DIE VERSCHWINDENDE HÄLFTE/THE VANISHING HALF
Das Buch zur Stunde? Vor allem ein starkes Stück Literatur!
Brit Bennett veröffentlichte THE VANISHING HALF (Original erschienen 2020: Dt. DIE VERSCHWINDENDE HÄLFTE, 2020) im Jahr 2020 und schnell wurde ihr Roman als Buch der Stunde angesehen. Die Black Lives Matter-Bewegung okkupierte die Straßen der größeren Städte der USA und forderte, gehört zu werden. Und hier war die literarische Verarbeitung des Themas Rassismus. Liest man das Buch mit dem Abstand eines Kontinents und auch eines gewissen zeitlichen Abstands zur Veröffentlichung, fallen allerdings andere Details ins Auge. Natürlich geht es hier um Rassismus, aber eben auch um Rassismus innerhalb der black community. Es geht um die Psychologie der Selbstverleugnung, darum, wie man versucht, das eigene Leben zu verlassen und daß ein richtiges Leben im falschen nur zu einem hohen Preis zu haben ist. Es geht um Identitätsfragen und wie sich Lügen und Familiengeheimnisse über Generationen hinweg fortsetzen und ihren Tribut fordern.
Mallard ist eine Kleinstadt, nicht einmal das, eher ein Weiler, irgendwo in Louisiana. Hier leben hellhäutige Schwarze, die sich gegen Menschen weitaus dunklerer Hautfarbe abgrenzen wollen. Hier wachsen die Zwillinge Desiree und Stella Vignes in den 50er Jahren auf. Als die beiden sechzehn sind, verlassen sie heimlich den Ort. Im Jahr 1968 kehrt Desiree in Begleitung eines sehr schwarzen kleinen Mädchens zurück. Die Alteingesessenen rätseln, was es mit dem Kind und Desirees Rückkehr auf sich hat. Dies ist der Ausgangspunkt für Bennetts Geschichte, die davon berichtet, wie die Zwillinge zwei völlig unterschiedliche Lebensrichtungen eingeschlagen haben, zwei komplett verschiedenen Lebensentwürfen gefolgt sind. Denn während Desiree einen sehr dunkelhäutigen Mann aus Washington, D.C., geheiratet hat, was in Mallard eher weniger goutiert wird, bleibt Stella wie vom Erdboden verschluckt. Sie hat einen Weißen geheiratet, der sie überhaupt nicht als Frau mit schwarzen Anteilen wahrgenommen hatte. Dieser Mann, Blake, hat sie mitgenommen nach Los Angeles und ihr ein Leben in Wohlstand und Ruhe ermöglicht. Die Dinge kommen ins Rollen, als Desirees Tochter Jude, Ende der 70er selbst im Aufbruch ins Leben, in L.A. zufällig auf Kennedy, Stellas Tochter, trifft. In einem jahrelangen Tanz umeinander entwickelt sich eine, wenn auch nicht freundschaftliche, so doch intensive Beziehung zwischen den jungen Frauen, anhand derer Bennett all die oben erwähnten Themen abhandeln kann.
Die Kritik ließ nicht allzu lange auf sich warten. Das sei konstruiert, wenn nicht gar über-konstruiert. Ein Laborversuch, weit von jeglicher Realität entfernt. Hier würden Figurenkonstellationen entworfen, denen zu viel Schicksal, zu viel Zufall, zu viele Themen aufgebürdet würden. Man kann diese Kritik durchaus gelten lassen, allerdings sollte man dann bedenken, daß man sich auf einer Metaebene befindet. Denn dann sollte man auch die Frage stellen, ob Literatur nicht grundlegend immer konstruiert ist, nicht immer Anordnungen und Laborversuche bietet, um auf gewisse menschliche Handlungen und Bedürfnisse hinzuweisen. Es stimmt – die Anordnung ist thesenhaft. Zwillinge, besonders hellhäutige Schwarze, zwei Kinder, die eine tiefschwarz, die andere so weiß wie einer Zahnpastawerbung entsprungen, hinzu kommen Wendungen wie jene, daß Jude sich schließlich mit einem Transsexuellen zusammentut, der auf eine Operation zur Geschlechtsumwandlung spart usw.
Das kann man alles kritisieren, sollte dann aber fair genug sein, wahrzunehmen und auch anzuerkennen, daß es der Autorin gelingt, dies alles organisch, aus sich selbst heraus zu entwickeln und ihre Figuren mit so viel Individualismus auszustatten, daß hier ein hervorragendes Stück Literatur entstanden ist. Die Geschichte ist psychologisch stimmig, die Figuren sind glaubwürdig. Es ist nachvollziehbar, weshalb diese beiden jungen Mädchen in den bewegten 60er Jahren die Flucht ergreifen, und es ist auch nachvollziehbar, wie Stella in die Rolle einer Weißen hineinrutscht, dann hineinwächst, und das Spiel spielt, bis sie es verinnerlicht zu haben scheint. Natürlich ist das Aufeinandertreffen von Desirees Tochter Jude und Stellas Tochter Kennedy ein Zufall, der ein wenig unglaubwürdig erscheint, aber bedenkt man, wie Bennett dies anordnet – die eine ein Kind aus wohlhabendem Hause, die auf Partys rumhängt, für die man einen Cateringservice beauftragt; die andere Mitarbeiterin in genau dieser Firma – wirkt es zumindest möglich.
Wirklich fesselnd ist Bennetts äußerst plausible Beobachtung und Analyse dessen, was das Spiel mit Identität, Geheimniskrämerei und der Verweigerung der Wahrheit mit den Menschen macht, die involviert sind – aktiv oder passiv. Die Verleugnung der eigenen Herkunft, wie Stella sie betreibt, wirkt sich nämlich auch auf ihre Tochter aus, eine Suchende, die zu einer Drifterin wird, zu einem Wesen, das nach der eigenen Wahrheit, der eigenen Identität sucht und, nachdem sie durch ihre Cousine auf ihre Verwandtschaft hingewiesen wird, vollends den Halt verliert. Ein Fest für alle Anhänger der Systemtheorie und von Familienaufstellungen. Bennett erzählt ihre Geschichte ohne tiefgreifende dramatische Umstände, was sie umso glaubwürdiger macht. In sechs Teile aufgesplittet, die jeweils Schlaglichter auf bestimmte Zeitpunkte werfen – 1968, 1978, 1982, der Zeitraum 1985-88 – erzählt Bennett in einem sprachlich zwar anspruchsvollen Stil, der sich aber nie in Metaebenen oder verstiegenen Betrachtungen verliert. Eher konventionell erzählt sie diese Familiengeschichte über zweieinhalb Dekaden hinweg, fängt immer wieder Momente ein, die prägend für die Protagonisten sind, führt eine Reihe wesentlicher Nebenfiguren ein, deren Leben oft nur angerissen und dennoch ebenfalls plausibel erklärt werden, macht das Leben im schwülen Louisiana ebenso nachvollziehbar, wie jenes im sonnigen Südkalifornien. Es entsteht ein lebendiges Portrait eines Reigens von Menschen, die sehr unterschiedliche Lebenskonzepte verfolgen, wobei gerade bei den jüngeren in diesem Ensemble immer die Frage im Raum steht, inwiefern ihr Leben durch die Entscheidungen der älteren geprägt und vorherbestimmt ist.
Es gibt erschütternde Momente in dieser Geschichte. Dazu zählt vor allem jener Abschnitt, der von Stellas Leben in Kalifornien berichtet. Als eine schwarze Familie in das gehobene Viertel zieht, in dem Stella mit Mann und Tochter lebt, wird der inhärente Rassismus auch derer deutlich, die sich selbst für liberal halten. Stella, die aus Angst, Schwarze könnten sie „entlarven“, strikt gegen Schwarze in der Nachbarschaft ist, freundet sich mit der neuen Nachbarin an. Ein Verhältnis, das nicht frei von Spannungen ist und damit endet, daß die schwarze Familie sich schließlich wieder zurückzieht und wegzieht, woran Stella mit ihren Verhalten nicht ganz unschuldig ist. In diesem Abschnitt wird die Rassismus-Frage nahezu ad absurdum geführt. Schwarze, die Schwarze diskreditieren, um die eigene Lebenslüge zu verschleiern, es ist schon fast literarisch subversiv, was Bennett hier betreibt. Allerdings neigt sie gerade in diesem Abschnitt auch ein wenig zu Klischees. Denn Stella fühlt sich bei der neuen Nachbarin und deren ebenfalls schwarzen Freundinnen plötzlich geborgen, erlebt eine Geborgenheit, die sie bei ihren weißen Freundinnen nie erfahren hat. Während die weißen Damen der Gesellschaft eher steif und voller Vorbehalte gezeichnet werden, sind die Nachbarin und ihre Freundinnen lebensfroh, hier wird fast immer gelacht, hier findet Stella jenen Lebensrhythmus, der dem Klischee nach Schwarzen eben schon immer im Blut lag. Und auch die Rolle von Blake, Stellas Gatten, rutscht hier ein wenig ins Klischee ab, scheint der Mann doch so naiv und vielleicht auch desinteressiert, daß er nicht einmal die deutlichsten Zeichen und Hinweise zu verstehen scheint. Er bleibt schließlich auch die schwächste, weil blasseste, Figur des Romans.
Kritisch kann man, aus rein literarischer Sicht, auch das letzte Drittel des Romans betrachten, in dem Bennett ein wenig durch die Jahre hastet und dem Leser berichtet, wie es mit Jude, ihren Freund Reese, mit Kennedy und natürlich Desiree und Stella weitergegangen ist in ihrem Leben. Manchmal reicht da ein einziger Nebensatz, manchmal werden bestimmte Entwicklungen überdeutlich betont. Folgerichtig beendet sie ihr Buch mit der Beerdigung der Mutter von Desiree und Stella, die am Ende ihres Lebens verwirrt ist und ihre Töchter zu verwechseln beginnt, was der Frage nach er eigenen Identität noch einmal einen besonderen Twist gibt. Es ist kein Happyend, sondern Bennett ist mutig genug, aufzuzeigen, daß lebenslange Lügen und Selbstverleugnung Folgen haben, die in demselben Leben wahrscheinlich nicht mehr einzufangen sind. Schmerz und Trennung fordern ihren Preis und den zahlen alle mit den Beschädigungen am eigenen Leben, deren Herkunft und Ursprung man oft nicht einmal begreift. Auch, weil die entscheidende Information fehlt.
Doch bei aller auch berechtigten Kritik – Bennett gelingt eben eine sehr kluge und vielschichtige Analyse davon, wie Rassismus sich in den Köpfen festsetzt, wie er sich auswirkt, wie er auch die Köpfe derer vergiften kann, die eigentlich sein Opfer sind. Das ist mutig, das ist differenziert und es ist natürlich auch das Buch zur Stunde. Nur sicherlich anders, als dies bspw. die Black Lives Matter-Anhänger sehen. Es ist ein wichtiges Buch, es ist ein aufrüttelndes Buch. Vor allem aber ist es ein wirklich gutes Stück Literatur, das den Leser in Spannung hält, ihn drängt, weiter zu lesen, weil er wissen will, wie es mit all diesen Menschen denn nun weitergeht. Es ist schlicht richtig gute Literatur.