VERSTOSSEN/LOST MEMORY OF SKIN
Russell Banks erzählt aus einer gnadenlosen amerikanischen Wirklichkeit
Auge um Auge, Zahn um Zahn – in mancherlei Hinsicht mutet das amerikanische Strafrecht biblisch an, eher wie ein Rache- und Vergeltungsmittel, als ein Straf- oder gar Resozialisierungsrecht. Russell Banks beschreibt unter anderem die Gnadenlosigkeit dieses Systems in seinem Roman VERSTOSSEN (Original LOST MEMORY OF SKIN; erschienen 2011).
Ein junger Mann, der sich The Kid nennt, lebt unter einer Autobahnbrücke in Calusa, einer Stadt am Golf von Mexiko in Florida. Um seinen Fußknöchel trägt er einen Sender, der der Polizei und seiner Bewährungshelferin immer verrät, wo er sich aufhält. The Kid ist ein verurteilter Sexualstraftäter. Er darf nirgends wohnen, wo er sich auf 750 Meter Kindern nähern könnte, weshalb ihm und seinesgleichen nicht anderes übrig bleibt, als an Orten wie der Halbinsel aus Beton unter dem Calusa Causeway zu hausen. Kids einziger Freund ist ein Leguan, den er seit Kindestagen besitzt. Eines Nachts wird die kleine Siedlung der Ausgestoßenen von der Polizei hochgenommen. Anderntags begegnet Kid hier einem Professor der Soziologie, der an der örtlichen Universität lehrt und gemeinhin als Genie gilt. Der Professor will eine Art Sozialexperiment durchführen: Wenn man Sexualstraftätern die Möglichkeit gibt, sich zu organisieren, dabei Macht zu spüren und Verantwortungsbewußtsein zu entwickeln, müsste sich ihre Neigung legen. Zwischen Kid und dem Professor entsteht eine Art professionelle Freundschaft, bis die Dinge zunächst durch einen sich nähernden Hurrikan, dann durch eine Anfrage der Polizei sowohl bei den Eltern des Professors, als auch bei seiner Frau, beginnen, sich zu überschlagen. Nicht nur The Kid ist sich nicht mehr so sicher, mit wem er es beim Professor eigentlich zu tun hat…
Banks hat ein sehr waches Sensorium für die amerikanische Wirklichkeit. Seine Beschreibungen des Lebens im Abseits sind genau, zwingend und oft schwer erträglich, weil er in der spröden und distanzierten Sprache der Soziologie von ihnen erzählt, was die Lektüre, gerade auf den ersten 250 Seiten des Buches, eher anstrengend macht. Erst spät lässt er seinen Roman Fahrt aufnehmen, gibt ihm so etwas wie Spannung und ein wirkliches Handlungsgerüst. Dies scheint aber nicht sein vordergründiges Anliegen zu sein. So gerät der Plot um den Professor – ein unglaublich großer, sehr fetter Mann, der einen nie zu stillenden Appetit ununterbrochen zu befriedigen sucht – ein wenig zur Kolportage. Da kommt eine geheime Vergangenheit ins Spiel, die sich auf den letzten Hundert Seiten des Romans noch einmal wandelt und nicht nur The Kid, sondern auch den Leser zusehends an der Integrität des Mannes zweifeln lässt. Das ist im Rahmen der Grundhandlung – Verbrechen und angemessene Bestrafung – sicherlich ein gelungener Kniff, bleibt aber spürbar hinter den Möglichkeiten zurück, die der Roman, hat man sich erst einmal an Banks Stil gewöhnt, zunächst zu bieten scheint.
Banks´ Beobachtungsgabe spiegelt sich in der Wahrnehmung Kids. Wer lebt, wie dieser junge Mann leben muß, wird seine Umwelt sehr genau beobachten müssen, um zu überleben. Nicht nur, weil Gefahren legaler wie illegaler Natur, drohen, sondern auch, weil er überleben und dafür schnell begreifen muß, wo sich Chancen auftun. Kids Vergehen ist nicht wirklich eine Sexualstraftat, eher eine mutmaßliche, deren Strafe unangemessen hart erscheint. Daß der Autor diesem Fakt auf der Spur ist, zugleich versucht, psychologisch und soziologisch zu ergründen, wie aus einem vernachlässigten Kind ein Mensch werden kann, der die Welt, wie er selber sagt, nur zweidimensional durch das Internet wahrzunehmen scheint, indem er schon als Elfjähriger massenweisen Pornos konsumiert, ist immer spürbar. Banks hat ein Anliegen. Allerdings ist dieses Anliegen möglicherweise nur schlecht in Literatur übersetzbar. Es droht die Kitschfalle, der Banks eben durch seine nüchterne, distanzierte und manchmal doch auch ausgesprochen drastische Sprache entkommt; es droht aber andererseits auch die Gefahr, mit eben dieser Sprache den Leser auf Distanz zu halten, ihm weder Identifikation, noch einen emotionalen Zugang zum Geschehen zu bieten. Wenn seitenlang die Sichtweise des Professors erklärt wird, rutschen Banks Beschreibungen in die Nähe eines rein soziologischen Werks, wenn dann seitenweise Kids Erfahrungen mit Internetpornographie erläutert werden, droht es schlicht langweilig zu werden.
Interessant und gelungen sind die beiden Antipoden. The Kid ist ein Überlebenskünstler, allein, fast ein wenig feindselig gegenüber einer Welt, die ihm nie gut mitgespielt hat, von der er sich fernhält, deren Wertesystem, das ihn stigmatisiert, er aber bedingungslos übernommen hat. Er hält sich für schuldig und schämt sich und macht dabei wenig Unterschiede zwischen sich, der sich eines eher geringfügigen Vergehens schuldig gemacht hat, und jenen Männern, mit denen er gemeinsam unter der Autobahnbrücke haust und die teilweise wirkliche Schwerverbrecher sind. Banks konterkariert diese Figur mit dem Professor, der sicherlich geniale Züge trägt, in seinem Innersten – der Mann hat ebenso autistische Züge – aber so unsicher ist, daß er sein Leben, seine Vergangenheit(en) in Schubladen verpackt fein säuberlich voneinander trennt. Kid ist agil und wendig, der Professor fett und langsam, lediglich sein Kopf funktioniert in Hypergeschwindigkeit. Dieses ungleiche Paar ergänzt einander und schließlich ist der Professor in seiner Not genauso auf Kid angewiesen, wie dieser – scheinbar – auf ihn.
Diese Ergänzung, respektive Gegenüberstellung, gelingt Banks auch mit der Fußfessel und dem Internet. Das eine ein Strafinstrument, das der Überwachung dient, das andere angeblich ein Geschenk an die Menschheit, ein Befreiungsinstrument, das demokratisch sein, Wissen vermitteln und die Menschen näher zueinander bringen soll, sich bei näherer Betrachtung aber als genau das entpuppt, was die Fessel ihrem Wesen nach ist – ein Instrument der Überwachung und Verfügbarkeit. Erst durch das Internet ist der Professor für seine Eltern, die er nahezu 30 Jahre nicht gesehen hat, aufzuspüren. Das Internet macht es möglich, Menschen für immer zu stigmatisieren. So stehen Kids Name und sein Konterfei in einer Verbrecherdatei, die, immer und für jeden abrufbar, seinen Wohnort und seine Taten verrät. Das Internet – eine Binse – vergisst nicht. Die amerikanische Wirklichkeit in VERSTOSSEN ist das diametrale Gegenteil dessen, was dieses Land immer versprochen hat. Nicht Freiheit ist die Verheißung, sondern immerwährende Überwachung, immerwährende Verfügbarkeit aller Daten, ob richtig oder falsch. So wird der Roman auf den letzten Einhundert Seiten noch einmal interessant, als ein Journalist ins Spiel kommt, der auf die Relativität hinweist, die letztlich allen Glaubens- und Wissensgrundsätzen innewohnt. Was wahr ist, was falsch – wer will das mit letzter Sicherheit sagen? Also muß man glauben. Selbst an physikalische Wahrheiten muß man in erster Linie glauben. Wenn aber alles auf Glaube basiert, ist letztlich nichts mehr wahr. Und darin steckt ein gerüttelt Maß an – Freiheit.
VERSTOSSEN ist ein sicherlich kluges Buch, ein genau beobachtendes Buch, auch ein spannendes, nimmt man die Entwicklung der Story. Doch kommen sich diese Ebenen allzu oft auch ins Gehege. So ergeht es Banks auch mit der Sprache, die er nutzt. Manchmal gerinnen Passagen, die als subjektive Beobachtungen von The Kid beginnen, zu Abhandlungen über das Wesen sozialer Bedingungen oder psychologischer Bedingtheiten, für die dieser Junge aber keine Sprache haben kann. Nicht daher, wo er her kommt und auch nicht, wenn man seine Bildung bedenkt. Hier verrutschen gelegentlich die Ebenen, was schade ist, weil die Figuren in sich und aus sich heraus glaubwürdig und gut getroffen sind.
Russell Banks, der mit AFFLICTION (1989) und THE SWEET HEREAFTER (1991) die Vorlagen zu zwei der besten Filme der 1990er Jahre geschrieben hat, hat sich für diesen Roman viel vorgenommen, vielleicht zu viel. Verbrechen und Strafe, das Internet als Entfremdungsfaktor, die soziale Wirklichkeit gesellschaftlich Geächteter, äußere und innere Freiheit, das Ganze in einer möglichst neutralen Form dargeboten – es ist schwierig, all diese Aspekte zugleich zu behandeln. So wird der Lesegenuß nachhaltig gestört, auch wenn es immer wieder Momente und Abschnitte gibt, die wirklich spannend zu lesen sind. Fast will man meinen, weniger Plot hätte diesem Roman gut getan, und weiß doch nicht, wie man das alles dann zu einem Ende hätte bringen können. So ist ein Werk entstanden, das wichtig ist, das wahrhaftig ist, das sich aber zu oft selbst im Wege zu stehen scheint.