DIE FRÜHEN JAHRE

Felix Stephan nimmt den Leser mit in die frühen Jahre der neuen Republik - und eröffnet seltene und ungewohnte Perspektiven

Gerade eben las man noch Christoph Heins Erinnerungen an die junge DDR – UNTERM STAUB DER ZEIT (2023) – und schon wird man von Felix Stephan mit seinen Erinnerungen an DIE FRÜHEN JAHRE (2023) unmittelbar nach der Wende versorgt. Interessant, beide Bücher so kurz hintereinander zu lesen und natürlich auch ein wenig miteinander zu vergleichen. Denn während man bei Hein doch den Eindruck gewinnt, die Zeit mildert die Erinnerung ein wenig ab, bietet Stephan schwere Kost in – manchmal – leichtem Gewande.

Die frühen Jahre nach der Wende?, mag mancher denken, schon wieder? Hatten wir das nicht mannigfach und in allen möglichen Schattierungen? Ja, hatten wir, bleibt aber dennoch interessant. Und dies erst recht, wenn sich einer traut, eine ganz andere Perspektive einzunehmen. Es ist nicht gleich eine Täterperspektive – obwohl der Roman damit beginnt, wie der Großvater des Ich-Erzählers sämtliche Akten verbrennt, die das Ministerium für Staatssicherheit, kurz: Die Stasi, über ihn und die Familie angelegt hatte. Opa war ranghoher Geheimdienstler und hatte, wie uns berichtet wird, „das Ende rechtzeitig kommen sehen“. Und damit beginnt dieses Buch, das aus der Sicht des damals Siebenjährigen, der uns das alles berichtet, davon erzählt, wie man die Wende, die neu beginnende Zeit und das eigene Erwachsenwerden unter vollends neuen Prämissen auch erleben konnte.

Hier ist wenig die Rede von den „Baseballschlägerjahren“ und davon, wie die eigenen Eltern immer unsicherer werden – obwohl der Vater des Erzählers offenbar demütigende Erfahrungen in der neuen Arbeitswelt machen muss, die er seinen Sohn einmal, wenn auch unwillig, miterleben lässt – , es wird auch nicht von der Arbeitslosigkeit und davon erzählt, wie alles in Depression versinkt. Vielmehr berichtet Stephan, bzw. lässt Stephan seinen Ich-Erzähler davon berichten, wie diese Familie sich einrichtet in der neuen Zeit und dem neuen Land, dessen Grundvoraussetzungen sie mehr oder weniger verachtet, da alle an den Sozialismus glaubten. Und es wird davon berichtet, wie dieser Junge sich mit aller Kraft bemüht, ein „ganz normaler Teenager“ zu sein. Er erlebt Freundschaften und ein bisschen die erste Liebe, er entdeckt seine Leidenschaft fürs Schreiben und versucht sich ein wenig als Jungjournalist, er lernt seine Eltern, vor allem die Mutter, die eine ganz neue und ungeahnte Freiheit entdeckt, neu kennen und muss schließlich auch lernen, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Denn der Großvater wird zusehends dement, sein Vater kümmert sich um ihn und der Erzähler begleitet den Vater bei dieser Aufgabe. Erst der Tod des Großvaters scheint die Familie aus einem Joch – einem Joch der Geschichte – zu entlassen.

Stephan erzählt dies oft mit einem leisen ironischen Unterton, doch immer wieder bricht dann das Tragische in diese Ironie ein und raubt dem Leser fast den Atem, weil es so treffend ist und weil es so trifft. Schmerzt. Immer wieder präsentiert Stephan Sätze, die sehr, sehr tief schneiden. Das liest sich dann u.a. so:

Wenn man die eigene Unfreiheit erst einmal verinnerlicht hat, ist sie von Freiheit nicht mehr zu unterscheiden. Wenn die Unfreiheit zum Lebensprinzip geworden und verschmolzen ist mit einem selbst, wenn es einem gelungen ist, trotzdem ein äußerlich normales Leben zu führen, beginnt man, sie zwangsläufig zu lieben, weil man sie für die Bedingung der Normalität hält. Und wenn man erstmal dieses Studium der Assimilation erreicht hat, akzeptiert man seine Unfreiheit nicht mehr nur, sondern setzt sie unweigerlich auch durch.“ (S. 10/11)

Sicher – und das kann man Felix Stephan dann auch vorwerfen, wenn man mag – so spricht kein Sieben- und auch kein Vierzehnjähriger. So spricht ein Erwachsener, der zu reflektieren gelernt hat und sich sehr, sehr lange Gedanken gemacht hat über das, was er einst erlebte und wovon er berichten will. Keine Frage. Andererseits ist es ehrlich, denn genau das ist dieser Text ja: Eine Reflektion auf jene frühen Jahre der neuen Republik, als man sich in den frisch beigetretenen Bundesländern zu orientieren versuchte und in den sogenannten „alten Bundesländern“ mit der neuen Realität eines plötzlich sehr viel größeren Deutschlands abzufinden begann. Aus dieser Perspektive des Reflektierens macht der Autor aber auch keinen Hehl. Er ist Journalist (geworden) und schreibt – man liest also das exakte Ergebnis dessen, was der Pubertierende erlebt und an sich entdeckt.

Nur – und das macht diesen Roman dann wirklich anders – wird hier einmal nicht die Perspektive jener eingenommen, die froh waren, in die neue Freiheit entlassen zu werden, auch nicht die jener, die nahezu überrollt wurden von der Treuhand-Politik der „schöpferischen Destruktion“ ganzer Industrien und Landstriche, sondern es ist die Perspektive derer, die die neue Zeit vielleicht gar nicht willkommen hießen. Die ihr auch nicht indifferent gegenüberstanden und eher passiv abwarteten, was da kommen möge, sondern vielmehr ablehnten, was da kam und es nie gewollt hatten. Und zugleich – da allerdings unterscheiden sich Stephans Beschreibungen nicht von all denen, die man in den letzten Jahren bereits lesen konnte – hat der Leser es hier eben auch mit einer Coming-of-Age-Geschichte zu tun. Einer Geschichte, in der der Erzähler aber auch nicht verhehlt, dass er aus einem anderen Background kommt als seine Freunde, deren Perspektiven und Möglichkeiten sehr beschränkt sind, die das sehr viel früher begriffen haben als er und die sehr viel besser als er begriffen haben, welche Möglichkeiten ihm offenstehen und die ihm schließlich verständlich machen, dass er diese Möglichkeiten zu nutzen hat. Auch in ihrem Sinne.

Einmal mehr erzählt also ein junger Mann davon, wie das so war, aufzuwachsen hinein in dieses „neue Deutschland“, von der Aufregung und den Unwägbarkeiten und davon, zugleich den familiären Ansprüchen gerecht zu werden. Die nämlich existieren ja ganz unabhängig von den äußeren Bedingungen. Da wollte man meinen, dass es schließlich etwas viel sei – die Jugend, die Familie, die Demenz des Großvaters etc. – , doch Felix Stephan mischt das alles organisch in einer kohärenten Geschichte, die naturgemäß etwas episodenhaft erzählt wird.  Doch versteht er es, einen weiten Bogen zu spannen und den Leser, auch aufgrund der ironischen Distanz, die er einnimmt, bei der Stange zu halten.

Da hat man dann mit dem Roman von Christoph Hein eine hübsche Klammer um dieses vergangene Land, die DDR. Der eine erzählt von ihrem Anfang, der andere von ihrem Ende – und zugleich von einem neuen Anfang in einem neuen Land, das erst nach und nach begriffen hat, dass es sich ändert und verändern muss, um sich selbst einholen zu können.

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