DER GESCHICHTENERZÄHLER/THE STORY TELLER

Patricia Highsmith reflektiert das Wesen der Schriftstellerei

Der amerikanische Autor Sidney Bartleby lebt mit seiner englischen Frau Alicia in Suffolk auf dem Lande. Er arbeitet gemeinsam mit seinem Kumpel Alex an diversen Projekten für das Fernsehen, u.a. an einer Serie namens „Die Peitsche“, bei der es um einen komplett amoralischen Gentleman-Verbrecher geht. Alicia ihrerseits malt. Die Ehe der beiden scheint an sich gut, wird aber immer wieder durch fürchterliche Streitereien, die auch die Freunde mitbekommen, erschüttert. Als Alicia eines Tages verschwindet und darum bittet, nicht gesucht zu werden, bis sie sich von selber melde, beginnt Sidney ein gefährliches Spiel: Er läßt gegenüber Freunden, Nachbarn und den Eltern seiner Frau immer wieder Hinweise fallen, er könne Alicia umgebracht haben. Was zunächst wirklich wie ein Spiel anmutet, auch, weil Sidney wissen will, wie es sich anfühlt, ein „Täter“ zu sein, gerät zusehends außer Kontrolle. Sidney muß sich nicht nur allerhand Vorwürfe und Verdächtigungen erwehren, sondern gerät auch in eine Realitätskrise: Hat er Alicia möglicherweise wirklich getötet?

Der elfte Roman der großen Erzählerin Patricia Highsmith erschien 1965 und hieß im englischen Original A SUSPENSION OF MERCY, den Titel THE STORY TELLER bekam er erst mit der späteren amerikanischen Ausgabe. Diese Informationen deshalb vorab, weil Ärger mit Verlegern, die Angst, das eigene Werk werde nicht akzeptiert und die Unterschiedlichkeit zwischen europäischen und amerikanischen Verlagen im Roman eine Rolle spielen und durchaus kritisch reflektiert werden. Die neuübersetzte Werkausgabe des Diogenes-Verlags ist dankenswerter Weise nicht nur mit einer editorischen Notiz versehen, sondern auch mit einem Nachwort des Herausgebers Paul Ingendaay zum jeweiligen Werk. So erfährt der Leser, daß ein Begriff wie „Metafiktion“, der aus der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft entnommen ist, der Autorin nicht nur nichts gesagt, sondern sie einen solchen auch abgelehnt hätte. Das sei einmal dahin gestellt, definitiv kann man aber sehr wohl sagen, daß man es hier mit eben einer solchen „Metafiktion“ zu tun hat. Nicht nur, was das Verlagswesen betrifft. Sondern erst recht, was das schriftstellerische Wesen an sich betrifft. Oder, besser, das Wesen der Schriftstellerei…

 

Der Plot als solcher (Ingendaay gibt dem Leser ein schönes Spiel um den Begriff „plot“ in der Übersetzung/Bedeutung sowohl als „Handlung“, als auch im Terminus „Verschwörung“ vorhanden, mit auf den Weg) ist schon enorm spannend. In ihrem Großessay SUSPENSE ODER WIE MAN EINEN THRILLER SCHREIBT dient ihr THE STORY TELLER als Beispiel dafür, wie man aus kleinen Ideen (eine Leiche in einem Teppich entsorgen) über verschiedene Stadien der Figurenkonstellationen (die Nachbarin Mrs. Lilybanks als mal mehr, mal weniger starke Figur) und Handlungselemente (Mord an der Gattin) schließlich durch reine Spielerei mit all den Elementen zur eigentlichen Handlung gelangt. Dabei ist es im fertigen Roman eine eher ungewöhnliche Handlung für die Highsmith:  ein Verbrechen, das scheinbar nie stattgefunden hat. Umso erstaunlicher, daß wirklich Spannung aufgebaut wird und über die gesamte Länge des Textes trägt. Es ist natürlich ein durch und durch psychologisch komponierter Text, wie ja alle Highsmith-Texte kleine Meisterwerke der psychologischen Figurendeutung sind. Hier aber wird das Geflecht aus Verdächtigungen, falschen und richtigen Loyalitäten, Freundschaften und Arbeitsbeziehungen, aus Neid, Mißgunst und Mißverständnissen derart engmaschig gezogen, wie es selbst bei der Meisterin selten ist. Es ist schließlich genau das: die Psychologie, die diesen ganzen Plot zusammenhält. Und zwar glaubwürdig zusammenhält.

 

Und die „Metafiktion“? Ingendaay weist auf das Spiel hin, das Highsmith da inszeniert: In einem Spannungsroman lesen wir von einem Schriftsteller, der eine TV-Serie schreibt, die potentiell sich ins Unendliche erstrecken kann. Doch kann man die Reflexion viel weitreichender betrachten: Ein Amerikaner in England, der einen Serienheld ersinnt, der bar aller Moral betrügt, erpresst und auch tötet, dabei sogar von offizieller Seite unterstützt wird, ein Autor, der sich in seiner eigenen Fiktion zu verlieren droht, dem die Trennlinie zwischen Fantasie und Realität immer mehr verwischt, immer ungenauer wird. All dies sind Details der Romankonstruktion, die so auch auf die Autorin selbst durchaus zutreffen. Wie oft in ihrem Werk, doch selten derart intensiv, entsprechen inhaltliche und formale Ebene einander, bedingen sich, spiegeln sich ineinander. Highsmith weist in ihrem Werkstattbericht selbst darauf hin, daß die Trennlinie zwischen der Realität und ihren fiktionalen Gedanken oftmals unscharf werde. Die Interpretation will Sidney dementsprechend als schizoid einstufen, was sicherlich so auch stimmig ist, zumal die 60er Jahre erneut eine Hochphase der Psychoanalyse erreichten. Patricia Highsmith nutzt ein Mittel, welches sie selten zur Anwendung kommen läßt, das das Schizoide jedoch schönstens zur Geltung bringt: Abrupte Perspektivwechsel, vor allem im ersten Drittel des Buches. Innerhalb eines Absatzes kann die Erzählperspektive von Sidney zu Alicia zur Nachbarin Mrs. Lilybanks wechseln; manchmal derart plötzlich, daß beim Lesen echte Verwirrung – somit Entfremdung – eintreten. Mit fortschreitender Handlung werden diese Perspektivwechsel weniger und Sidneys Blickwinkel wird zentral für den Leser. Spätestens mit Alicias Verschwinden, dessen Konsequenz und Bewandtnis die Autorin zunächst offen läßt, irren wir mit Sidney durch das Labyrinth aus Wahrheit, Lüge und Einbildung, welches er sich selbst und zusehends auch anderen errichtet hat.

 

Die Highsmith nutzt die Perspektivwechsel aber auch, um die Figuren komplexer zu gestalten. Gerade zu Beginn der Erzählung wird die Selbstwahrnehmung der Protagonisten multiperspektivisch mit der Wahrnehmung anderer konfrontiert, und aus dieser Konfrontation ergeben sich ganz erstaunliche Konsequenzen für die Einordnung einzelner Figuren. Ingendaay verweist darauf, daß dieses Werk der Autorin auch ein tieftrauriges sei, und er hat Recht damit – die Liebe eines Künstlers, schwer zu verwirklichen? Die Liebe zweier Künstler zueinander – unmöglich? Alicia wirkt weitaus weniger ambitioniert als ihr Gatte, doch daß sie auf ähnlich schwammigem Grund steht, wie jener, wird dem Leser nur allzu deutlich vor Augen geführt. So funktioniert nach und nach keine der Ebenen mehr, auf die sich diese beiden je verlassen hatten, nicht die kreativen, nicht die intellektuellen und schließlich auch die emotionalen nicht mehr. Spätestens dann tritt jener Effekt ein, der die Autorin Highsmith so sehr interessiert: Wie verhalten sich Menschen am Siedepunkt? Zu was werden sie unter höchst denkbarem Druck?

 

Anhand dieses Textes ließe sich perfekt über das Wesen von Künstler und Verbrecher und der antibourgeoisen Haltung beider philosophieren, man könnte wahrscheinlich das gesamte Highsmith´sche Werk durch das Prisma dieser Erzählung betrachten, analysieren und (neu?) einordnen, könnte tiefgreifende Betrachtungen über sie als Künstlerin und Mensch anstellen. THE STORY TELLER gibt das her. Sicherlich hat Mrs. Highsmith komplexere Charaktere geschaffen, sicherlich auch ausgefeiltere Plots entworfen. Manches in ihrem Werk mag den Leser eher erschauern lassen, anderes ihn tiefer berühren. Doch kein anderes Werk hat so deutlich das Schaffen der Autorin – übrigens durchaus auch mit viel Witz und Nonchalance erzählt – reflektiert. So ist dies nicht nur ein erneut ausgesprochen gelungener Spannungsroman, sondern auch eine Art prosaischer Bericht aus dem Arbeitsleben des Schriftstellers, inklusive einer genauen Beschreibung der Risiken und Gefahren des Jobs.

 

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