DAS EREIGNIS/L´ÉVÉNEMENT

Annie Erneuax wendet sich eindringlich einem schmerzvollen Kapitel ihres Lebens zu

Folgt man der im Deutschen leider nicht chronologischen Veröffentlichungsgeschichte der Werke der Französin Annie Erneaux, entsteht der Eindruck, daß diese „Ethnologin ihrer selbst“, wie sie sich einst beschrieb, ein Programm zwischen Panorama und Nahaufnahme verfolgt. Einige ihrer Werke – LES ANNÉES (2008) oder MÉMOIRE DE FILLE (2016) – widmen sich größeren Zeitabschnitten, bieten Überblicke, sind der Versuch, der eigenen verlorenen Zeit nachzuspüren, sich zurück zu versetzen in einstige Gefühle und Gefühlszustände. Andere, wie LA PLACE (1983) oder UNE FEMME (1987), stellen Annäherungen an das Milieu dar, dem die Autorin entstammt, sind Selbstversicherungen und manchmal Rechenschaft, aber auch Auseinandersetzungen mit den Eltern. Und einige Werke scheinen eben Nahaufnahmen, Ransprünge an einzelne bestimmende Momente in Erneaux´ Leben, zu sein. LA HONTE (1997) ist dazuzuzählen. Aber auch L´ÉVÉNEMENT (2000), zu Deutsch DAS EREIGNIS (2021) gehört eindeutig in diese Kategorie.

Wie unter einem Brennglas beschreibt die Autorin jene Wochen und Monate im Jahr 1963, in denen sie schwanger wurde, mit sich rang und sich entschloß, unter den Bedingungen eines damals noch rigiden Staates und einer katholisch geprägten Gesellschaft, ihr ungeborenes Kind abzutreiben. Illegal. Es ist dieses sehr spezifische, einschneidende Ereignis, das tiefgreifende Auswirkungen auf Erneaux´ Leben haben wird und ihr vor allem ihre Stellung als Frau noch einmal verdeutlicht. Andere verfügen über ihren Körper, andere – Männer – haben die Hoheit darüber, ob und unter welchen Bedingungen es möglich ist, ein Kind abzutreiben. Und letztlich sind sie auch dafür verantwortlich, daß Hunderttausende von Frauen zu sogenannten „Engelmacherinnen“ gingen, also jenen Damen, die in Schlafzimmern, Hinterhöfen, Abstellkammern illegale Abtreibungen vornahmen. Mit teils widerlichen und brachialen Methoden wurden da Embryonen aus Leibern getrieben, Abgänge forciert und Ausschabungen unter himmelschreienden hygienischen Umständen vorgenommen. Nicht wenige der Frauen, die sich zu diesen drastischen Maßnahmen entschlossen, bezahlten die Behandlungen mit bleibenden Schäden, angeschlagenen Psychen, manche mit ihrem Leben.

Stärker als in anderen Werken, proklamiert Erneaux in DAS EREIGNIS den gesellschaftspolitischen Anspruch, der dem Buch zugrunde liegt. Weniger als sonst beleuchtet sie die soziale Frage, die gerade auch in solchen Entscheidungen immer schon sich manifestiert. Denn wer treibt ab? Wer entschließt sich, die Gefahr einer illegalen Abtreibung einzugehen – gleich ob man damit den Konflikt mit dem Gesetz oder die medizinische Seite meint. Es mag schicht- oder klassenbedingt Unterschiede gegeben haben hinsichtlich der Maßnahmen, betuchte Frauen hatten andere Möglichkeiten, der Fakt, daß Abtreibungen vorgenommen wurden, betraf aber immer schon alle Schichten und Klassen. Und potentiell alle Frauen.

Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern.“

Es ist eine programmatische Ansage, die Erneaux hier trifft. Und es ist – was eher selten bei ihr vorkommt – ein deutliches Bekenntnis zu einer feministischen Tradition des späten 20. Jahrhunderts. Man erinnere sich an die Aktion im Magazin Stern im Juni 1971, als rund 374 Frauen, darunter einige Prominente, sich dazu bekannten, abgetrieben zu haben. Das Aufbegehren gegen ein männlich dominiertes Gesetzeswesen, das den Herren die Hoheit über den weiblichen Körper garantierte – indirekt auch die sexuelle Verfügungsgewalt – wurde zu einem der wesentlichen Kämpfe des frühen Nachkriegsfeminismus. In Deutschland der Kampf gegen den berüchtigten Paragraph 218. Und wie die jüngeren Entwicklungen hinsichtlich des „Werbeverbots“ für Abtreibungen – gemeint ist der sachliche Hinweis, daß eine Ärztin Abtreibungen vornimmt und die Betreffende auch berät – zeigt, daß dieser Kampf, als Kulturkampf, noch längst nicht überstanden ist. Denn konservative bis reaktionäre Kreise, erneut männlich dominiert, sind schon lange daran interessiert, die Hoheit über den Frauenkörper zurückzugewinnen.

Erneaux, die auch in DAS EREIGNIS ihrem Stil – den sie nach eigenen Aussagen gar nicht hat, ein Bekenntnis, das man getrost ein wenig eitel finden darf, denn selbstredend hat sie einen Stil, und was für einen! – treu bleibt und sowohl das Erinnern, das Nachdenken als auch das Schreiben im Text selbst thematisiert und reflektiert, vielleicht sogar noch etwas strenger, noch genauer, als in anderen Werken, beschreibt minutiös die Situation, in der sie sich als 23jährige befand. Sie lässt den Leser teilhaben an ihren Ängsten, an der Sprachlosigkeit, der Abweisung und Zurückweisung, die sie durch Bekannte, vor allem die Männer in ihrem Leben, darunter der Kindsvater, aber auch durch Verwandte und vor allem durch Ärzte erfährt. Herrschende und Beherrschte – Erneaux, und da kommt sie der sozialen Frage hinter dem Ereignis sehr, sehr nah, unterteilt die Welt nach der Abtreibung in diese Kategorien. Wobei Arbeiter und Frauen, die abtreiben, für sie die Kategorie Beherrschte bedeuten, Ärzte hingegen die Herrschenden sind. In der Reflektion auf ihr Schreiben jedoch verdeutlicht Erneaux den Stellenwert, den die Abtreibung für sie in ihrem Leben hatte: Material zu sein, Gegenstand der Betrachtung. Sonst nichts.

Gerade dieses Diktum dürfte dazu geführt haben, daß das Buch immer noch massive Ablehnung erfährt, auch von Frauen. Wenn sie berichtet, daß jener Moment, in welchem das Spekulum in sie eingeführt wurde und jemand in ihr „herumfuhrwerkte“ (S. 69) und sie diesen Moment zumindest in der Rückschau als den der eigenen Geburt, zugleich aber auch den des Todes der eigenen Mutter in sich selbst wahrnimmt, dann ist das ein Satz, kalt wie eine Stahlklinge, der den Leser trifft und umhaut – und zugleich ist es ein Satz von solch schreiendem Schmerz, daß man die ganze Tragödie dahinter nur erahnen kann. Aber es ist auch ein Satz, der viele Leserinnen abschrecken und auch abstoßen wird. Die Offenheit, mit der Erneaux beschreibt und in sich den Gefühlen nachspürt, ohne Rücksicht auf sich selbst oder die LeserInnen, ist auch eine Zumutung. Und es ist genau diese Zumutung, die man empfindet und auf die man – man? – reagiert.

Nur sollte daraus kein (moralisches) Urteil erwachsen. Sondern vielmehr festgestellt werden, daß Literatur – wirkliche Literatur – genau so funktioniert: Sie ist eine permanente Herausforderung. Auch eine Herausforderung an den Widerspruch in sich selbst, im Selbst der oder des Lesenden. Zu urteilen, ist die einfachste Reaktion. Es ist aber die falsche. Genau dieses Falsche schält sich aus den Tiefen dieses schmalen Bandes von gerade einmal 103 Seiten hervor. Annie Erneaux konfrontiert uns in ihrem Erinnern und erinnernden Schreiben immer auch mit den Möglichkeiten der Literatur. In der Moderne und der Postmoderne. Man kann diese Frau studieren, wie ein offenes Buch. Es ist oft ein Studium der Grausamkeit. Sie spiegelt die Grausamkeit dieses ganzen vergangenen Jahrhunderts und seiner mal einsamen, mal offenen gesellschaftlichen Kämpfe. Hier, in DAS EREIGNIS, vielleicht mehr, stärker, als in allen anderen Schriften dieser außergewöhnlichen Autorin.

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