ZUR SEE

Dörte Hanens dritter Roman - diesmal widmet sie sich einer der friesischen Inseln

Dörte Hansen, promovierte Soziolinguistin, ist der deutschen Öffentlichkeit spätestens seit ihrem Debutroman ALTES LAND (2015) ein Begriff. Seither hat sie mit MITTAGSSTUNDE (2018) und zuletzt ZUR SEE (2022) zwei Folgebände vorgelegt und so langsam kann man im Wirken der Autorin ein Programm erkennen.

Hansen bleibt zunächst ihrem Thema treu: Norddeutschland im Laufe der Zeit, die Veränderungen und Entwicklungen, die diese Landschaft und ihre Menschen prägen, manchmal deformieren. Und wie es zu diesen Veränderungen kam, respektive kommt. Diesmal geht sie auf eine der friesischen Inseln, nie benannt aber irgendwo zwischen Jütland und Zeeland verortet, und widmet sich dort der Geschichte der Familie Sander. Vater Jens, einst Kapitän, nun ein Eremit in einem Vogelschutzgebiet der Insel, Mutter Hanne, die die Familie, die langsam zerfällt und sich zerstreut, zusammenzuhalten sich bemüht, die Tochter Eske, Pflegerin im Seniorenheim und leidenschaftliche Verehrerin des schweren Beats von Heavy-Metal-Bands, der älteste Sohn Ryckmer, auch er ein ehemaliger Hochseekapitän, der in die Wand einer jener oft als Seemannsgarn abgetanen „Monsterwellen“ blicken musste und seitdem auf der Inselfähre mit seiner Uniform für Folklore sorgt und ansonsten auf den einen, der perfekten Sturm wartet, und schließlich Henrik, der Jüngste, ein Künstler wider Willen, den es nie auf ein Schiff, nie auf die See gezogen hat, der immer zufrieden war, wenn ihm der Strand gehörte und das, was dort angespült wird. Sie alle gehören einem Geschlecht an, das nahezu 300 Jahre von der Seefahrt gelebt hat und langsam begreifen muß, wie dieses Leben an ein (natürliches?) Ende kommt und man stattdessen versuchen muß, mit der Zeit zu gehen. Und das bedeutet damit klarzukommen, daß der Tourismus das Geschäft der Zukunft ist.

Hansen beschreibt in einem ausgesprochen lakonischen Ton ein Jahr im Leben dieser Menschen. Ihre Anliegen, Ängste und Probleme – vor allem Ryckmer ist ein heilloser Alkoholiker, den seine Mutter unter ihre Fittiche genommen hat, die dafür sorgt, daß er seinen Pegel hält und doch arbeitsfähig bleibt, obwohl er im Laufe des beschriebenen Jahres gleich mehrfach den Job wechseln muß – aber auch ihre Träume und Hoffnungen sind der Gegenstand des Romans. Das erzählt die Autorin allerdings nur selten anhand konkreter Szenen. Sie berichtet wie aus einer Chronik, mal in Engführung, mal in großen Überblicken. Es gelingt ihr auch hier, dem Leser diese Menschen nahezubringen und ihnen doch ihre Eigenarten, auch das Fremdartige, zu lassen, das sie ausmacht. Allerdings drängt sich schon auf den ersten 20 Seiten der Eindruck auf, daß die Erzählerin anders als in den Vorgängern von etwas erzählt, das sie selbst nur aus Büchern und aus Anschauung kennt, nicht, weil sie es erlebt hat. Dieses Erlebt-Haben machte eine Menge des Charmes vor allem in MITTAGSSTUNDE aus.

Hier, in ZUR SEE, spiegelt die Autorin die eigene Position, indem sie bald schon von jenen erzählt, die Hanne Sander nicht mag, die Leute „mit den Händen in den Taschen“. Also jene, die fremd sind, sich die Gischt um die Nase wehen lassen, im Wind stehen und ihn schmecken, die aber nicht wirklich wissen, was das Leben auf der Insel bedeutet. Offenbar gehört Hansen selbst zu diesen Leuten, die sich die Insel aneignen, ohne sie wirklich zu verstehen. Und so verfällt sie gelegentlich in jenen raunenden Ton, der so viele Seemanns- und Inselgeschichten ausmacht. Immer schwingt da das Sagenhafte, die Legende mit.

Hansen, vor allem auch Linguistin, verweist allerdings auch auf jene, die einst damit begannen, das Friesische zu untersuchen und die alten Idiome, die inselsprachen festzuhalten und zu konservieren. Auch die gab es, sie kamen Jahr um Jahr und befragten die Inselbewohner nach den Sprachen und alten Geschichten und Hanne Sander war irgendwann bereit, ihnen Rede und Antwort zu stehen. Es mögen Studenten wie Dörte Hansen gewesen sein, die sich dieser Aufgabe widmeten. Hanne ihrerseits hatte schon vor langer Zeit damit begonnen – gegen den Willen ihres Mannes, der nun bereits seit zwanzig Jahren auf seiner Vogelinsel lebt und sich zurückgezogen hat – Fremdenzimmer zu vermieten und damit die finanzielle Lage der Familie aufzubessern. Zugleich aber leistete sie damit eben auch den Veränderungen Vorschub, die nicht nur ihre Tochter Eske als Bedrohung wahrnimmt: Das „Echte“ nämlich geht verloren, wird Folklore, kommt zur Aufführung für die Touristenströme, für die Gutgläubigen, die Sucher des Authentischen, denen die ehemaligen Insel-Fischer nun zugekaufte Krabben als Frischfang vom Morgen verkaufen.

Und so langsam kommt man dann zum Programm, das man Dörte Hansen nun nach ihrem dritten Roman zu unterstellen beginnt. Irgendwann nämlich stellt sich die Frage, ob die Autorin letztendlich eine tiefsitzende Verachtung gegenüber den Fremden empfindet. Den Fremden – nicht Ausländern, Flüchtlingen, Exoten oder komplett Andersartigen – , die in diese kleinen Städte kamen und kommen, gleich ob als Stadtflüchtlinge, wie in ALTES LAND, oder Vermesser und Landarbeiter, die in den 60er Jahren die Umgehungsstraßen bauten und damit „die Welt“ in kleine nordfriesische Dörfer brachten, wie in MITTAGSSTUNDE, oder eben die Touristen, die in ZUR SEE kommen, die Insel nicht begreifen, angeblich das Authentische suchen, dann aber beleidigt sind, wenn es nicht ihren Vorstellungen entspricht. All das gab und gibt es ja. Andererseits hat es immer auch eine Kehrseite. Die wird von Hansen allerdings – hier mehr als in den Vorgängern – ebenfalls thematisiert. Denn die Fischer und die Seeleute, die Kapitäne und Walfänger, die diese Inseln einst hervorbrachten, sie alle können von ihrem Handwerk kaum mehr leben. Die ungenutzten Räume des eigenen Hauses für den Fremdenverkehr zu öffnen, bedeutete auch einen gewissen Wohlstand und ein Überleben.

Der Leser fragt sich mittlerweile, ob es immer nur darum gehen kann, diese Missstände, wenn es denn welche sind, anzuprangern, ohne je Alternativen aufzuzeigen? Oder ob diese immer auch in einem grundmelancholischen Ton geschriebenen Geschichten einfach ein alternativloses Betrauern einer Vergangenheit darstellen, die vor allem eben eins ist: vergangen. Dann aber hätte man es mit Sentiment zu tun, was unerträglich wäre. Und das Hansen, dafür weiß sie Sprache zu genau einzusetzen, um jeden Preis vermeiden will und auch vermeidet. So berichtet sie aus dem ganz normalen Leben von Menschen, an denen die Zeit gelegentlich vorbeigezogen ist. Als Kontrapunkt setzt sie einen Pfarrer, der seinerseits einst auf die Insel kam und hier ansässig wurde, gemeinsam mit Frau und Kindern, die nun aber fort sind, die Ehe zur Wochenendbeziehung abgeflacht. Und Hansen berichtet – ziemlich genau zur Mitte des Buchs – von einem gestrandeten Pottwal, der am Strand verendet und der den Einheimischen eine Menge Ärger bereitet, den Touristen zur Attraktion wird und dem Leser zum Symbol. Symbol einer Kultur, die schließlich an ihrer eigenen Schwermut, dem Ballast der eigenen Geschichte, zu verenden droht.

Es dauert dann, bis der Leser merkt, daß Dörte Hansen es sich doch nicht ganz so einfach macht. Daß sie sehr wohl hinschaut und sieht, daß es nicht nur die Kräfte des Außen sind, die da an der Veränderung und letztlich auch Vernichtung der traditionellen Inselkultur arbeiten und wirken. Sondern daß es durchaus auch die Dispositionen in dieser Familie Sander sind, die, stellvertretend, langsam auseinanderbricht und erst durch einen Schicksalsschlag wieder zueinander findet. Ein Schicksalsschlag, der auch den Leser hart trifft. Der aber auch dazu beiträgt, daß zumindest einige dieser Figuren zu innerem Frieden und ein bisschen so etwas wie Erlösung finden. Allerdings hat man sich zu diesem Zeitpunkt doch schon recht viel geärgert über dieses Buch, das aber hervorragend geschrieben ist, auch wenn es nur leidlich unterhält und selten wirklich zum Nachdenken anregt.

Man ist gespannt auf die nächste Lieferung aus dem norddeutschen Raum.

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