ZWIELICHT
Der zweite Band von Erasmus Schöfers Tetralogie DIE KINDER DES SISYFOS
Wie verhalten sich aus dezidiert linker Sicht die 1970er Jahre zu den 1960er Jahren? Das „rote Jahrzehnt“[1] zu jenem der Revolution, des gewollten Umsturzes, aber auch der Befreiung und der Phantasie? Verhält es sich wie die weiten Schwünge des Flusses in der Ebene zur Lieblichkeit einer Bergquelle? Wie die brütende Sonne des Nachmittags zur Morgenröte? Oder einfach wie eine Gebrauchsanweisung für einen Hoover-Staubsauger zu einem dadaistischen Gedicht?
Erasmus Schöfer wirft im zweiten Band seiner Tetralogie DIE KINDER DES SISYFOS einen ebenso politischen wie privaten, literarischen wie kulturellen, kritischen wie reflexiven Blick auf die Jahre, die 1968 folgten und eher den Mühen der Ebene zuzuschlagen sind, als den aufregenden Momenten des Aufbruchs. Den hatte Schöfer im ersten Band – EIN FRÜHLING IRRER HOFFNUNG[2] – seines Monumentalwerkes beschrieben. Nun, in ZWIELICHT, betrachtet und beschreibt er schlaglichtartig zentrale Momente der Linken und der sich aufmachenden Bürgergesellschaft in den 70er Jahren. Hatte Band I neunzehn Tage im Frühjahr 68 umfasst, jene Ostertage rund um das Attentat auf Rudi Dutschke, das zu einer weiteren Radikalisierung der Studenten und massiven Zusammenstößen mit der Polizei vor diversen Springer-Verlagshäusern, -redaktionen und Druckwerken führte, hatte Band I also Geschichte auf einen zentralen Moment verdichtet, dehnt Band II seine Erzählstruktur extrem weit aus und erstreckt sich nahezu über das gesamte Jahrzehnt. Wie auch in Teil eins, sind auch die Ereignisse im zweiten Band nicht fiktional, sondern erneut gelingt es Schöfer nahezu perfekt, seine fiktiven Figuren in historisch verbürgte Situationen und Ereignisse einzuschreiben. War es in Band I eher die studentisch-intellektuelle Theaterszene Münchens, die der Leser aus der Perspektive des arbeitslosen und auf Anstellung wartenden Historikers Viktor Bliss betrachtete, tritt nun mit der Figur Armin Kolenda ein wirklich dem Proletariat zuzurechnender junger Mann in den Fokus, der einst als Steiger in Waltrop seinen Lebensweg begann, zu dem Zeitpunkt, an dem wir ihm begegnen, aber bereits als ungelernter Journalist und Vertreter eines Werkkreises proletarischer Schriftsteller und Autoren unterwegs ist.
Schöfer lässt uns auf den ersten Seiten noch eine überhängende Geschichte aus dem ersten Band begleiten, als Viktor Bliss und eine junge Dame, zu der er sich schon zuvor hingezogen fühlte, die Glashütte Süßmuth besuchen und dort Armin Kolenda begegnen und kennenlernen, dem der Romantext dann folgt, während Bliss fast vollständig in den Hintergrund tritt. Stattdessen begegnen wir im späteren Verlauf des Romans anderen Figuren aus Teil I, allen voran Manfred Anklam, der im ersten Teil Freundschaft mit Viktor Bliss geschlossen hatte und Armin Kolenda im Verlauf der Jahre vor allem bei dessen Beteiligungen am „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ im Düsseldorfer Süden wiederbegegnet, wo sich beide an den Arbeitskämpfen um das Mannesmann-Röhrenwerk Reisholz beteiligen. Mit dem Kampf um die Glashütte Süßmuth, die eines der ersten echten selbstbestimmten, autonomen Arbeiter-Projekte in der Bundesrepublik war, und dem Arbeitskampf um das Röhrenwerk, sind die Eckpfeiler des Textes beschrieben, die längste und prägendste Episode des Romans jedoch bildet sein Mittelstück, das vom Kampf gegen das Atomkraftwerk Wyhl am Kaiserstuhl im Badischen ab 1974 berichtet. Hier findet sich Kolenda als Sozialarbeiter ein, eine Laufbahn die er vorübergehend eingeschlagen hat, und entwickelt sich hier zu einem engagierten und eben nicht nur aus proletarischer Sicht politisch Tätigen. Schöfer schildert die Aufbruchstimmung der entstehenden Anti-Atomkraft-Bewegung, er beschreibt gekonnt, wie sich scheinbar unvereinbare Schichten, Klassen und Leben vermischten und ein gemeinsames Ziel auch über scheinbar unüberwindliche Gräben hinweg sich solidarisieren lässt.
Hier erlebt Kolenda auch seine große Liebe, die er vergeigt, indem er ihr erst seine 2 Kinder und die nun von ihm geschiedene Exfrau verschweigt und dann nicht vehement dagegen protestiert, daß seine Angebetete das gemeinsame Kind abtreiben lässt. Im Gegenteil, Kolendas Verhalten muß von ihr so verstanden werden, daß er sie sogar dahin drängt. Die Beschreibungen der gemeinsamen Fahrt nach Köln, des Schweigens, der Hilflosigkeit und vor allem der absterbenden Liebe, sind literarisch hervorragend, emotional und psychisch jedoch kaum erträglich. Die ganze Tristesse einer nicht gewollten Abtreibung eines nicht gewollten Lebens zu einem Zeitpunkt, da Abtreibungen im Grunde noch illegal, gesellschaftlich vor allem geächtet waren, kommt hier auf fürchterliche Weise zum Ausdruck. Es gelingt Schöfer in diesen Zusammenhängen, wie auch in einer ganzen Reihe anderer, nicht nur politische Prozesse zu beschreiben, sondern auch die Verwicklung mit den persönlichen Leben der Protagonisten und vor allem deren persönliche Entwicklung auch und gerade durch die (gesellschafts)politischen Entwicklungen zu spiegeln und zu begründen. Kolenda ist ein bei aller links-politischen Radikalität im Kern konservativer Mann, der geprägt wurde durch einen lieblosen Vater (dessen Rolle in Kolendas Leben auch eine Rolle im Roman spielen wird), durch die eher konservativen und patriarchalen Ansichten in einer Bergarbeitersiedlung Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre. Armin Kolenda – und das ist in diesem Roman der rote Faden – erlebt eine exemplarische (männliche) Entwicklung und Emanzipation durch das „rote“ Jahrzehnt hindurch, die sozusagen immer auf der Höhe der Zeit bleiben.
All diese Entwicklungen und vor allem die Beschreibungen der politischen Arbeit haben hohen Authentizitätswert, da Erasmus Schöfer an den geschilderten Ereignissen meist beteiligt war oder aber durch Dritte eng mit den Geschehnissen verbunden. Er war Mitgründer des Werkkreises in Düsseldorf-Reisholz und maßgeblich an den Ereignissen in Wyhl beteiligt. So kann er eben nicht nur die bekannten Tatsachen referieren und hier und da ausschmücken, sondern sehr lebendige Beschreibungen sowohl der so unterschiedlichen Menschen, die sich in diesen Momenten zusammentaten und scheinbar undenkbare Koalitionen eingingen, als auch der inneren Kämpfe der extremen Linken liefern. Da Kolenda zum Journalismus tendiert – in einer langen Episode folgen wir ihm mit einer Kollegin von der DZ, der Demokratischen Zeitung, nach Frankfurt auf die Buchmesse und werden dort Zeugen einiger arroganter Auftritte schriftstellernder Kollegen wie bspw. Uwe Timm – kann Schöfer immer wieder eine Engführung zwischen Arbeitswelt und Literatur, bzw. kulturellem Zugriff und kultureller Verarbeitung der politischen Ereignisse herstellen. Dabei scheut er sich nicht, die Konflikte – auch um seine eigene Person – zu thematisieren und Ross und Reiter zu nennen. In den Werkkreisen gab es starke Auseinandersetzungen darüber, wann ein Text „proletarisch“ genug sei, und ob sich einzelne aus Narzissmus hier hervortaten; ein Angriff, den Max von der Grün explizit an Schöfer richtete, als dieser in den 70er Jahren immer weiter von der rein schriftstellerischen Arbeit weg- und zur politischen Arbeit hintendierte. Es sind diese oft mit Witz, aber vor allem mit Verve geschilderten Auseinandersetzungen, für deren Wahrheitsgehalt Schöfer seinen Figuren Umgangssprache und phonetische Lautmalerei zukommen lässt, wodurch ein Gespräch unter Mannesmannarbeitern wirklich sehr rheinisch anmutet, wie zuvor Hunderte Seiten, die in Wyhl spielen, vom badischen Idiom geprägt sind.
Die aus dem ersten Band bekannten sprachstilistischen Merkmale nutzt Schöfer also auch hier: Mundart, Dialekte und Idiome werden ausgeschrieben; der Autor nutzt seine ganz eigene Orthografie und Interpunktion; er nutzt Parallelmontagen, eingeschobene Texte der angeführten Autoren, Gedichte und Flugblätter, um sprachlich eine Welt auferstehen zu lassen, die so schon lange nicht mehr existiert und heute oft entweder wie linke Folklore wirkt, oder aber als sei der Leibhaftige auf uns niedergekommen. Schöfer, der immer integraler Teil einer bestimmten linken Szene war, der sich einer Literatur verschrieben hatte, die eingreift, die selber politisch ist, indem sie jenen eine Stimme verleiht, die meist literarisch nicht vorkommen und die sich Gegenständen widmet, die meist keine literarische Bearbeitung erfahren – die alltägliche Arbeitswelt bspw. – Schöfer legt einerseits Rechenschaft ab über eine für die Linke wesentliche, aber auch ernüchternde Zeit. Zugleich beschwört er aber auch die Ideale und Ideen noch einmal und weist damit einer Linken, die zunehmend verzagt im Angesicht einer wirklichen faschistischen Bedrohung und nach 20 Jahren Neoliberalismus, den sie teils selber mitgetragen hat (als sogenannten „Dritten Weg“), zumindest einen möglichen Aus-Weg.
So wird ZWIELICHT auch zu einer Abrechnung, Rechtfertigung und Selbstvergewisserung. Im Hintergrund rauscht die Debatte um Gewalt, um die RAF, um die Schleyer-Entführung. Und es sind diese „Nebengeräusche“, die der Roman explizit nicht zum wesentlichen Gegenstand seiner Betrachtung macht und damit auch ein Zeichen setzt: Lasst uns diese Diskussion hinter uns lassen, es ist kein Frage, Gewalt kann kein Mittel zum Zweck sein. In den oft enorm lebensnah wiedergegebenen Gesprächen bspw. unter den Arbeitern in Düsseldorf, bei denen Anklam als radikaler Linker, als Marxist, eine Sonderstellung einnimmt, kommt eben auch dieser Widerspruch zum Ausdruck: Wie sich eine Arbeiterschaft, denen es im Laufe der 60er und 70er Jahre objektiv immer besser ging, sich nicht vereinnahmen lassen will von aus ihrer Sicht arbeitsscheuen Studenten, deren „Linkssein“ so oder so rein theoretisch begründet ist und die dann meinen, ihre Analyse der Wirklichkeit gebe ihnen das Recht, Waffen in die Hand zu nehmen und für eine „Revolution“ zu töten, von der sie überhaupt keine reelle Vorstellung haben. Genau an dieser Schnittstelle von Radikalität, reellem Marxismus und denen, für die linke Politik eigentlich gemacht werden müsste, die Arbeiter, kommt der Roman zu sich selbst. Am Ende der 70er Jahre, in Anbetracht einer SPD, die sich zunehmend von den Arbeitern entfernte und zusehends eine Politik vertrat, die sich kaum mehr als „links“ definieren ließ, setzte eine Zeitenwende ein, die bis heute anhält. Die klassischen Milieus lösten sich auf und die Facharbeiter, die 30 Jahre zuvor wie selbstverständlich in die SPD geströmt wären, suchten sich neue politische Heimaten, auch bei der CDU und deren Arbeitnehmerflügel, aber auch bei den GRÜNEN, die zwar nicht vornehmlich links waren, aber dennoch mit einem alternativen und durchaus auch für Linke akzeptablen Programm antraten.
Auf den letzten Seiten des Romans kehrt Armin Kolenda heim in die Arbeitersiedlung in Waltrop, er besucht seine Mutter. Daß Schöfer dieses vordergründig versöhnliche Ende findet, in dem auch Kolendas tiefe Verletzungen hinsichtlich des Verlustes seines ungeborenen Kindes und der Mutter dieses Kindes endlich in offene Trauer umschlagen können, deutet zugleich eine Niederlage in der politischen Linken an: Ratlos nach dem „Deutschen Herbst“ und ratlos ob der Zersplitterung in unendlich viele sektiererischer Kleinstgruppen, ratlos in Anbetracht einer SPD, die vor der Selbstzerfleischung stand, begann für viele der Rückzug in die „neue Innerlichkeit“. Viktor Bliss, der uns ebenfalls in den letzten Kapiteln des Romans wiederbegegnet, wird in Band III – deprimiert ob des anhaltenden Berufsverbots, das an seiner Person in ZWIELICHT kurz thematisiert wird – genau diesen Weg beschreiten und sich auf eine griechische Insel zurückziehen. Armin Kolenda wird sich mühen, seine politische journalistische Tätigkeit wieder aufzunehmen und Manfred Anklam wird sich wieder als Betriebsrat zur Wahl stellen und – als eh bestgelaunte Figur des gesamten Ensembles – unverzagt weitermachen, denn…der Weg ist das Ziel?
Manchmal didaktisch zu durchschaubar, an einigen Stellen auch schlicht zu eitel – so schreibt sich der Autor dem Text ein, indem er Kolenda ein seitenlanges Interview mit „Erasmus Schöfer“ führen lässt, der dann gleich mal das gesamte Konzept des Romans, den man als Leser gerade in der Hand hält, erklären darf – und in seiner episodischen Anordnung ohne wirklichen inneren Zusammenhang, wirkt Schöfers Roman wirklich wie eine Bestandsaufnahme, eine meist nüchterne Aneinanderreihung linker Erfolge, Zweifel und linken Scheiterns. Das packt zeitweise, wird gelegentlich anstrengend, wenn man sich in eben genau jenen endlosen Streitgesprächen und Diskussionen wähnt, die klischeehaft all den K-Gruppen gern nachgesagt wurden, mäandert gelegentlich und weiß doch zu überzeugen, nicht zuletzt, weil Schöfer auch stilistisch der beschriebenen Dekade gerecht wird. Sicher kein Roman, der das breite Publikum erreichen kann, hat man es mit ZWIELICHT doch mit dem Dokument einer Zeit zu tun, die zugleich unendlich fern und ganz nah scheint, war sie doch zwar in hohem Maße politisiert, wusste aber die Freund-Feind-Schemata noch ganz klar zu trennen. Wenn die „neue Rechte“ sich heute explizit auf die Protestformen der 68er berufen, zeigt genau das die Kluft zwischen dann und jetzt.
[1] Koenen, Gerd: DAS ROTE JAHRZEHNT. UNSERE KLEINE DEUTSCHE KULTURREVOLUTION 1967-1977. Frankfurt a.M.; 2002.
[2] Schöfer, Erasmus: EIN FRÜHLING IRRER HOFFNUNG. Köln; 2001.