VERWIRRNIS

Christoph Hein schildert eine "verbotene Liebe" in der DDR

Spätestens seit Uwe Tellkamps DER TURM von 2008 wissen wir, daß es in der untergangenen DDR eine wohl schmale, aber sich deutlich behauptenden bürgerliche Schicht gegeben hat, deren Wertesystem deutlich am alten deutschen Bildungsbürgertum orientiert war und der es gelang, irgendwie unbeschadet durch die vierzig Jahre Arbeiter- und Bauernstaat zu kommen. Christoph Hein hat diese Sichtweise schon manches Mal aus unterschiedlichen Perspektiven bestätigt, selten jedoch so deutlich wie in seinem Werk VERWIRRNIS.

Dekadenübergreifend, aber vor allem verdichtet auf die frühen Jahre der DDR, erzählt er vom Leben des Friedeward Ringeling, ein Schöngeist aus gutbürgerlichem Lehrerhaushalt, dem eine bescheidene akademische Karriere als Germanist an der Leipziger Universität gelingt. Was dieses Leben außergewöhnlich – oder vielleicht auch eben nicht – macht, ist Friedewards lebenslang geheim gehaltene Homosexualität, die allerhand soziale Verrenkungen mit sich bringt – darunter die Ehe mit einer befreundeten Lesbierin, die garantiert, daß beide unbeschadet aller gesellschaftlichen Ressentiments ihrer Neigung und ihren Karrieren nachgehen können – aber auch Einsamkeit und vor allem den Verlust seiner großen Liebe Wolfgang. Dieser, ein Kantor mit großem musikalischen Talent, flieht nach mehrfachen Angriffen aufgrund seiner sexuellen Präferenz die Republik und lebt fortan im Westen, wo ihn aber ähnliche Vorurteile einholen und zudem eine weitaus rigidere Gesetzgebung als jene der DDR, die sehr viel früher als die BRD Homosexualität nicht mehr unter Strafe stellte. Schließlich, nach etlichen Wendungen, unterschiedlichen Lebensschritten und auch einer versuchten Anwerbung durch die Stasi, die Friedeward allerdings abschmettert, holt ihn seine Vergangenheit auf perfide Art und Weise nach der Wiedervereinigung ein. In die Enge getrieben, greift er zum letzten ihm verbleibenden Mittel – dem Suizid.

Angefangen vom jugendlich-pubertären Überschwang einer Jungenfreundschaft, die frühe homosexuelle Kontakte mit sich bringt, über die schöngeistigen, gebildeten und somit „verfeinerten“ Jungenseelen, den strengen Vater, der mit dem Siebenstriemer, einem besonders perfiden Züchtigungsinstrument, straft, dem tief katholischen-gläubigen Milieu, bis zum Ausbruch aus selbigem und der Abweisung des Vaters bringt Hein in seinem Entwicklungsroman so ziemlich alle Klischees unter, die man gemeinhin kennt, wenn es um das Thema Homosexualität in den 50er Jahren geht. Erstaunlicherweise – das ist dann die eigentliche Erkenntnis des Romans – unterscheidet sich da bundesrepublikanische Wirklichkeit kaum von jener der deutsch-demokratischen Republik. Der Druck gerade in  stark religiös gefärbten Familien, der tief in die Psyche und die moralische Selbstwahrnehmung dringt, bis ins gesetzte Alter anhalten und schließlich zu finalen Taten führen kann – genau so ist er uns bekannt aus Werken von Hubert Fichte und anderen. Und vielleicht ist es eben auch gar nicht so überraschend, daß sich das im „anderen“ Deutschland auch nicht anders verhielt.

Heins Subtext ist dann vielleicht auch interessanter, als das vorgebliche Thema. Anhand der Entwicklung von Friedeward, Wolfgang und deren Freundin Jacqueline und deren deutlich älterer Dozentin und Liebhaberin Herlinde, kann der Autor ein anderes, ein sehr viel bürgerlicheres, teilweise auch an der Bohème orientiertes Leben in einem Land schildern, das die Bürgerlichkeit doch abgeschüttelt zu haben glaubte zugunsten eines kollektiven Staates der Gleichen. Allerdings wirkt vieles von dem, was Hein hier schildert, arg glatt und problemlos. Gerade, wenn der bereits etablierte Friedeward mit der Stasi aneinandergerät und diese mit einem einfachen Trick scheinbar überlistet, woraufhin man ihn fürderhin in Ruhe lässt, wirkt unangemessen, bedenkt man, was wir heute über die Methoden, Mittel und Wege dieser „Behörde“ wissen. Natürlich kann man auch von Leben in der DDR erzählen, die eben nicht kompliziert verliefen, nicht gebrochen wurden und vielleicht ist das sogar bitter nötig, um in den deutsch-deutschen Diskurs mehr Normalität einfließen zu lassen. Fragt sich, warum man eine solche Geschichte dann mit dem Thema Homosexualität „beschwert“? Denn daß ein Akademiker, dessen Geheimnis eben nicht verborgen bleibt, für die Staatsicherheit interessant ist und wahrscheinlich auch bleibt, liegt fast auf der Hand.

Hein versteht es allerdings, den Leser den familiären Druck, der auf seinem Protagonisten lastet, spüren zu lassen. Obwohl Pius Ringeling, strenger Lehrer, Weltkriegsveteran und gläubiger Katholik, dem Leser bekannt vorkommt, da er als Figur – wohl bewusst – angelegt ist, wie Hunderte strenge Väter in der Literaturgeschichte, funktioniert er mit seinen Prügeln durch den Siebenstriemer als Erziehungsmaßnahme erstaunlich gut. Hein lässt ihm sogar eine gewisse, wenn auch distanzierte, Gerechtigkeit widerfahren, wenn er in späteren Jahren seinem Sohn den tieferen Grund für die Härte seiner Didaktik nahezubringen. Ein Mensch, der es schlicht nicht besser weiß, es sicher auch nicht besser wissen will, der sich in zutiefst konservativer Weise den alten Traditionen verpflichtet und auch in ihnen geborgen fühlt. Hein versteht es, einen Generationenkonflikt zu schildern, der an keinen Grenzen halt machte und vielleicht gerade für Deutschland und seine Entwicklung durch das furchtbare 20. Jahrhundert prägend und nicht ganz unschuldig an seiner Entwicklung war. So muß ein Kind eben auf Gottes rechten Weg geprügelt werden – daran besteht für Pius überhaupt gar kein Zweifel. So wird seine extrem harsche Reaktion auf seine Entdeckung der aus seiner Sicht natürlich falschen, ja sündigen sexuellen Ausrichtung des Sohnes zwar verständlich, doch Hein weiß, auf wessen Seite er als Autor steht. In einer eindringlichen Szene wird Pius von seiner Schwiegertochter mit seinen Methoden konfrontiert und hier läuft Hein zu der Form auf, die man von ihm kennt – sich in die eigenen Widersprüche verstrickend, versucht der Alte, seine Würde zu bewahren, selbst da, wo er sich längst widerlegt hat. So verstehen wir gerade anhand eines Textes wie diesem, daß es zwischen den zwei Deutschlands der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei allem Trennenden, eben auch durchaus Verbindendes gab. Und sei es einfach nur in den fortwährend fortwirkenden konservativen Ansichten und Traditionen, die eine neue, eine jüngere Generation auf ihre je eigene, spezifische Art und Weise, unter den unterschiedlichen Bedingungen und Voraussetzungen des jeweils anderen Deutschland aufbrechen und verändern musste.

Leider muß man konstatieren, daß es Hein diesmal nicht gelingt, das hohe Niveau zu halten, das man von ihm gewohnt ist. Einerseits ist das alles, wie bereits erwähnt, zu klischeebeladen, zu uneigentlich, wenn man so will, andererseits wird ihm hier zur Falle, was ihm gerade in den letzten Werken wie WEISKERNS NACHLASS (2011), GLÜCKSKIND MIT VATER (2016) oder TRUTZ (2017) zum Vorteil gereichte: Die reduzierte Sprache. Entschlackt wirkte sie, fokussiert auf das deskriptiv Wesentliche, oft schon redundant, dabei aber immer befähigt, dem Leser Figuren erstaunlich plastisch und psychologisch stimmig nahe zu bringen. Genau diese Sprache wirkt nun, in VERWIRRNIS, fast verkitscht, wenn sie sich zu vieler Diminutive bedient, wenn sie nicht mehr reduziert genau, sondern nur noch glatt wirkt, noch nicht beschönigend, doch eben auch oft Ecken und Kanten, Widerstände, die dieser Text bietet, bieten könnte, schleifend. Die Biographien dieser Menschen sind zwar in sich stimmig, doch folgen sie eben stereotyp vorgestanzten Folien, die nicht „das Leben schrieb“, sondern die Literatur, Kinofilme und das Theater der letzten fünfzig, sechzig Jahre.

So bleibt Heins Text seltsam unentschlossen, wirkt einerseits begütigend und versöhnlich, trotz des tragischen Endes, andererseits aber immer wieder auch ironisch gebrochen und dadurch gefährlich – gefährlich, indem die Abgründe dieser Leben immer wieder aufblitzen. Vielleicht hätte dem Autor ein wenig mehr Mut gut getan, etwas mehr Brüchigkeit, etwas mehr Lust an den offenen, schwärenden Wunden dieser deutsch-deutschen Leben. Unter den vielen, vielen hervorragenden Texten, die Christoph Hein uns als Lesern gegeben hat, tritt dieser ein wenig zurück, bleibt allemal wert, gelesen zu werden und muß sich doch kritischer beäugen lassen, als einige seiner Vorgänger.

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