AUF ERDEN SIND WIR KURZ GRANDIOS/ON EARTH WE´RE BRIEFLY GORGEOUS

Ein kurzer Brief zum langen Leben - ein wunderbarer Debutroman

Vielleicht sollte man mit diesem Buch – diesem Textkörper – ähnlich vorsichtig umgehen, wie mit einem der im Buch beschriebenen Monarchfalter, sollte man je auf die Idee kommen, einen solchen zu berühren, gar die Hände um ihn zu legen und ihn hochzuheben. Denn dieser Roman wirkt wie ein Lang-Poem, eine zarte, manchmal leichte und selbst in den schwersten Momenten dem Leben zugewandte Hymne auf das Sein, das eigene Ich, auf die Stärke, die wir haben und entwickeln können, gleich, wie hart die Widerstände sind, die das Leben uns bietet.

Geschrieben hat dieses Lang-Poem, das offiziell als Roman fungiert, Ocean Vuong; AUF ERDEN SIND WIR KURZ GRANDIOS (ON EARTH WE´RE BRIEFLY GORGEOUS; Original erschienen 2019/Dt. 2019/20) lautet sein zugegeben sperriger Titel. Daß man auf die Idee kommt, es mit einem Gedicht zu tun zu haben, mag also nicht nur daran liegen, daß man es hier mit außerordentlicher sprachlicher Finesse zu tun hat (kongenial übersetzt von Anne-Kristin Mittag), mit teils assoziativen Sprüngen und Zusammenhängen, sondern auch mit einem Autor, der bisher als Lyriker in Erscheinung getreten ist. Vuong erhielt für seine Arbeit u.a. den T.S. Eliot Prize 2017.

AUF ERDEN SIND WIR KURZ GRANDIOS ist als ein sehr langer Brief eines Sohnes an seine Mutter angelegt. Das Paradoxe ist, daß die Mutter nie lesen gelernt hat, erst recht nicht auf Englisch, der Sprache, in der der Autor, von seiner Großmutter Lan liebevoll Little Dog getauft, ihr schreibt. Little Dog, seine Mutter und Großmutter Lan sind Vietnamesen. In den 80er Jahren in die USA geflohen, lebt der Erzähler in einem immer spürbaren, nie jedoch beschworenen Spannungsverhältnis zwischen der durch die Großmutter repräsentierten alten Kultur und der verschwenderischen Konsumkultur der Vereinigten Staaten. Hier entdeckt der Junge nicht nur die Vorzüge eben dieses Konsums, sondern lernt auch die Schattenseiten kennen: Drogensucht, Mißbrauch, Gewalt. Doch blickt Vuong auf all diese Schattenseiten der USA nicht mit dem Entsetzen, welches man vielleicht erwarten würde, sondern er nimmt sie schlicht wahr. In den Zirkelschlägen zwischen dem eigenen Erleben – Highschool, Freundschaften, erste homoerotische Erlebnisse, aber auch Verluste – und den Erzählungen seiner Großmutter, bei der eine Schizophrenie diagnostiziert wurde, wodurch ihre Geschichten immer im Verdacht reiner Fiktion stehen, gelingt es hier brillant, das Erleben des eigenen Fremdseins in einer völlig anderen Kultur zu thematisieren, ohne zu urteilen, ohne Wertungen. So wirft Vuong einen Blick auf ein Amerika, das zwar liberal, manchmal freundlich, oft hämisch, welches aber ebenso rassistisch, fremdenfeindlich und gewaltverliebt ist.

Aber dieser Blick ist nie explizit. Durch die Briefform, durch die direkte Ansprache an die Mutter, durch das Eingeständnis eigener Schmerzen, auch eigener Verfehlungen, bleibt das Erzählte immer auf einer persönlichen Ebene. Der Blick auf das Land und die Bewohner dieses Landes (wie der Autor sie erlebt und empfindet) ist immanent, enthält Erklärungen, um das Persönliche zu belegen und auszuleuchten. Nie wird hier angeklagt, nie verurteilt oder gar gehasst. Und doch ist eben all das da, was wir auch aus Hintergrundberichten, aus Reportagen und Features kennen: Die bereits genannten Drogen, der Alltagsrassismus, die Wegwerfkultur, auch der Selbsthass jener, die es in dieser Gesellschaft, in der es angeblich jeder schaffen kann, eben nicht geschafft haben. Und der Schreiber des Briefes weist auch auf die familieninternen Verwerfungen ein, die Gewalt, die er durch die überforderte Mutter erfahren musste und die durchaus relativiert, was der Junge in seiner Umwelt beobachtet. Der Mensch ist es, der da handelt, nicht ein Amerikaner oder ein Vietnamese. Immer ein Mensch.

Immer wieder – das macht u.a. die Briefform möglich – springt Vuong in den zeitlichen, den chronologischen Ebenen vor und zurück, erzählt von seinem Freund und Liebhaber Trevor, wie dieser ihn beschützt hat, ihn gestärkt hat, ihm geholfen hat, aber eben auch, wie dieser an den Drogen gestorben ist, an der Sucht, die einer Schmerzmittelabhängigkeit entwachsen ist. Und immer wieder werden wir tief in die persönlichen Belange hineingezogen: Die Gewalt der Mutter, die immer zugeschlagen hat (teils unerträgliche Szenen gerade auf den ersten zehn Seiten des Buchs; Szenen, die mit einer Beiläufigkeit von übelster Brutalität erzählen, so daß es dem Leser kaum möglich ist, es zu ertragen), aber auch die Liebe, die sie immer wieder zu vermitteln sucht und der Schutz, den Little Dog bei seiner kranken Großmutter findet, in ihren Geschichten, Anekdoten und dem Witz, mit dem sie sie darbietet.

Das Erstaunliche dieses Briefs, dieses Poems, dieses Romans ist letztlich die unbedingte Menschenliebe, die aus diesen Seiten geradezu hervorquillt. Wir sind grandios, in diesen kurzen Momenten, die uns auf Erden gegeben sind – grandios, weil wir sind. Menschen, Wesen, fühlende und, ja, auch denkende, reflektierende Wesen. Vuong schreibt letztlich eine endlose Liebeserklärung an den Menschen an sich, an seine Fähigkeiten. Und er schreibt dieser Eloge immer auch das Scheitern ein, das den Menschen eben genauso ausmacht. Das Scheitern, das er beobachtet – gleich ob es Trevor in seiner Sucht ist, ob es die Mutter ist, die immerzu sich müht, in diesem fremden Land zu überleben und dabei ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, Lan, die Großmutter, die am Dasein selbst zu scheitern scheint und doch auch Weisheit verströmt – ist Vuong nie ein Malus. Vielmehr ist es die Grundbedingung des Da-Seins, die wir akzeptieren müssen und die uns niemals so tief drücken darf, daß wir den Glauben an den Nutzen, die Schönheit und die Relevanz des Lebens selbst verlieren.

Die Spezifika eines vietnamesischen Jungen in den USA werden hier zwar durchaus beleuchtet, oft genug wird die westliche Welt-Sicht der fernöstlichen gegenübergestellt, doch weiß Vuong immer, Allgemeingültiges aus diesen Gegensätzen, den Dichotomien, auch den Ambivalenzen, die das mit sich bringt, den Dilemmata, die nicht aufzubrechen, noch zu lösen sind, zu destillieren. Hier schriebt ein Mensch, der seine explizit subjektive Geschichte nicht vergisst und dennoch in der Lage ist, die in ein größeres, ein weiteres Welt- und Menschenbild einzufügen. Vuong schreibt dem Menschen selbst ein wunderbares Gedicht ein, welches ihn einmal mehr erhebt, ohne ihn zu verherrlichen.

AUF ERDEN SIND WIR KURZ GRANDIOS ist ein ungeheuer kluges, hintergründiges, vorsichtiges, zartes und sprachlich tiefgreifendes Buch, ein Roman, wie man ihn nur sehr selten findet. Ein Buch, dessen Grundton das Staunen ist, das Staunen über uns, unser Dasein, unsere Möglichkeiten und auch darüber, wie wir diese Möglichkeiten mal ausschöpfen und mal ungenutzt verstreichen lassen. Das ist eine Stimme, die sich da erhebt, die einen großen Gesang auf das Leben anstimmt, die dem Leser auf leise Art Hoffnung gibt. Man will nicht mehr auftauchen aus diesem Buch.

 

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