MITTAGSSTUNDE

Dörte Hansens zweiter Roman bügelt die Schwächen ihres Erstlings aus und überzeugt auf ganzer Linie

Die Mittagsstunde, jene Zeit, in der der Tag für einen Moment innehält, ist eines der vielen, vielen Rituale einer – wie man so gern sagt – untergegangenen Welt, der Dörte Hansen in ihrem zweiten Roman MITTAGSSTUNDE (2018) Tribut zollt. Nach ihren überraschenden Debut ALTES LAND (2015) legt die Autorin nach und entführt den Leser diesmal ins nördlichste Norddeutschland und in eine Zeit, die weit entfernt, wie eine abgeschlossene Vergangenheit, wirkt. Und die doch nie abgeschlossen, vielleicht nicht einmal vergangen ist.

Es sind die frühen 60er Jahre, das Land hat sich erholt, der Krieg ist erfolgreich verdrängt, man ist wieder wer und bricht in die Zukunft auf. Das bringt es mit sich, daß die Moderne nach und nach auch in die entlegeneren Winkel des Landes vordringt, wie zum Beispiel die Geest. Jene Landschaft Nordfrieslands, über die der Wind hinwegfegt, deren Böden wenig Ertrag erbringen und die über Jahrhunderte ihren Einwohnern ein lediglich karges Auskommen beschert hat. Es kommen Landvermesser in die Gegend, Flurbereinigung, es sollen Umgehungsstraßen gebaut werden, man will die Bedingungen für den zunehmenden Autoverkehr verbessern, nimmt dabei allerdings wenig Rücksicht auf die Struktur der Dörfer und erst recht nicht auf die Bedürfnisse der Bewohner dieser Dörfer. Allerdings hinterlässt die Modernisierung hier und da etwas, was wahrscheinlich nie gewollt war – tote Kinder bspw., die nicht verstanden haben, daß die Dorfstraße nicht mehr jener in der staubigen Mittagsstunde brachliegende Spielplatz ist, welcher sie doch immer gewesen war. Und ab und an bleibt auch ein lebendiges Kind zurück, wenn sich einer der Fremden für ein paar Stunden mit einem der jungen Mädchen aus den Dörfern vergnügt. Da spielt es kaum eine Rolle, ob diese Mädchen sonderlich hübsch, eloquent oder intelligent sind. Man zieht weiter und kümmert sich nicht um das Gestern.

Eins dieser Mädchen ist die leicht beschränkte Marret, die in ihrer eigenen Welt lebt, den Eltern, die die Dorfkneipe betreiben, kaum eine Hilfe, allerdings oft eine Belastung ist. Und die ihnen – ungewollt – bald ein Enkelkind beschert. Das ist Ingwer Feddersen, der nun, in den frühen Jahren des neuen Jahrtausends, in sein Heimatdorf zurückkehrt, um sich um den Großvater zu kümmern. Der steht mit seinen über neunzig Jahren immer noch hinter dem Tresen des Wirtshauses und zapft das Bier und steht stoisch für eine Zeit, die Ingwer als Kind noch kannte und deren Zeichen nach und nach verschwunden sind. Keine Geschäfte mehr im Dorf, kein Bäcker und kein Tante-Emma-Laden, kein Vieh, die Felder mittlerweile in monotoner Maisbewirtschaftung und die Störche sind auch verschwunden. Ingwer, der sich einst aufmachte, aus dieser Welt auszubrechen und seit über zwanzig Jahren in einer wilden WG in Kiel lebt, wo er als Biologe an der Universität arbeitet, sieht sich mit den Veränderungen konfrontiert, die vor seiner Geburt begannen, und die mittlerweile die alte Welt, das alte Land, das alte Leben, restlos verdrängt zu haben scheinen.

Dörte Hansen, von Haus aus Linguistin, beweist auch in ihrem zweiten Roman ihr tiefes Sprachverständnis und nutzt das Plattdeutsche bewusst, um eine zutiefst melancholische Geschichte zu erden, ihr die letzte Schwere zu nehmen, sie in einen alltäglichen Kontext zu setzen. Anders als im Erstling, erzählt sie diesmal direkt von jener Gegend, die sie kennt, in der sie selbst einst aufwuchs und deren Bewohner sie durch und durch versteht. Vielleicht liegt es daran, daß dieser Roman – bei allen Qualitäten, die ALTES LAND unzweifelhaft hatte – kohärenter, runder, in sich geschlossener wirkt. Wie dort, stellt sie auch hier modernes, urbanes Leben dem alten Landleben gegenüber, verbindet die Zeiten miteinander, indem sie jemanden zurückkehren lässt, reflektiert sowohl das Leben der Gegenwart und jenes von einst, allerdings ohne das eine gegen das andere auszuspielen oder auch nur zu urteilen. Die Figuren wirken echter, authentischer, die Sprache angemessener, die einzelnen Teile greifen gut ineinander, fallen weniger, als im Debut zuvor, auseinander.

Dort nämlich kontrastierte die auch literarisch packende Geschichte jener Frau, die einst in eine ihr nicht wohlgesonnene Gemeinschaft im titelgebenden Alten Land kam, jener Kulturlandschaft südlich von Hamburg, in der sich endlose Reihen von Apfelbäumen erstrecken, und ihr einen eigenen, sehr eigenen Stempel aufzudrücken verstand, mit der einer jungen Frau, die nach Jahren in Hamburg zurückkehrt, um einer zerriebenen Liebe zu entkommen. Und diese beiden Teile des Romans kamen nur schwer zueinander. Das lag vor allem daran, daß die Figuren der Gegenwart zu sehr den Klischees des modernen Großstädters entsprachen – Nebenhandlungen erzählten von eben diesen, die ihre Zukunft im entschleunigten Landleben zu finden hofften und nicht nur an den Bedingungen dieser Entschleunigung scheiterten – während sowohl Vera Eckhoff, das einstige Flüchtlingskind, als auch jene des Hinni Lührs, der ihr aus eben jenen frühen Tagen tief verbunden ist, starke, literarisch ausgereifte Figuren waren. Nun, in der MITTAGSSTUNDE, passt das alles. Die Protagonisten, auch die Nebenfiguren, sind klug und genau entworfen und ausgearbeitet, sie wirken in ihren Bedürfnissen, Wünschen und auch mit all ihren Fehlern authentisch und glaubwürdig. Hier wird nichts und niemand gegeneinander ausgespielt, der Leser begreift die Beweggründe all dieser Menschen, begreift ihre Ängste und ihre Hoffnungen und auch, daß die Zeitläufte vieles zunichtemachen, auch wenn niemand dies je beabsichtigt hat.

MITTAGSSTUNDE lässt das Vergehen der Zeit spürbar werden. Eine leise Melancholie grundiert diese Geschichte, ohne Überhand zu nehmen oder all das Erzählte gar in ein kitschiges Licht der Verklärung zu tauchen. Gerade dafür sind Hansens immer wieder eingestreute Kommentare der Alten, die sich nach wie vor op platt auszudrücken pflegen, nützlich. Viele von ihnen haben nie Hochdeutsch gelernt, auch wenn der einstige Dorfschullehrer ihnen das Platt mit allen möglichen, auch durchaus brutalen, Mitteln auszutreiben versuchte. So wird die Melancholie durch den Gleichmut, die Lakonie dieser Alten aufgefangen und auch abgemildert. Die Zeit vergeht, die Dinge ändern sich und daran kann keiner etwas ändern. Ob man unbedingt mit der Zeit gehen muß – dieser Frage muß sich Ingwer im Laufe der Geschichte stellen – ist allerdings eine andere Sache. Sönke Feddersen, Ingwers Großvater, hat sie für sich schon lang beantwortet. Und so steht er wie ein Fels in der Brandung hinter dem Tresen und trotzt dem Vergehen des Alten.

Dörte Hansen ist mit MITTAGSSTUNDE ein wahrer Heimatroman – im besten Sinne des Wortes – gelungen. Es ist ein Stück deutscher Literatur, wie man es sich nur wünschen kann in seiner Differenzierung, dem genauen Blick und dem sprachlichen Vermögen, den Leser teilhaben zu lassen und zugleich eine gesunde Äquidistanz einzunehmen. Ein Buch zum Versinken, ein Entführen in eine andere Zeit und doch auch ein kluges Stück Gegenwartsliteratur.

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