ALTES LAND

Große Fluchten, kleine Fluchten

Wir sind ja alle erfahrene Leser. Hartgesotten. Kenner. Durch Wüsten gewandert mit Karl May, über Meere gefahren mit Joseph Conrad, ins All geflogen mit Jules Verne; waren in Monte Christo und Brideshead, haben der Blechtrommel gelauscht und dem Weißen Rauschen, haben im Schlachthaus Nummer Fünf gezittert, die Enden der Parabel erforscht und an Parfums geschnuppert, die zu aromatisch waren für diese Welt…und dennoch gibt es immer noch und immer wieder Momente, da erwischt uns ein Satz, vielleicht nur ein Wort im Kontext einer Erzählung derart, daß uns die Tränen überschießen und wir haltlos sind, wehrlos und auch hilflos im Angesicht des Schmerzes eines andern, in Anbetracht der Würde, die Schmerz verleihen kann. Momente, in denen wir uns einmal mehr bewußt werden, warum es die Literatur ist, die uns immer durch alle Schutzwälle unseres Innern hindurch erschüttern kann. Solch einen Moment hatte der Rezensent mit Dörte Hansens ALTES LAND und bei allem, was dem Roman vorzuwerfen ist – allein dafür gehört ihm Respekt gezollt.

Die Linguistin und Sprachkennerin Hansen erzählt in ihrem ersten Roman davon, wie Anne, Mutter eines Jungen in Hamburg-Ottensen, nachdem sie entdeckt, daß ihr schriftstellernder Gatte mit seiner Lektorin fremdgeht, ins Alte Land flieht, südlich der Elbe, hinter Stade, wo ihre Halbtante Vera lebt. Die kam dort in den letzten Kriegstagen mit ihrer Mutter an, flüchtig aus Pommern, preußisch bis in die Knochen. Die Mutter, die zunächst den Sohn des Hauses, wo sie einquartiert wurden, heiratete, dann aber – ohne ihr Kind – nach Hamburg ging und sich dort mit einem Architekten zusammentat, der das Wirtschaftswunder in vollen Zügen genoß. Diese Vera hat ihr Leben als Fremde in fremder Umgebung an der Seite ihres von Stalingrad albträumenden Stiefvaters verbracht, bis es ihr zuviel wurde und sie ihn sanft überredete, ein Mittel zu nehmen. Hier nun laufen die Familiengeschichten zusammen: Die Frau, die ein Leben als Flüchtling – zunächst als realer, später als „innerer“ Flüchtling – verbracht hat und ihre Halbnichte, Tochter ihrer viel jüngeren Halbschwester, die als moderner Beziehungsflüchtling ins Alte Land kommt und sich müht, da Fuß zu fassen, wo schon ihre Oma nicht Fuß fassen konnte.

Gerade die Sprache ist uns ja Heimat. Und so wird das Plattdeutsch, das im Alten Land gesprochen wird, zu einer hermetischen Ausschlußtechnik, doch ist es nicht die einzige. Die Provinz tut sich schwer mit dem Fremden. Da bringt die flüchtige Ostpreußin nicht nur die Härte des protestantisch-preußischen Pommern mit sich, sondern auch die derjenigen, die auf der Flucht ein Kind verloren, das andere – eben Vera – unter fürchterlichen Umständen durchgebracht hat. Das Kind, das sie dann hinter sich lassen mußte, war es doch ewiges Zeichen dessen, was verloren gegangen war in jenen brutalen und schrecklichen letzten Kriegsmonaten, als Millionen von der Roten Armee gen Westen getrieben wurden. Und doch bringt die Provinz kein Mitleid auf. „Polacken“ werden sie geschimpft und Vera wird sich mit allen Mitteln durchsetzen müssen in dieser neuen, aufregenden und bedrohlichen Umgebung. Ihre Mutter wird weiter fliehen. Diese Prosa ist spröde wie ein norddeutsches Sprichwort. Eher in Skizzen werden diese Menschen uns dargestellt – Vera, die sich wider alle Umstände ein Studium und den Respekt ihrer Altersgenossen in der fremden Umgebung erkämpft hat; Nachbar Heinrich „Hinni“ Lührs , der es gern „schier“ hat, der sich nun, im Alter, öfters fragt, wie das wohl gewesen wäre, wenn er mit der Vera…und der gewärtigen muß, daß er zwar drei Söhne, aber keinen Erben für den Hof hat; Bauer Dirk zum Felde, der sich einen Sch… schert um Öko etc. und weiter seine Obstbäume mit allem spritzt, was hilft und sich bedrängt fühlt von den Stadtflüchtigen, jenen „Kreativen“ aus Hamburg, die es mal „mit dem Landleben“ versuchen wollen; zum Beispiel Burkhard Weißwerth, der sich mit seiner Frau Eva hier niedergelassen hat und recht eigentlich alles pittoresk findet, zumindest solange es neu ist; schließlich Anne, für die als Schwester eines musikalischen Wunderkinds nie so richtig etwas abfiel von der elterlichen Aufmerksamkeit und die etwas verloren durch ein Leben driftet, das sie so nie gewollt hat, das sie aber anzunehmen bereit ist.

Anne wird sich schließlich des alten Hauses annehmen, das Vera via ihres Stiefvaters Karl geerbt und nie versorgt hat, Anne wird dafür sorgen, daß die 32 morschen Fensterrahmen erneuert, die Wände trocken gelegt und die Stützbalken gestärkt werden. Sie wird hier eine neue Existenz aufbauen, die auf ihre posthistorische Art ähnlich beschädigt ist, wie es die historischen Existenzen jener gewesen war, die hier einst ankamen, mit nichts als den Klamotten am Leibe. Es gelingt Hansen, diese beschädigten Leben eindringlich lebendig zu machen, dem Leser mit wenigen aber treffenden Beschreibungen diese Menschen mit ihren Eigenarten und Marotten nahezubringen. Die Sprache ist ihr dabei das wohl eigentliche Mittel. So, wie der Leser manche der plattdeutschen Sätze zwei-, dreimal lesen muß, um sie zu verstehen, kann er begreifen, wie das gewesen sein wird, wenn man als vollkommen Fremder in diese Gemeinden kam, die einen nicht willkommen hießen. Und anhand der Hildegard von Kamcke, Veras Mutter, wird dem Leser anschaulich gemacht, daß diese Flüchtlinge auch eine Härte mit sich brachten, die viele nicht gewohnt waren, mit der viele nicht umgehen konnten. Im Streit Hildegards mit ihrer Schwiegermutter, der für letztere mit Suizid endet, wird auch die innere Verletztheit deutlich, die es nicht erlaubte, Mitleid aufzubringen. Ein Wechselspiel zwischen jenen, die kamen und jenen, die aufzunehmen hatten. Heute wird gern gesagt, die weitestgehend friedliche Aufnahme und Integration von nahezu 14 Millionen Ostflüchtlingen sei das eigentliche Wunder nach dem Krieg gewesen – ein Buch wie dieses verdeutlicht uns, was sich hinter einer solchen Aussage durchaus AUCH verbirgt.

Kritisch muß allerdings betrachtet werden, daß Hansen die verschiedenen Arten von Flucht gleichzusetzen versucht. Die Ostpreußen hätten ihre Ländereien ja nie verlassen, wäre nicht die Rote Armee angerückt und wäre dieser nicht der grausliche Ruf vorausgeeilt, der es ja nunmal tat. All die Burckhards, die Stadtmüden, die ihre Karrieren bereits hinter sich haben oder auf deren Spitze ausgestiegen sind, aber auch Anne, die aus einer Beziehung flieht mit einem Mann, der recht holzschnittartig als „typisch“ Ottensen dargestellt wird – diese Postmodernen mit ihrem Hang zum kitschig verbrämten Landleben als Hort einer Vergangenheit, die es nie gab, suchen im dörflichen Leben ja etwas, das sie letztlich nicht aushalten. Und so fallen dann die Beschreibungen dieser auch leider eher klischeehaft aus. So tief Hansen in das Leid der „wahren“ Flüchtlinge eindringt und so stark es ihr gelingt, die Beschädigungen einzufangen, die diese Fluchten damals mit sich brachten, die Gegenwärtigen zu zeichnen gelingt ihr weitaus weniger. Bis hin zu jenen Ottenser Müttern, die als Hamburger Äquivalent zu den Berliner Latte-Muttis im Prenzlauer Berg beschrieben werden, wirkt das teils derart beschränkt, daß man als Leser nicht mehr folgen mag. Zu billig, diese Schickeria-Tussen gegen das „ehrliche“ Landvolk auszuspielen, das das Herz am rechten Fleck und im Notfall auch vormittags ein Bier im Kühlschrank hat. Daraus ergibt sich ein weiterer Kritikpunkt: Das Landleben wird ein wenig zu idyllisch gemalt. Daß Landleben auch Enge bedeutet und mangelnde Entfaltungsmöglichkeit, diese Tatsachen (und die Literaturszene hat in den vergangene Jahren verschiedentlich – mit Jan Brandt oder Christoph Peters – Autoren hervorgebracht, die genau das beschreiben) werden hier geflissentlich außer Acht gelassen.

Dennoch: Dörte Hansen ist ein ganz gutes Buch gelungen, für einen Debutroman allemal. Da sind ebenso Anklänge des Heimatromans mit drin, wie es Anleihen an Spukhausgeschichten gibt, da wird die Sprache als Heimat und die Heimat als Ort der Vergangenheit thematisiert, da wird dem Leser noch einmal verdeutlicht, wie Geschichte funktioniert und wie weitreichend ihre Fänge sein können. Und all das wird anhand eines durchaus liebenswerten Panoptikums an lebensechten Figuren verhandelt. Und obwohl sich ab der Hälfte des Buches ein Happyend aufdrängt, vermeidet Hansen dieses. Nein, Beschädigungen, das weiß diese Autorin, Beschädigungen einer gewissen Wucht, sind nicht so einfach zu reparieren. Das Beste, was sie ihren Figuren geben kann, ist ein wenig Ruhe, etwas Schlaf.

Ein schmaler Band von gerade mal 287 Seiten, dem man viele Leser wünscht. Und von der Autorin bitte mehr. Viel mehr!

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