ZU STAUB/THE LOST MAN

Ein grandioses, als Thriller verkleidetes Familiendrama, das sein Publikum ins Outback entführt

Vielleicht sind die besten Thriller meist jene, die über sich, ihr Sujet, das Genre hinausweisen und den Leser*innen Grundlegendes über das Wesen des Menschen nahebringen. Schaut man einmal genau, findet sich gerade in der sogenannten Weltliteratur so manches, was sich zumindest als Kriminalroman entpuppt. Gleich ob man Dostojewski oder Faulkner anführt.

Der australisch-britische Autorin Jane Harper ist mit ZU STAUB (THE LOST MAN, 2018; Deutsch 2019) ein Beispiel für solch einen großartigen Thriller gelungen. Ein herausragendes Beispiel dafür, was einen solchen ausmacht, was ihn großartig macht. Ein Werk, das weit, weit über sich selbst und sein Grundanliegen der Spannungserzeugung hinausreicht, ohne nun den Vergleich mit einem Dostojewski oder einem Faulkner anstrengen zu wollen. Das wäre dann nicht nur zu hoch gegriffen, es wäre auch unfair. Denn Harper will gar nicht in solche Gefilde hinauf. Sie will offenkundig unterhalten, dabei sich und ihr Publikum aber nicht unterfordern, sondern auf hohem Niveau Spannung erzeugen. Was sie dabei sehr genau versteht, ist die Tatsache, dass wahre Spannung meist im Zwischenmenschlichen entsteht, nur selten durch Action.

Atmosphärisch ausgesprochen dicht erzählt Harper von einem möglichen Verbrechen, welches in der Einsamkeit des australischen Outback geschieht. An der Grenze zweier Farmen, die von zwei Brüdern bewirtschaftet werden, wird die Leiche des einen – Cameron – gefunden, allerdings ohne eindeutige äußere Anzeichen von Gewaltanwendung. Ist er verdurstet, ein Mann, der die Gefahren des Landes nur zu genau kannte und wusste, wie er sich unterwegs in der Einöde zu verhalten hat? Nathan, der andere Bruder, kommt bald ins Grübeln. Ebenso sein Sohn Xander, der ihn über die Weihnachtsfeiertage besucht, lebt er doch sonst im 1.500 Meilen entfernten Brisbane bei seiner Mutter. Wie seinem Vater kommt auch dem Sohn manches an diesem „Fall“ merkwürdig vor; einem Fall, den die örtlichen Behörden – bestehend aus einem Polizisten, der für ein Gebiet nahezu so groß wie die halbe Bundesrepublik zuständig ist – gar nicht als solchen einordnen.

Nach und nach entblättert sich vor dem Leser die Geschichte der Familie Bright, wie sie sich Nathan im Laufe der dem Fund folgenden Tage aufdrängt, wie sie in ihm hochkommt. Alte Verletzungen, alte Geschichten. Eine zerrüttete Ehe, ein gehasster Schwiegervater, eine dysfunktionale Familie. Es kommt hoch, weshalb er und der Rest seiner Familie – zu der neben seiner Schwägerin und deren Kindern auch seine Mutter und der dritte, sehr viel jüngere Bruder Bub gehören – vier Autostunden voneinander entfernt leben und sich nur selten begegnen. Und weshalb er, Nathan, ein Leben in der absoluten Einsamkeit gewählt hat. Und nicht zuletzt erfahren die Leser*innen, weshalb Xander seinem Vater manches Mal misstraut und ihn doch liebt und sich anders wünscht, als er ist.

Harpers Stil ist so staubtrocken wie das Land, durch das diese Protagonisten sich bewegen, sich bewegen müssen, da es ihre Heimat ist und es ihnen schwerfällt, diese hinter sich zu lassen; auch wenn so mancher von ihnen bereits mit dem Gedanken gespielt hat, sie zu verlassen. Die Autorin lässt ihre Leser*innen an den Bedingungen teilhaben, unter denen diese Menschen hier leben, vermittelt diese Bedingungen unfassbar plastisch, packend und genau. Spürbar und in ihrer Tragweite immer nachvollziehbar ist auch die Lakonie, mit der hier auf den Tod, das Schicksal generell, reagiert wird; nicht aus Menschenfeindlichkeit oder Desinteresse, sondern aus schlichter Notwendigkeit. Es muss weiter gemacht werden, da sonst die Farmen, die Familien, die Beziehungen untereinander, das Leben selbst nicht mehr funktionierten. Und zugleich – und da wird aus einem guten Roman dann ein grandioser – spürt man doch immer den Schmerz, die Sehnsucht, die Einsamkeit und auch die sich langsam verlierende Hoffnung, die unter den so lapidar anmutenden Oberflächen dieser Menschen schlummern.

Harper skizziert ihre Figuren oft nur mit wenigen Worten, gibt ihrem Publikum eher zarte Hinweise, wer diese Menschen sind, wie ihre Leben verlaufen sind und wovon sie einmal geträumt haben – und doch gelingt es ihr, sie allesamt zum Leben zu erwecken, sie authentisch und lebensecht werden zu lassen. Dabei sind die sich hinter den einzelnen Lebensläufen verbergenden Geschichten nicht einmal übermäßig dramatisch. Da sind vergangene Lieben, die unerfüllt blieben, da ist immer wieder häusliche Gewalt, wie sie uns allen literarisch und in der Realität leider viel zu häufig begegnet, das sind eine unterdrückte Wut, das Gefühl respektlos behandelt zu werden, manchmal vielleicht auch einfach nur Langeweile in einer Umwelt, die kaum etwas zu bieten hat und in der nur überleben kann, wer dieses Land aus sich selbst heraus zu schätzen weiß. Ein Land, welches man wahrscheinlich nur meditativ wahrnehmen kann, um seine Geheimnisse zu erfahren.

Es sind also ganz herkömmliche menschliche Verhaltensweisen, die diese Figuren antreiben. Doch vor der Kulisse der Wüste, der Einöde, in einer Gegend, in der alles schon lange, bevor es uns erreicht, sichtbar ist, in der die Zukunft also nahezu berechenbar scheint, werden diese durchschnittlichen menschlichen Triebe und An-Triebe plötzlich überlebensgroß, bekommen grundlegende Dimensionen. Der Mensch scheint hier aller Fassade, jeglichen Schmucks entblößt, reduziert wird er auf sein Wesentliches. Und das, was da zum Vorschein kommt, ist oft hässlich, gemein, verkommen gar. Aber zugleich – Camerons Geschichte, die Geschichte des großen, weil toten, Abwesenden in diesem Reigen, steht stellvertretend dafür – begreifen die Leser*innen, dass es vielleicht gerade die Durchsichtigkeit der Wüste, die Übersichtlichkeit, die Weitsichtigkeit dieser Einöde ist, die hilft, das Grausigste zu kaschieren. Und das dann aber Jahre, nachdem es geschah und andere zerstörte, doch ans grelle, gleißende Tageslicht drängt und zeitverzögert dramatische Ereignisse in Gang setzen kann.

Harper beherrscht ihr Material konsequent und stilsicher, sie führt den Leser durch diese gut 400 Seiten, derer keine zu viel ist, und versteht es völlig ohne billige Tricks die Spannung aufrecht zu erhalten und das Publikum doch zu überraschen. Bliebe kritisch anzumerken, dass zum Schluss des Romans die Dinge ein wenig zu gefällig aufgehen, alles ein wenig zu passend an seinen scheinbar immer schon vorgesehenen Platz rückt. Das unterminiert ein wenig die Kraft und innere Logik der Erzählung, denn wie die meisten Leser*innen wahrscheinlich wissen, lassen sich teils jahrzehntealte Verletzungen und Demütigungen nicht so eben mal reparieren. Selten kann der Mensch sich so einfach lösen vom Schmerz, in welchem er sich eingerichtet hat, der ihm im Laufe der Dekaden auch zu seinem Zuhause geworden ist. Selten, dass wir einfach da anschließen können, wo wir vor 20, 30 Jahren aufgehört haben, falsch abgebogen sind. Denn die Jahre dazwischen haben uns ja ebenfalls geformt. So sind die letzten Seiten dieses Romans vielleicht von einer Hoffnung geprägt, die eher utopischen Charakter hat und weniger den zuvor geschilderten Ereignissen und emotionalen Ausnahmezuständen der Beteiligten entspricht.

Und dennoch: ZU STAUB ist ein wirklich gelungenes Familiendrama, welches sich das Gewand des Thrillers umlegt, es ist ein packender Roman, der mit glaubwürdigen Figuren, einem brillant geschilderten Setting und einer spannenden Story aufweist und über seine Gesamtlänge absolut zu überzeugen versteht.

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