BAUMGARTNER

Ein kleines, fast stilles Denkmal für eine langsam verschwindende Szene

Will man etwas über die Befindlichkeit des amerikanischen Ostküstenintellektuellen erfahren, greift man nach wie vor am besten zu den Werken Saul Bellows, Philip Roth´ oder aber Paul Austers. Der hat die Fackel von seinen berühmten Vorgängern übernommen und nahtlos angeknüpft, wo jene einst aufhörten. Auch sein neuer Roman BAUMGARTNER (2023; Dt. 2023) berichtet schlaglichtartig aus dem Leben eines ehemaligen Professors der Universität Princeton, der nun, in die Jahre gekommen, zwischen der Betrachtung seines bisherigen Lebens und einem vermeintlich neuen Aufbruch schwankt.

Auster, den man abzüglich einer Karriere als Universitätsprofessor durchaus als Ostküstenintellektuellen par excellence bezeichnen darf, ist bekannt dafür, auf Versatzstücke nicht nur des eigenen Werks, sondern immer auch auf die eigene Biographie zurückzugreifen. So wird diese Rückschau eines Gebildeten, der sein Leben im Umkreis anderer sehr gebildeter, kluger und kreativer Menschen verbracht hat, sicherlich auch ein wenig zu einer Rückschau auf das eigene Leben. Auster geht seinerseits nun auf die Achtzig zu und rekapituliert. Wahrscheinlich dürfte nach dem Großwerk 4 3 2 1 (2017) mit seinem brachialen Umfang von nahezu 1300 Seiten auch die eher bescheidene Seitenzahl von gerade einmal gut 200 darauf zurückzuführen sein, dass der Autor darauf achten muss, seine Kräfte zu sparen, nichts zu beginnen, was er vielleicht nicht mehr zu einem Ende bringen kann.

Fulminant steigt er in seine Geschichte ein und berichtet von einem wahrlich misslungenen Tagesbeginn: Verbrannte Finger, eine zerbrochene Tasse, ein Sturz auf der Kellertreppe. Doch dem Protagonisten seines Buchs, Sy Baumgartner, einst Dozent der Phänomenologie, werden auch diese Unbilden zur steten Quelle der Erinnerung. Und so erinnert er sich: Vor allem an seine Frau Anna, die seit nunmehr zehn Jahren tot ist, als sie beim Schwimmen vor Cape Cod in eine massive Welle geriet, die ihr das Rückgrat brach – ihr, dieser Frau, die im Leben so viel Rückgrat bewies, nicht zuletzt gegenüber ihrer wohlhabenden Familie. Doch auch die eigene Kindheit, der eigene Hintergrund, die eigene Familie werden zu Gegenständen seiner räsonierenden Betrachtungen. Zugleich lässt er auch seine unmittelbare Gegenwart Revue passieren: Da ist eine Kollegin, die er bei einem Empfang kennen gelernt hat und mit der Sy eine zarte, sich erst entwickelnde Affäre verbindet. Doch in den fünf langen Einzelkapiteln, in die Auster seinen Text unterteilt – getragen von oftmals großen Zeitsprüngen, unterbrochen von Kurztexten Annas, die Sy beim Durchforsten ihres Arbeitszimmers findet, aber auch einem eigenen längeren Text aus frühen Jahren – lernen wir aber auch, wie sich diese Affäre und andere Dinge des Alltags entwickeln. Und nicht alles entwickelt sich zu Sys Freude und seiner Hoffnung entsprechend.

Auster schreibt mit großer Ruhe und diese Ruhe erfasst auch seinen Protagonisten zusehends. Immer ruhiger und ausgeglichener wird Sy, je mehr er sich der Erinnerung an Anna und all jene glücklichen Jahre, die die beiden verbanden, stellt. Und immer leichter fällt es ihm, loszulassen. Er kann sich der Gegenwart stellen, er nimmt sich selbst zwar immer noch als alt wahr – besser vielleicht: als alternd – doch zugleich glaubt er auch immer mehr an eine eigene Zukunft, auch jenseits der Siebzig. Und dieser Zukunftsglaube, die sich darin ausdrückende Hoffnung, führt auf der Metaebene des Textes zu einer Selbstversicherung. Es ist auf dieser Ebene auch eine Selbstversicherung des Autors Paul Auster. Eine Versicherung über das gelungene Leben bei allen Beschädigungen – körperlicher (man denke an den Anfang des Buches inklusive Treppensturz) wie psychischer – die zu einem Gelingen vielleicht sogar dazugehören, mögen sie doch die Grundierung sein, vor der das Gelungene erst wirklich strahlen kann. Es mag, so Baumgartners Fazit, nicht das aufregendste Leben gewesen sein, es mag ein akademisches Leben gewesen sein, geprägt von Büchern und Lehre, Texten und deren Exegese, doch war es eben doch auch ein aufregendes Leben, ohne Superlativ. Aufregend in seiner Zeit – jung gewesen zu sein in einer Zeit des Aufbruchs, in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Politischen, der Gesellschaft, der zeitgenössischen Kultur – aber auch aufregend im Persönlichen, in der Liebe, in der Karriere, den Reisen und den Freundschaften. Manchmal vielleicht eine Frage des Standpunkts, der Perspektive.

Der manchmal sperrige Autor Paul Auster zeigt sich hier zugänglich, der Leser folgt diesen Betrachtungen gern, die Lektüre ist flüssig, manchmal ein wenig melancholisch, manchmal wirklich witzig, nie sentimental. Auster nimmt den Leser mit in dieses Leben und schließlich auch hinaus aus diesem Leben, wenn er Sy schlussendlich in einem Schneesturm davonstapfen lässt und uns mitteilt, somit begänne das letzte Kapitel der Saga von S. T. Baumgartner. Man schließt das Buch und lächelt. Man hat teilgenommen an diesem Leben, erinnernd teilgenommen. Man hat diesen Seymour T. Baumgartner kennen- und ein wenig zu lieben gelernt. Man hofft sogar, dass dieses letzte Kapitel in der Saga dieses Mannes noch einmal etwas für ihn zu bieten hat. Etwas Großes, etwas Zukunftsträchtiges.

Zur Wahrheit dieses Buchs gehört allerdings auch, dass es der Geschichte oder Betrachtung des Ostküstenintellektuellen im Allgemeinen und im Besonderen nichts Neues oder sonderlich Originelles hinzuzufügen hat. Auch das führt zur Selbstvergewisserung des Textes. Der Vergewisserung seiner selbst als Text. Es ist auch der Text eines Schriftstellers, der sich in einer bestimmten Tradition weiß und verortet und der dieser Tradition hier auch ein leises, ein stilles und doch sehr eindringliches Denkmal setzt. Vielleicht auch deshalb ein melancholisches Denkmal, da das Milieu, das hier beschrieben wird und für das vielleicht auch geschrieben wurde, dieses Milieu stirbt wohl nach und nach aus. Mit Autoren wie Auster selbst, aber auch mit einer Autorin wie seiner Frau Siri Hustvedt, mit der er eine starke intellektuelle Gemeinschaft bildet. Sicher wird New York immer ein Zentrum des westlichen Intellektualismus bleiben und neue, andere Stimmen und Haltungen hervorbringen. Doch dieses spezifische Milieu, das sich auch aus der amerikanischen Linken der 30er und 40er Jahre heraus nach dem 2. Weltkrieg entwickelt hatte und für die Moderne, aber auch deren Übergang in die Postmoderne steht, diesem Milieu scheint nur wenig Neues zuzuwachsen. Das mag schlicht intellektuelle Evolution sein, Blasen verschieben sich, sowohl geographisch als auch sozial. Dennoch kann man ein wenig Trauer empfinden über den möglichen Verlust eines der wesentlichen geistigen Zentren des 20. Jahrhunderts. Gut, dass ein Autor wie Paul Auster noch einmal daran erinnert.

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