VON HIER BIS ZUM ANFANG/WE BEGIN AT THE END
Ein Thriller, ein Krimi - vor allem ein abgrundtief trauriges Drama
Ein großes Diktum der Weltliteratur lautet bekannterweise, dass alle glücklichen Familien dies auf eine ähnliche Art und Weise seien, unglückliche jedoch auf ihre je eigene. Man könnte allerdings zu ganz anderen Schlüssen gelangen, vergliche man gewisse Romane der modernen Literatur. Da scheinen sich – gerade in amerikanischen Romanen – durchaus ähnliche Aspekte unglücklicher Familien immer zu wiederholen. Drogenabhängige alleinerziehende Mütter, verwahrloste Kinder, wobei irgendwie auch immer eine dreizehnjährige Tochter einen weitaus jüngeren Bruder versorgt. Die Lebensverhältnisse sind prekär und es häufen sich Schrecklichkeiten, bis es kein Erbarmen mehr zu erwarten gibt. Allerdings tauchen von irgendwoher dann doch meist Menschen auf, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen verpflichtet fühlen, beizuspringen und zu helfen – bis ein weiterer Schicksalsschlag dafür sorgt, dass unsere unglückliche Familie weiter abgleitet und noch unglücklicher wird.
So oder ähnlich also in etlichen Romanen vorgekommen. Und auch Chris Whitaker macht von dieser durchaus klischeehaft zu nennenden Konstellation Gebrauch. In seinem viel und hochgelobten Roman VON HIER BIS ZUM ANFANG (WE BEGIN AT THE END, Original erschienen 2019; Dt. 2021/23) ist es die unglückliche Familie der nicht mehr ganz so jungen Star, die mit ihren beiden Kindern Duchess und Robin in der Kleinstadt Cape Haven an der kalifornischen Pazifikküste lebt. Nach dreißig Jahren soll Vincent, der Mörder von Stars Schwester, aus der Haft entlassen werden und droht, nach Cape Haven zurückzukehren. Dies versetzt die Freundesgruppe von damals – Neben Star auch Walk, einst Vincents bester Freund und mittlerweile Polizeichef des Örtchens, sowie Martha, eine Rechtsanwältin, die die Stadt längst verlassen hat – in helle Aufregung. Denn bisher konnte keiner der einstigen Freunde den Schmerz, den der Tod von Stars Schwester einst auslöste, wirklich verarbeiten. Und so kochen die Ereignisse in Cape Haven erneut hoch, als Vincent tatsächlich wieder in das Haus zieht, das seiner Mutter gehörte und um welches sich Walk in den vergangenen Jahren gekümmert hatte. Lang dauert es nicht, da scheinen sich die Ereignisse von einst zu wiederholen…
Whitakers Roman ist nominell ein Thriller. Es kommt bald zu erneuten Gewalttaten und wieder scheint Vincent der Mörder zu sein. Und wie es sich für einen ordentlichen Thriller gehört, erfahren wir erst auf den letzten Drücker, wer wirklich für den Tod der jüngsten Opfer verantwortlich ist. Doch unter der Oberfläche des reinen Spannungsromans verhandelt Whitaker weitaus tiefgreifendere Themen. Es geht darum, wie Gewalt und Verderben sich auswirken, welche nie vernarbenden Wunden sie reißen und welche Auswirkungen ein Verbrechen auf die hat, die es erdulden müssen – die Hinterbliebenen, die Verwandten, die Kinder und Freunde derer, die zu Opfern werden. Da sollte man es ihm vielleicht nicht zwingend zum Vorwurf machen, wenn er – oberflächlich betrachtet – auf Thriller- oder Kriminalroman-übliche Techniken und Konstellationen zurückgreift. Und auf das eine oder andere Klischee vertraut. Zumal Klischees ja die Eigenschaft haben, in etwas Wahrem, Tatsächlichen zu gründen.
Eigentlich geht es Whitaker vor allem um das Schicksal von Duchess und Robin. Zwei Kinder, die nahezu keine Chance zu haben scheinen. Es gelingt dem Autor, deren Leben authentisch und wahrheitsgetreu zu schildern. Vor allem die dreizehnjährige Duchess wird dabei zu einer vielschichtigen und gut getroffenen Figur. Pubertärer Trotz, gespeist aus zu viel Lebenserfahrung für einen so jungen Menschen, die Erlebnisse mit einer drogenabhängigen Mutter und die Verantwortung für einen Bruder, dem sie die Mutter ersetzen muss – Whitaker erfasst den Zustand dieses Mädchens hervorragend. Und ohne allzu viel Kitsch zu verbreiten, gelingt es ihm, die Leser*innen emotional zu treffen. Immer wieder findet er Wendungen, Sätze, Formulierungen, die wehtun, weil sie, ohne in Pathos oder dramatische Gefühligkeit abzugleiten ausdrücken, wie wenig Hoffnung es für Duchess und Robin im Grunde gibt – und wie wenig diese beiden Kinder für das Leben können, das ihnen beschert wurde. Denn genau das ist die Folge des Verbrechens, wer auch immer es begangen hat: Es wirkt und wirkt immer weiter, manchmal über Generationen hinweg.
Wie stark ein Unheil also nachwirkt, Jahrzehnte, nachdem es passiert ist, das bringt dieser Roman hervorragend auf den Punkt. Und an keiner Stelle, sieht man einmal von gewissen, eingangs erwähnten, Eckdaten der Erzählung ab, macht es Whitaker sich einfach. Was damals geschah war im Grunde ein Unglück, für das ein junger Mann – Vincent war siebzehn, als er von einem Gericht hinter Schloss und Riegel verurteilt und vom Richter in eine Anstalt für erwachsene Straftäter eingewiesen wurde – zwar rechtmäßig bestraft, dessen Strafe aber zwangsläufig dazu führte, dass aus einem unsicheren Teenager ein Mörder wurde. Denn dass Vincents Strafe sich schließlich auf dreißig Jahre belief, ist auf einen Totschlag (Mord?) zurückzuführen, den er erst in der Haft begangen hat. Und so fächert sich nach und nach – und hauptsächlich aus der Perspektive Walks – die ganze Wahrheit auf, die das Drama ihrer Jugend eben auch bestimmte.
Und Whitaker gelingt es dann nahezu brillant, den Leser spüren zu lassen, wie sich Geschichte, ganz persönliche Geschichte, wie sich die Vergangenheit immer weiter fortsetzt, wie sie sich festsetzt, wie sie nicht aus ihren Fängen lässt, wer sich ihr nicht stellen mag. Und das gilt für Star ebenso, wie es für Walk und Martha gilt. Deren mögliche Beziehung – ergo Zukunft – an dieser Vergangenheit zerbrochen ist, so, wie Stars gesamtes Leben an dieser Vergangenheit zerbrochen ist. Und dann gibt es auch eine ganze Riege von Menschen, die sich ihr eigenes Bild machen, die auf ihre Art und Weise partizipieren wollen und dabei irgendwann – auch, weil sie selbst viel zu tief in Geschichten und eine eigene Vergangenheit verstrickt sind – bereit sind, über Leichen zu gehen. Und damit das nächste Unheil im Leben derer anrichten, die versuchen, dem Unheil ihrer Eltern und der Elterngeneration zu entgehen.
So trägt und treibt Stars früherer Arbeitgeber, der sich wohl auch als ihr Beschützer verstanden wollte, die Gewalt weit über die Staatsgrenzen hinaus und weiter in das Leben von Duchess und Robin hinein. Und auch dieser Mann ist – wie Walk schließlich feststellen muss als er ihn verfolgt und, als er ihn stellt, all seine Grundsätze und Prinzipien als Polizist über Bord wirft – auch dieser Mensch ist letztlich nur ein Getriebener, ein Mann, der Zwängen untersteht und verlorenen Träumen nachjagt und einer Verantwortung gerecht zu werden sich bemüht, die auch ihn zu früh im Leben getroffen hat. Und dessen Strafe schließlich ein weiteres Opfer bedeutet, welches nichts, aber gar nichts, mit all den Händeln all dieser Menschen zu tun hatte.
Whitaker erzählt eine sehr amerikanische Geschichte. Er erzählt von der Gewalt, er erzählt von der Gnadenlosigkeit dieses Landes und er erzählt davon, dass selbst dort, wo Generationen und Generationen die letzte Hoffnung sahen, im äußersten Westen, im Land, wo Milch und Honig fließen, in Kalifornien, letztlich genau die Gesetze gelten, die auch in den Weiten des Westens immer gegolten haben: Das Recht des (vermeintlich) Stärkeren. Es ist dieses „Gesetz“, dieses „Recht“, auf dem dieses Land errichtet wurde. Wenn er die Handlung (oder, genauer, einen Teil der Handlung) nach etwa der Hälfte des Romans nach Montana verlegt, wo Duchess und Robin zumindest eine Weile Unterschlupf und damit Frieden bei ihrem Großvater finden, bis sie auch dort die Vergangenheit und damit die Gewalt einholt, so trägt der Autor genau dieser Geschichte der Gewalt, die so wesentlich im Westen geschrieben wurde, Rechnung.
VON HIER BIS ZUM ANFANG ist ein überzeugendes Drama um eine Gruppe einstiger Freunde, deren Leben durch einen einzigen Fehler bestimmt und teils zerstört wurde. Und es ist eine packende Geschichte darüber, wie ein Fehler ein weiteren und noch einen weiteren nach sich zieht, bis eine ganze Kette an Fehlern das Leben der Menschen, die sie betreffen, bestimmen und definieren. Es ist ein zutiefst trauriges Buch, es ist ein Pageturner und – ja, auch das – ein Thriller oder Krimi, dem es gelingt, die Spannung aufrecht zu erhalten und zu guter Letzt mit einem Twist aufzuwarten, der es in sich hat und den Leser mit dem äußerst unguten Gefühl zurücklässt, dass da der Staffelstab des Schicksals bereits weitergereicht wurde. Der Schmerz wird nicht aufhören. Niemals.