UNTERM STAUB DER ZEIT

Christoph Hein blickt auf die frühen Jahre der deutschen Teilung

Vielleicht stimmt es ja, vielleicht kehren wir mit zunehmendem Alter immer weiter in die Jugend und Kindheit zurück. So mancher Autor, der seine Leserschaft im Laufe seiner Karriere mit möglicherweise sehr erwachsenen Themen begeistert hat, wendete sich in seinem Alterswerk der (eigenen) Jugend zu. Der Eindruck entsteht, dass dies auch bei Christoph Hein der Fall sein könnte. Denn schon in seinem Roman VERWIRRNIS (2018) kehrte er in die frühen Jahre der DDR zurück, erzählte von jugendlicher Homosexualität und bürgerlichem Opportunismus. Nun, in seinem vorerst letzten Roman UNTERM STAUB DER ZEIT (2023) wendet er sich erneut der Frühzeit der DDR zu und erzählt aus jener Zeit, da die Grenze, gerade in Berlin, noch durchlässig war und es Austausch zwischen Ost und West gab. Es waren die Jahre vor dem Mauerbau.

Daniel wird von seinem Vater, einem Pfarrer, im Jahr 1958 in ein Westberliner Internat gebracht, damit der Sohnemann dort das Abitur machen kann. Dies ist ihm in der DDR verboten, da er als Sohn eines Bürgerlichen keine Erlaubnis für die höhere Schule bekommen hat. Damals gängige Praxis in der DDR. Im Internat bleiben die „Ostler“ weitestgehend unter sich, es findet nur wenig Austausch mit den „Westlern“ statt, doch nehmen die Jungs aus dem östlichen deutschen Staat doch rege am Leben in Westberlin teil. Sie gehen mit ihrem „Adjunkten“, wie sie ihn nennen – ein Doktorand der Freien Universität, der im Internat wohnen darf und dafür einige erzieherische Aufgaben übernimmt – zu Bill Graham und hören den amerikanischen Erweckungsprediger; ebenso begleitet der Ältere sie zu einem Auftritt von Bill Haley und führt sie gerade rechtzeitig aus dem Saal, bevor die damals üblichen Randale losgehen; sie verdienen sich ein paar Pfennige als Zeitungsverkäufer; sie mobben ihren Klassen-Primus, den sie als überheblich wahrnehmen; sie trinken und feiern und lernen. Daniel erlebt seine erste Liebesbeziehung und entdeckt schließlich sein Interesse am Theater.

Hein reiht Anekdoten und kleine Erlebnisse aneinander, wobei der innere Zusammenhang manchmal undeutlich bleibt. Leider auch die Relevanz im Ost-West-Thema. Bis Daniel und sein zwei Jahre älterer Bruder David, auch er ein Absolvent des Internats, wieder zuhause schlafen dürfen, da die Familie nun dank einer Versetzung des Vaters im Ostteil der Stadt lebt und die Jungs deshalb nicht mehr im Internat nächtigen müssen. So werden sie im August 1961 vom Mauerbau überrascht und entscheiden sich, obwohl es Wege gäbe, in den Westen zurückzukehren und dort ansässig zu werden, bei der Familie im Osten zu bleiben. Auf den letzten Seiten beschreibt Hein, wie beide Brüder sich unabhängig voneinander als Schleuser betätigen und einzelnen Menschen und ganzen Familien zur Flucht in den Westen verhelfen. Für Daniel, der die gesamte Geschichte (wenn man diese Sammlung von Einzelgeschichten denn so nennen will) aus seiner subjektiven Perspektive erzählt, endet die Tätigkeit, als sein Bruder auffliegt und sich gerade noch vor Verhaftung und drohender Internierung retten kann. Damit endet nicht nur die Schleusertätigkeit, sondern auch der Roman und Daniel deutet an, dass er dann so oder so etwas anderes zu tun hatte – er lernt eine für sein Leben offenbar wichtige Frau kennen, doch, so sein Schlusswort, sei das eine ganz andere Geschichte.

Irgendwie, so der Eindruck am Ende des Romans, löst sich alles in Wohlgefallen auf. Als Leser bleibt man etwas ratlos zurück. Womit hat man es hier zu tun? Lausbubengeschichten? Oder wirklich relevanten Erzählungen aus einer – kurzen – Zwischenzeit? Sicher, es ist definitiv interessant, wenn man aus jenen Jahren erfährt, in denen die Mauer noch nicht stand, die Grenze zwischen Ost und West noch durchlässig war, es noch Austausch zumindest zwischen den beiden Teilen Berlins gab. Doch erzählt Hein erstaunlich wenig über diesen Austausch, der ja laut seinem Erzähler Daniel auch kaum stattgefunden hat. Was der Leser erfährt, sind juvenile Erlebnisse, wie sie so allerdings jeder Jugendliche jener Jahre wahrscheinlich erzählen könnte. Und die auch schon vielfach erzählt wurden. Erste Schritte, erste Riten, erste Küsse, erste sexuelle Erlebnisse, verbotene Spiele, erlaubte und unerlaubte Erlebnisse – man kennt das alles. So sinkt der Mehrwert des Romans doch deutlich.

Nun hat natürlich jeder Schriftsteller das Recht, von allem zu berichten, was ihn so umtreibt und beschäftigt. Auch Christoph Hein. Kritik an seinem Werk entspringt vielleicht immer auch einer besonderen Wertschätzung dieses Autors, dieses „Chronisten der DDR“, der wie vielleicht kein anderer in den Jahren vor und nach der Wende von dem Leben in diesem anderen Deutschland zu berichten wusste und dabei eine Sprache fand, die weder anklagend war, noch entschuldigend, nicht einmal erklärend oder erläuternd, sondern einfach eine berichtende Stimme. Er war einer der wenigen, die einem Nicht-Bürger der DDR vermitteln konnte, dass es da einen ganz normalen Alltag und ganz normale Lebensgeschichten gab, die nicht durchgängig von Widerstand, Stasi, Treffen in Dissidentenküchen oder dem Gegenteil, dem ständigen Aufbau des Sozialismus als Lebensziel kündeten, sondern manchmal schlicht von scheiternden Lieben, alltäglichen Geschehnissen, von Aufsteigern und Verlierern. Und dennoch blieben dies keine Allerweltgeschichten, sondern man spürte schon die Spezifik dieses anderen Deutschlands. Wenn man also Heins nun schon spätes Schreiben kritisiert, dann vermisst man manchmal vielleicht einfach die Schärfe, die Dringlichkeit, auch die Wucht, die man von ihm gewohnt ist. Hier ist das ganz sicher der Fall.

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