ALLE MEINE GEISTER

Uwe Timm nimmt seine Leser*innen auf seine höchst persönliche Lebens- und Lesereise mit

Uwe Timm ist in gewisser Weise für die „alte“ BRD das, was Christoph Hein für die DDR war und ist: Ein Chronist nicht nur der Ereignisse und Entwicklungen im Land, sondern viel mehr noch ein Chronist der Befindlichkeiten. Ein Seismograph gewisser Stimmungen – vor allem was die jüngere Vergangenheit betrifft, beginnend mit den Studentenrevolten 1967/68. Denn das war seine Zeit, denen gehörte er, der eigentlich zu alte, weil zu früh Geborene (1940), an. Schon seit Kolleg-Zeiten in Braunschweig mit Benno Ohnesorg befreundet, geriet Timm wirklich nah an die zeitgeschichtlichen Ereignisse, war Ohnesorg doch eines der ersten Opfer in einem zusehends radikaleren Kampf zwischen den Studenten und der Staatsmacht. In HEISSER SOMMER (1974), seinem ersten Roman, schrieb Timm geradezu exemplarisch über das Lebensgefühl dieser Generation. Deren Beobachtung und Untersuchung setzte er mit KERBELS FLUCHT (1980) und ROT (2001) später fort. Mit seinem Roman DIE ENTDECKUNG DER CURRYWURST (1993) untersuchte Timm anhand der Geschichte von Lena Brücker, die jahrzehntelang eine Imbissbude in Hamburg betrieb, aber auch die Frühgeschichte der Bundesrepublik in den unmittelbaren Nachkriegs- und den Wirtschaftswunderjahren. So erschuf der Autor im Laufe seines schriftstellerischen Schaffens nach und nach ein Kaleidoskop bundesrepublikanischen Lebens und bundesrepublikanischer Veränderungen.

Der mittlerweile Vierundachtzigjährige hat – vielleicht als Abschluss und Vermächtnis seines Werks, obwohl man hofft, noch einige Werke aus seiner Feder geliefert zu bekommen – mit ALLE MEINE GEISTER (2023) ein autobiographisches Buch vorgelegt, in dem vieles kulminiert, was er zuvor in seinen Romanen beschrieb. Hier legt einer geradezu poetisch, lyrisch, Rechenschaft ab über die Quellen und Wurzeln seines Schreibens, seiner Kreativität. So erzählt er nicht nur aus seinen frühen Jahren in Hamburg, von der vom Vater so bestimmten Lehre zum Kürschner, betrieb der doch ein Pelzgeschäft, von den frühen Freundschaften und ersten Lieben, sondern vor allem von jenen Werken, jenen Büchern, den Texten, die sein Leben bestimmt, die seinen Geist erweitert, sein Denken geprägt haben. Lebensbücher.

Der junge Uwe Timm erlebt eine regelrechte Éducation sentimentale, ein Coming-of-Age mit verschiedenen ihn beeinflussenden Vorgesetzten, Freunden und Kolleginnen, die ihn geistig, politisch und emotional „bilden“. Fast ist dies also ein klassischer Bildungsroman, allerdings beschreibt Timm sein eigenes Leben. Das ist vor allem immer dann spannend, wenn er von den ihn prägenden Büchern erzählt – und zugleich verständlich macht, weshalb einige davon für eine ganze Generation so wesentlich waren. Ein Buch wie DER FÄNGER IM ROGGEN, noch bis weit in die 80er Jahre hinein Pflichtlektüre aller gymnasialen Mittelstufen und für jene Generation, die, noch im Krieg geboren, vor allem die 50er Jahre als muffig, angestaubt und sehr, sehr konservativ erlebte und die die Erzählungen des Holden Caulfield, vor allem aber die Sprache, die Autor J.D. Salinger ihm angedeihen ließ, wie eine Befreiung empfand.

Doch sind für den noch sehr jungen Timm vor allem die Werke Dostojewskis – allen voran dessen Groß-Roman DER IDIOT – prägend. Wie der Fürst Myschkin den gewaltsamen Tod der Geliebten Nastassja, die von dem Kaufmann Rogoschin getötet wird, erlebt und verarbeitet, wie hier Wahnsinn als möglicher Ausweg aus einer nicht mehr erträglichen Wirklichkeit etabliert wird, wie Dostojewski die Kategorien von „normal“ und „krank“ – auch durch Myschkins Epilepsie – verhandelt und dekonstruiert, all dies öffnet Uwe Timm ein weites Feld geistiger Haltungen, Eintritte in eine für einen doch noch jungen Menschen weite, unbegreifbare Welt. Später waren es Bücher wie Camus´ DER FREMDE, Lyrik von Gottfried Benn oder Texte von Walter Benjamin, die Timm tief beeindruckten und sein Denken, aber eben und vor allem auch sein Schreiben, sein künstlerisches Schaffen geprägt und bestimmt haben.

Auch seine politische Bildung erlebte Timm in diesen Jahren. Das Erfassen der jüngsten Vergangenheit, der Schrecken, der Verbrechen und der Verstrickung der Deutschen als Ganzes in diese Vergangenheit, wurden ihm durch Kollegen, seine Ausbilder, die Gesellen in der Firma, wo er in die Lehre ging, nahegebracht. Allerdings hatte Timm einen sehr viel älteren Bruder, der im Krieg gefallen war. So war es auch eine Neujustierung, denn in der Familie waren es der Verlust, der Schmerz, über den wenig gesprochen wurde, die die Erinnerung und die Wahrnehmung des Krieges bestimmten. Für spätgeborene Rezepient*innen erstaunlich, wie sehr bei der politischen Willens-Bildung, wie für das Erkennen dessen, was sich da abgespielt hatte in den unmittelbaren Jahren zuvor, ein heute nur noch für Historiker wirklich interessantes Buch wie Eugen Kogons DER SS-STAAT eine Rolle gespielt hat. Auch das also ein Lebensbuch, ein für Timm wesentliches Werk.

Es entsteht durch Timms Erinnerungsarbeit, durch sein Erzählen, sein Reflektieren, nicht nur ein besonderes Bild seines eigenen Lebens, sondern eben auch das einer Generation, die sich schließlich aufmachte, die Republik nach und nach zu verändern. Spätestens mit den Studentenunruhen der späten 60er Jahre, für die Timm, wie bereits eingangs erwähnt, eigentlich schon ein wenig zu alt war, wurde das Land liberaler, pluraler, bunter – all das, was heute wieder angegriffen und von reaktionärer Seite in Frage gestellt wird.

Es entsteht aber auch – und das Wechselspiel der unterschiedlichen Ebenen macht dieses Buch dann so besonders – die Geschichte und die Reflektion einer Künstlerbiographie, einer schriftstellerischen Karriere. Das ist allgemein gültig und als solches interessant; fesselnd aber wird die Erzählung des künstlerischen Werdens als spezifische, individuelle Entwicklung eines jungen Mannes, der früh weiß, dass er schreiben möchte, dass er selbst vom Menschen erzählen und für Menschen erzählen will. Und dieser junge Mann entwickelt diesen kreativen Prozess dann auch aus dem erlernten Handwerk und begreift zunächst auch den künstlerischen Prozess als Handwerk. Mit Walter Benjamin erklärt Timm seinen Lesern, wie sich das Erzählen einst – als rein orale Handlung, als Sprech-Akt – bei der Arbeit entwickelte. Es wurde bei der Arbeit erzählt und es wurde von der Arbeit erzählt. War dem so? Gleich – die Art, Timm es erklärt, wie er in diesem Fall auf Benjamins Essay DER ERZÄHLER rekurriert, wie er aus seinen Lebenslektüren Erklärungen und Begründungen ableitet, macht ein gut´ Teil dieses Buchs aus. Es macht Spaß, den intellektuellen Entwicklungen dieses Schriftstellers zu folgen.

Es gibt aber eine weitere Ebene in diesem Buch – und das ist die des Erinnerns. Timm erklärt immer wieder, wie er sich während des Schreibprozesses bemüht, Namen, Ereignisse, einzelne Situationen zu rekapitulieren und wie dies nicht immer gelingt. Und in dieser Erinnerungsarbeit – Privileg eines älteren Schriftstellers/Künstlers ist auch, einzelne Werke, hier anhand eines Gedichts von Gottfried Benn, in den verschiedenen Zeitebenen seiner Rezeption zu reflektieren, denn ein junger Mann liest ein solches Gedicht anders als ein Mann in den mittleren Jahren und der wiederum anders als ein alter Mann und so wird auch die Rezeption selbst zu einer Erinnerung, immer abgeglichen gegen die gegenwärtige Rezeption ein und desselben Werks – glimmt dann auch eine gewisse Melancholie auf, wenn Timm immer wieder davon berichtet, wie man Menschen, die man einst kannte, die wichtig waren im eigenen Leben, aus den Augen verliert. Sogar Freunde von einst.

Und so durchdringen sich in diesem wunderbaren Buch, anders kann man es nicht beschreiben, immer wieder persönliches Erleben, die eigene Geschichte, die Historie und der geistige Horizont, der sich in einem, in diesem, Leben immer erweitert hat und immer weiter wurde. Dem zu folgen auf leider nur schmalen knapp 280 Seiten, ist ein wunderbarer Lesegenuss, es ist eine Freude, wie Timm seine Leser mitnimmt und teilhaben lässt an der eigenen Erinnerung und dem eigenen Er-Leben. Gelegentlich verliert er sich vielleicht ein wenig in all diesen Ebenen, schachtelt Geschichte in Geschichte und es mag so erscheinen, als verlöre er den Fokus – aber dann merkt man, dass eben auch genau das zum Leben und Lesen gehört: Das Mäandern, das freie Assoziieren und das Sich-Verlieren. Man kann nur hoffen, dass Uwe Timm die Kraft (und die Zeit) findet, in Folgebänden von seiner weiteren Entwicklung zu berichten.

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