DAS ANDERE MÄDCHEN/L´AUTRE FILLE

Ein weiteres Stück aus dem Leben der Annie Ernaux - und ihrer Schwester, die sie nie kannte

Annie Ernaux veröffentlichte ihren Text L´AUTRE FILLE/DAS ANDERE MÄDCHEN (Dt. hier 2022) bereits 2011, also Jahre, bevor sie den Nobelpreis für Literatur zuerkannt bekam. Mittlerweile hat sich die ursprünglich einmal im positiven Sinne fast schon überschwängliche Rezeption ihres Werks verändert, man betrachtet vor allem das politische Engagement der Autorin – sie hat u.a. einige Aufrufe der Organisation BDS (Boycots, Divestment and Sanctions) unterschrieben; zudem gibt sie sich dezidiert links – eher kritisch. Ernaux hält dies nicht davon ab, unbeirrt weiterzumachen als „Ethnologin ihrer selbst“, wie sie einmal ihr Schaffen bezeichnete.

Allerdings ist es vielleicht nicht ganz so schlecht, auch diese – vor allem vor der Verleihung des Nobelpreises – allseits hochgelobte Autorin kritisch zu betrachten. Denn je mehr man von ihr liest, desto mehr beginnt man sich zu fragen, wie sie ihr Werk eigentlich angelegt und strukturiert hat? Über einen langen Zeitraum – letztlich sind es an die dreißig Jahre – hat sie Mal für Mal in ihren Texten das eigene Leben seziert, mal in weiträumigen Panoramen (DIE JAHRE/LES ANNÉES – 2008; Dt: 2017), mal in Mikroanalysen einzelner Aspekte des Lebens ihrer Familie (DER PLATZ/LA PLACE – 1983; Dt. u.a. 2019; mehr noch DIE SCHAM/LA HONTE – 1997; Dt. u.a. 2020). Und man fragt sich: Gräbt sie immer neue Aspekte ihres Lebens hervor oder hält sie gewisse Geschehnisse bewusst zurück, um an anderer Stelle ausführlicher darüber zu schreiben? Manches Mal kommt es auch dem wohlwollenden Leser vor, als folge sie einer Salami-Taktik. Sei´s drum.

Meist sind ihre Betrachtungen, Analysen und Selbstbefragungen auch deshalb so gelungen, weil in ihnen immer ein Befragen der Zeitgeschichte und der Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seiner Zeit spürbar ist. Allerdings spielt dies in DAS ANDERE MÄDCHEN nur eine untergeordnete, wenn nicht letztlich gar keine Rolle. Es ist ein extrem persönlicher Text, den Ernaux selbst als Brief deklariert. Es ist ein Brief an eben jenes „andere Mädchen“ des Titels, welches ihre Schwester gewesen ist. Diese Schwester starb Jahre, bevor Annie Ernaux selbst geboren wurde. Und wie sie an einer Stelle des Buchs/Texts feststellt, ist sie, Annie, der Ersatz. Das Sterben ihrer älteren Schwester hat ihr Leben überhaupt erst ermöglicht. Es ist dies eine der wenigen Stellen, an denen eine soziale Realität in den Text eindringt: In jener Zeit – vor dem 2. Weltkrieg, eingebettet in ein Arbeitermilieu – waren Kinder definitiv ein wirtschaftlicher Faktor. Konnte man sich überhaupt ein weiteres leisten? Viele Familien verzichteten, da die Kosten der Kindererziehung als zu hoch betrachtet wurden. Eine bittere Erkenntnis, feststellen zu müssen, daß das eigene Leben nur möglich wurde, weil ein anderes Leben zu früh zu Ende gegangen ist.

Es mag diese Bitternis sein, die Ernaux dazu bringt, dieses tote, nie gekannte Mädchen, die „Andere“, in ihrem Text immer wieder mit „Du“, also direkt, anzusprechen. Und dies, obwohl der Autorin bewusst ist, daß dieses „Du“ eine Falle ist, eine Intimität und Nähe behauptet, die schlechterdings nicht möglich sind. Und die natürlich immer nur von der Lebenden, der Erzählerin, der Schreiberin ausgeht, eine Intimität, die niemals auf eine Erwiderung stößt. Das ist manchmal durchaus ergreifend. Es ist allerdings – gemessen an anderen, früheren wie auch späteren Texten der Autorin – nicht so genau und tiefgreifend in der Analyse, wie man es von ihr gewohnt ist. Es ist sicherlich aber auch einer der persönlichsten Texte aus Ernaux´ Feder. Einmal mehr ist es ein rigoros ehrlicher Text, der das eigene Befinden ausstellt, ohne dabei Rücksicht zu nehmen auf eigene Verletzungen und Sensibilitäten.

Es ist aber auch einer der Texte der Autorin, die den Vorwurf zu bestätigen scheinen, daß es ihr letztlich bei aller Einbettung in zeitgeschichtliche Betrachtungen und gesellschaftliche Analysen immer nur um sie selbst geht. Daß dies eine reine Nabelschau sei, nicht viel anders als jene radikale Subjektivität, die bspw. ein Karl Ove Knausgård seiner Literatur impliziert. Das Urteil freilich ist unfair. Es ist auch wohlfeil. Denn Ernaux ist tatsächlich auch hier, wie immer, um maximalen Abstand zu sich selbst bemüht, ist unbedingt gewillt, eine nahezu professionelle, wissenschaftliche Distanz zu den eigenen Belangen einzunehmen. Emotionale Reaktionen schildert sie und analysiert sie wie unter dem Mikroskop eines Labors. Und bleibt sich darin sogar ein wenig fremd. Staunt über die eigene Emotionalität gegenüber diesem Kind, das sie nie gekannt hat, das auch andere Eltern hatte. Denn während sie, Annie, alte und dadurch auch eher besorgte Eltern erlebte, waren die ihrer älteren Schwester junge Eltern, lebensfroher und aufgeschlossener. Zumindest nimmt Ernaux das an. Und auch diese Unsicherheit, die sich in ihrem Schreiben manifestieren kann, wird von ihr einmal mehr reflektiert und thematisiert.

DAS ANDERE MÄDCHEN ist sicher nicht der Text, der erklärt, wieso diese Autorin schließlich den höchsten Literaturpreis erhielt, den die Welt zu vergeben hat. Wohl aber ist es eine gute Ergänzung zu ihren mehr in die Tiefe wirkenden Bücher, ist es eine weitere Episode in dieser gnadenlosen Suche nach der eigenen, verlorenen Zeit.

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