TONY & SUSAN

Text im Text im Text im Text im Text im...

Susan bekommt ein Manuskript zugestellt. Es ist von ihrem Exmann Edward, von dem sie seit über 20 Jahren nichts gehört hat. Er bittet sie, es zu lesen und ihr, wenn er sich bei ihr meldet, ehrlich zu sagen, was sie davon hält. in Susan kommen Erinnerungen hoch: Edward, ihr Jugendfreund, den sie schließlich heiratete und der sein Studium abbrach, um zu schreiben, dessen Stil sie nicht mochte, den sie zu oft kritisierte, der in Depressionen verfiel und den sie schließlich verließ, um ihren Nachbarn Arnold, angehender Kardiologen und sicherer Hafen, zu heiraten. An einem Wochenende, Arnold ist auf einem Kongreß und Susan mit den drei Kindern und ihren Ängsten hinsichtlich der Treue ihres Mannes allein daheim, setzt sie sich hin und liest das Buch. Es ist eine furchtbare Geschichte um Verlust, Trauer und die Selbsterkenntnis, feige zu sein: Tony und seine Familie sind unterwegs, nachts auf dem Highway. Sie werden abgedrängt, drei junge Männer entführen sie, getrennt: Tony wird in einem Wald ausgesetzt, seine Frau und seine Tochter verschwinden mit den Männern. Schließlich findet man sie tot auf. Und während Tony versucht, sich seinem Verlust und der Trauer um seine Lieben zu stellen, macht der Detective Bobby Andes gnadenlos Jagd auf die Mörder – bis ihm die juristischen Mittel ausgehen und er Tony fragt, ob dieser WIRKLICHE Strafe für die Mörder seiner Familie wolle…

Wenn der Text unseres Lebens und ein literarischer Text ineinander übergreifen…

Austin Wrights Buch, mittlerweile schon über 20 Jahre alt und nun dankbarer Weise neu übersetzt und aufgelegt, erweist sich als ein unglaublich geschicktes Vexierspiel. Wir, die Leser, folgen einer Leserin durch den Text eines Autors, den sie persönlich kennt, zumindest zu kennen glaubt. Wir werden nicht nur Zeuge einer wirklich spannenden fiktionalen Erzählung, also dem Buch im Buch, das als Narration nahezu schlüssig aufgeht ohne dabei reine Kolportage zu sein (und, nebenbei, auch KEIN Krimi ist!), sondern auch der Reflektion Susans über den Text, darüber hinaus aber eben auch auf ihr Leben. Sie fängt an, sich Rechenschaft zu geben. Und so, wie der Tony des fiktionalen Textes mehr und mehr begreifen muß, daß er ein Feigling ist/war, daß es immer auch eine andere Möglichkeit gegeben hätte zum eigenen Verhalten (und diese Möglichkeiten spielt der Text dann bis zum bitteren Ende durch), so muß Susan begreifen, daß sie sich einem Leben ausgesetzt hat, ohne es zu führen. Ihr Leben war Verzicht, Verzicht zu Gunsten anderer – ob Edwards, ob Arnolds, ob der Kinder. Und eimal mehr ist sie im Begriffe, zu verzichten, denn Arnold wird zurückkehren vom Kongreß mit der Entscheidung, die Familie über Hunderte von Meilen zu verpflanzen zu Gunsten seiner Karriere. Susans eigene Interessen und Bedürfnisse wurden und werden zurückgestellt, dafür hat sie sich jedoch auf andere eingestellt. Und so ist sie nach wie vor nicht in der Lage, ihrem Mann (oder auch sich selbst) die richtigen, weil entscheidenden Fragen zu stellen. Und auch Edwards Ausbleiben zum angekündigten Termin scheint sie zunächst rat- und hilflos zurück zu lassen. Doch dann, schließlich und endlich, entscheidet sie sich. Entscheidet sich, nicht mehr Spielball zu sein.

Inhaltlich ist dies schon ein großartiger Roman, doch darf man eines nicht vergessen: Wright war Literaturwissenschaftler. Und zwar einer, der die modernen Literaturtheorien offensichtlich sehr gut kannte. Womit wir es als Leser hier zu tun haben, ist sozusagen angewandte Literaturwissenschaft. Denn neben all den emotionalen Fragen, denen Susan sich, gespiegelt in Tony, zu stellen hat, muß sie sich auch mit der Frage auseinandersetzen: Wie lesen wir? Und was macht einen Text eigentlich aus? Und inwiefern MACHEN wir einen Text, während wir ihn lesen. Susan, die verzweifelt versucht, ihren drohenden Verlust (des Ehemannes) dadurch zu kompensieren, gar zu verhindern, daß sie schlicht keine Fragen stellt, muß feststellen, daß der Text eines ihr zwar vertrauten, dennoch im Grunde vollkommen unbekannten Menschen, erstaunlich viel über ihr Leben zu erzählen hat. Woher sollte Edward wissen, wie es um sie bestellt ist, 25 Jahre, nachdem sie sich getrennt haben? Und inwiefern laden wir, die Leser, einen Text mit der Bedeutung auf, die er dann hat? Und was – und da erreicht Wrights Buch eine wahre Metaebene – lesen wiederum WIR in diesen Text in einem Text hinein? Welche Bedeutung hat dieses Buch? Kann es sein, daß wir ihm unbedingt Bedeutung verleihen wollen? Vielleicht ist es ja DOCH nur ein Krimi, gepaart mit einem problembewußten Ehedrama? Und kann man das so genau sagen, bzw. voneinander trennen? Zudem müssen wir erkennen, daß auch Susan uns lediglich IHRE Narration anbietet: Nie treten Edward oder Arnold auf, sie bleiben reine Erzählungen Susans. Lediglich die Kinder sind innerhalb der Erzählung offenbar vorhanden. Also kommt auch diese Frage auf: Wer erzählt eigentlich was in diesem Buch (zumal es in Susans Reflektionen zwei Stellen gibt, die uns etwas ratlos zurücklassen, denkt sie doch scheinbar über Stellen in Edwards Buch nach, die wir SO nicht gelsesen haben, doch angeblich lesen wir dessen gesamten Text) und wie ehrlich wird dabei berichtet?

Was das Buch dann eben auf diese Metaebene hebt, das wird ihm – und darum nicht die volle Punktezahl – auch ein wenig zum Verhängnis. Wright ist sich ZU sicher, er ist ZU sehr ein Wissenschaftler, ein Kenner der Theorien. Immer wieder lugen diese, wenn man sie kennt, um die Ecken, zwischen den Zeilen der Narration hervor. Der Text im Text, also Tonys Geschichte, ist eine Versuchsanordnung, das muß man schon so sagen. Es beginnt als fast gruseliger Thriller, wird dann zu einem Trauerdrama mit Krimieinflüssen und entwickelt sich zum Ende hin in eine Rache- und Selbstjustizgeschichte, die allerdings immer auf der reflektierenden Ebene bleibt. Wenn sich schließlich alle wichtigen handelnden Figuren versammelt haben und es zu eienr Art (schrecklichem) Showdown kommt, dann hat man hier wirklich Laborbedingungen. Und Susan, unsere Signifikanz, unsere Repräsentanz im Text, die diesen ununterbrochen mit Bedeutung auflädt, der wir bereit sind zu folgen, reflektiert auch dies (indem sie uns auf Schwachstellen des Buches, einzelner Figuren und deren narrativem Verbleib hinweist). Das ist nicht zwangsläufig schwach, im Gegenteil: es kann sogar Spaß machen, aber man merkt dem ganzen Unterfangen dann doch die Unentschlossenheit an. Das wäre mein einziger, allerdings nicht ganz unwesentlicher, Kritikpunkt.

Dennoch oder gerade deshalb – es bleibt ein spannendes Buch, ein Experiment, ein großes Lesevergnügen. Als Leser bleibt man dran, will weiter im Text, will wissen, was es mit Tony UND Susan auf sich hat, denn beide (sichtbaren) Ebenen des Buches sind und bleiben spannend. Und man ist ununterbrochen aufgefordert, mitzudenken. Ein letztlich fast vollkommen gelungenes Experiment.

2 thoughts on “TONY & SUSAN

  1. Caroline sagt:

    Danke für diesen Beitrag. Ich schreibe in meiner Thesis über diesen Roman. Mich würde interessieren, welche Literaturtheorien Dir ins Auge gesprungen sind? Kannst Du ausführen, inwieweit diese dann den Roman zu konstruiert wirken lassen?
    Viele Grüße

  2. garmour@gmx.de sagt:

    Hallo Caroline,
    es ist nun allerdings einige Zeit her, daß ich den Roman gelesen habe. Ich müsste entsprechende Stellen also noch einmal nachlesen. Was ich so „ins Blaue“ hinein sagen kann, ist, daß Wright, selber Professor für moderne Literatur, mit Versatzstücken der strukturalistischen und mehr noch der poststrukturalistischen Literaturtheorie spielt. Sowohl der „Tod des Autors“, den Roland Barthes verkündet hat, bis hin zu Ideen der Dekonstruktion von Signifikat und Signifikant bei Derrida und andern (denke vor allem an Thesen von Paul de Man) spielen m.E. eine entscheidende Rolle im Binnenverhältnis des „äußeren“ und „inneren“ Textes des Buches. Wo beginnt die Fiktion und wo hört das eigeene Leben auf? Kann man diese Grenze wirklich definieren oder bewegt man sich damit immer in einem unscharfen Bereich etc. Doch für nähergehende Betrachtungen müsste ich den Text wirklich noch einmal lesen.

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