört die reine Schönheit der Perfektion. Der sich in der Scham seiner Geliebten verirrende Huyn-Shik wird zum perfekten Symbol für dieses Eindringen und die damit einhergehende Zerstörungsgewalt.
Wie Gemälde muten Kims Bilder oft an, wenn sie, wie in Pastell auf ein Seidentuch gehaucht, den morgendlichen Nebel über dem See, unberührt, einfangen. Bilder voller Unschuld, in denen die Schuld des Menschen, worin auch immer diese bestehen mag, umso drastischer und fürchterlicher zutage tritt. Der Tod scheint hier die einzige Möglichkeit, mit dieser Natur wieder eins zu werden. Und dieser Tod muß grausam sein, er muß ein Tribut sein, der ein schlecht gelebtes Leben angemessen beendet. Und welches Leben wäre nicht schlecht gelebt, in solch einem Kontext? Hyun-Shik ist schuldig geworden, Hee-jin vielleicht auch, im Laufe des Films wird sie es zweifellos, wenn auch möglicherweise aus den richtigen Motiven heraus. Sobald das menschliche Verlangen – nach Liebe, Sex, dem schnöden Mammon (es ist die versehentlich ins Wasser gerutschte, goldene Uhr eines Kunden, der den Fund der Leiche der jungen Frau begünstigt, kommen doch Taucher zum See und suchen nach ihr), aber auch einer Toilette – auf die Innerlichkeit des Ortes trifft, wird dieser verunreinigt. Innehalten und Insichgehen wären angemessen, doch nehmen diese Menschen nicht mehr wahr, was von ihnen verlangt wird.
Kims Film ist schwer zu erfassen. Gerade für ein europäisch-westliches Publikum, das vollkommen andere Sehgewohnheiten hat, ist dies ein schwerer Brocken, da hier nichts erklärt, nur gezeigt wird und der Zuschauer ahnt, daß er selber wahrscheinlich nicht viel besser wegkommt, als diese Figuren, die da scheinbar verloren im Nebel auf dem See treiben. So wird SEOM selbst zu einer Art Meditation, der man sich für anderthalb Stunden aussetzen muß, die man auch aushalten, gelegentlich ertragen muß. Belohnt wird man zumindest mit der unfassbaren Schönheit einer entrückten, unerreichbaren Natur. Belohnt wird man aber auch damit, sich in dieser Welt zu verorten und sich ihrer zu besinnen. Katharsis kann schmerzhaft sein.