UNDERGROUND RAILROAD
Colson Whitehead stimmt einen garstigen Gesang an und kündet von der Freiheit und der Hölle der Sklaverei
Nachdem man die Lektüre von Colson Whiteheads UNDERGROUND RAILROAD beendet und sich wieder einigermaßen gefangen hat, ist man schnell bereit, all die Meriten, die Preise und Lobhudeleien nachzuvollziehen, die der Roman seit seinem Erscheinen 2016 erhielt. Immerhin sind mit dem National Book Award und dem Pulitzer-Preis zwei der renommiertesten Preise darunter, die in Amerika für literarische Werke zu vergeben sind. Mit fulminanter Wucht und einer ungeheuren schriftstellerischen Dynamik stürzt sich Whitehead in seine weitestgehend stringent erzählte Geschichte einer Flucht. Und reißt den Leser dabei in einen literarischen Strudel aus Gewalt, Hass, Unterdrückung, Verachtung und Tod und ebenso in ein Szenario der Hoffnung auf Freundschaft, Freiheit, Achtung, Respekt und, vielleicht, Liebe.
Als der neu auf der Plantage in Georgia eingetroffene Sklave Caesar sie fragt, ob sie ihn bei seiner Flucht in den Norden begleiten wolle, weist Cora ihn zunächst zurück. Zu verführerisch die Hoffnung, dem Grauen des Sklavenalltags zu entgehen, zu fürchterlich das Wissen darum, was jenen geschieht, die es versuchen und die gefasst werden. Hinzu kommt die Tatsache, daß Coras Mutter Mabel die einzige Entlaufene der Randall-Plantage war, der die Flucht je gelang. Sie steht also unter ganz besonderer Aufsicht. Als Caesar sie ein zweites Mal fragt, will sie wissen, warum er ausgerechnet sie dabei haben wolle und er antwortet, er brauche sie als Glücksbringer. Und so machen sich die beiden eines Nachts auf, begleitet von einem weiteren Sklavenmädchen. Sie schlagen sich in die Sümpfe und schleichen sich zu einem mit Caesar befreundeten Weißen, der ihm von der ‚Underground Railroad‘ berichtet hat – einem geheimen Netzwerk, das Fluchthelfer bis hinaus in den Norden und bis Kanada gesponnen haben, um Schwarzen aus der Gefangenschaft des Südens und seiner „speziellen Institution“ zu helfen. Verfolgt von dem Kopfgeldjäger Ridgeway, der ein besonderes Verhältnis zu Cora empfindet, war er doch einst schon an der Jagd nach ihrer Mutter gescheitert, gelingt den Dreien zunächst ein guter Teil der Fluch, bevor sie in einem Hinterhalt auseinandergetrieben und versprengt werden. Cora und Caesar finden einander wieder und werden erst Jahre später vom fürchterlichen Schicksal ihrer jungen Reisebegleiterin erfahren. Über South Carolina, wo sie sich zunächst in Sicherheit wähnen, bis sie merken, daß die Freundlichkeit, die ihnen hier von Seiten der Weißen entgegenschlägt lediglich deren Interesse an „Material“ für Experimente medizinischer Natur geschuldet ist, und wo Cora Caesar endgültig verlieren wird, über North Carolina, wo Cora die ganze rassistische Grausamkeit der weißen Rasse zu spüren bekommt, bis nach Indiana, wo sie einen kurzen Moment schwarzer Utopie erleben darf, und schließlich in den Norden trägt Cora die ‚Untergrundeisenbahn‘. Sie wird schließlich ca. 100.000 Schwarzen wie Cora die Flucht ermöglicht haben – doch sie wird nicht die Grenzen und Schranken in den Köpfen einreißen können…
Coras Flucht wird in sechs längeren Kapiteln direkt und ohne Schnörkel, aber auch ohne jede Form von Schonung für den Leser erzählt. Wir werden Zeugen unglaublicher Gräueltaten – Quälereien, Folterungen und Hinrichtungen, deren Sadismus derart ist, daß darüber noch in anderem Zusammenhang zu reden sein wird – und einer menschlichen Kälte und Grausamkeit, die schnell an allem Humanitären zweifeln lässt. Unterbrochen wird die Erzählung durch kurze, skizzenhafte Einschübe, Reflexionen einzelner Figuren, die im Text eher Nebenrollen spielen – Ridgeway, einige Helfer, Caesar und schließlich Mabel, Coras Mutter, wodurch immerhin der Leser erfährt, wieso diese Frau bereit war, ihr Kind nicht nur zu ver-lassen, sondern auch der Grausamkeit der Plantagenwelt zu über-lassen. Gerade die Einschübe lassen Whitehead den Spielraum, weitergehend über sein Thema zu reflektieren und es in größere Zusammenhänge zu stellen.
Kaum mehr wird heute jemand aufschreien, wenn man die Behauptung aufstellt, es bei der Sklaverei, wie sie auf dem nordamerikanischen Kontinent gehandhabt wurde, mit einem Menschheitsverbrechen zu tun zu haben. Whitehead lässt aber immer wieder auch die Vernichtung der nordamerikanischen Indianer in seinen Text einfließen und attestiert dem weißen europäischen Mann damit eine mittlerweile ca. 500jährige Geschichte globalisierter Ausbeutung anderer Rassen, Erdteile und derer Ressourcen. Immer häufiger wird man als europäischer Leser sowohl in der Sachliteratur als auch in der (amerikanischen) Belletristik damit konfrontiert, sich nicht einseitig auf die Shoah, den Holocaust zu konzentrieren, sondern zu begreifen, daß der Vernichtungsfuror, der sich schließlich auch in Europa zeigte, schon lange virulent war, bevor Auschwitz, Sobibor und Treblinka zu Chiffren eines fürchterlichen und in seiner maschinellen, seriellen, dem Wesen der Moderne entsprechenden Erscheinungsform absolut einmaligen Systems wurden. Es war aber als Idee bereits da – wie schon im schleichenden Genozid der Konquistadoren in Südamerika, wie auch in der Vernichtung der Herero im damaligen Deutsch-Südwestafrika, wie in der unter deutscher Beobachtung stattfindenden Vernichtung der Armenier, wie im Vorgehen der Briten gegen die Buren usw. Dieser Gedanke stellt die Singularität der Shoah keineswegs in Frage, doch kann er wesentlich zum Verständnis der uns immer wieder umtreibenden Frage beitragen, wieso es dazu kommen konnte. Man lese ein Buch wie Elliot Perlmanns brillantes THE STREET SWEEPER (TONSPUREN), wo dezidiert ein jüdischer Autor den Zirkelschlag wagt. Es geht vielleicht auch darum, zu begreifen, daß auch in diesem Zusammenhang neben all den mittlerweile analysierten und durchschauten Mustern antisemitischer, nationalistischer, chauvinistischer Natur vielleicht auch noch einmal die Geschichte des europäischen Kolonialismus ursprünglich bedacht werden sollte. Europäische Überlegenheitsgefühle, die Idee, sich zum Herrn über Leben und Tod aufschwingen zu dürfen, sich auch systematisch zum Exekutor zu erheben – Whitehead fordert die gebührende Aufmerksamkeit dieses Umstands, gerade eben auch indem er auf die Vernichtung der Indianer verweist. Doch niemals ist das eine Relativierung.
Dem weißen Leser bleibt kaum mehr eine Möglichkeit sich zu verhalten, denn zu deutlich wird uns vor Augen geführt, welche Spuren, welche fürchterlichen Narben eben nicht nur an den Körpern, sondern mehr noch an den (kollektiven) Seelen der Gemarterten entstehen, die ihren einstigen wie gegenwärtigen Peinigern in dem Bewußtsein gegenübertreten, in deren Bewußtsein zunächst und für lange, lange Zeit lediglich als Ware existiert zu haben. Es gibt eine ganze Reihe von ‚race‘- und ‚gender‘-Theoretikern, die heute die These vertreten, dieses Bewußtsein habe die weiße Rasse nicht nur nie abgelegt, sondern es sei ihr schlicht gar nicht mehr möglich, ein anderes zu entwickeln. Liest man Whiteheads Bericht kühl und distanziert, ist man gewillt, diesen Theorien zuzustimmen. Es gelingt dem Autor auf ebenso eindringliche wie fürchterliche Weise, dem Leser eben dies zu verdeutlichen: Der Blick, den wir auf Menschen anderer Hautfarbe und Rasse werfen, ist immer der Herrschaftsblick, ist auch immer ein gewaltsamer und – wesentlich – ein besitzergreifender Blick. Selbst der Blick derer, die sich selbst für „aufgeklärt“ oder „liberal“ oder gar „links“ halten. Es ist dies eine fürchterliche, fürchterliche Erkenntnis dieser Lektüre.
Dahinter verblasst etwas, daß es durchaus kritikwürdige Punkte an der Lektüre gibt. Soweit dieser Rezensent informiert ist, war der Begriff ‚Underground Railroad‘ eine Metapher für ein Netzwerk. Es mag vereinzelt Abschnitte gegeben haben, auf denen wirklich Loren oder stillgelegte Züge eingesetzt wurden, mit Sicherheit gab es kein geheimes Tunnelnetz, daß praktisch den Osten der USA durchzog. Colson Whitehead bedient sich hier eines künstlerischen Kniffs, der dem Leser nicht zwangsläufig einleuchten muß, auch und weil die realen Routen, die die Flüchtenden nutzten, noch weitaus mehr Gefahr, Tod und Elend bereithielten, als es sein allegorisches Bild einer an eine dunkle, unklare, ungewisse Zukunft sich Ausliefernde zu bieten hat. Neben dieser wirklich bedenkenswerten Kritik nehmen sich andere Auffälligkeiten wie Kleinigkeiten aus: Daß sich der Sklavenjäger Ridgeway in nächtlichen Gesprächen mit seiner in Eisen geschlagenen Gefangenen als eine Art Westentaschennietzsche des Südens entpuppt, der dem menschlichen Treiben, das er beobachtet so oder so voller Verachtung entgegentritt, mag man ebenfalls unter „Allegorie“ abzeichnen; es ist nicht davon auszugehen, daß ein Mann wie Ridgeway in realitas viel mehr als vielleicht eine gewisse sexuelle Aufmerksamkeit auf seine Gefangene richten würde. Schade ist, daß Whitehead, der in seinen Beschreibungen manchmal bis in den Hyperrealismus geht – und dafür gute Gründe hat, denn das, was er an Grausamkeit schildert ist zugleich eine Signatur: die Signatur eines Vernichtungs- und Unterdrückungswillens, wenn bspw. einem Sklaven, der dabei ertappt wird, wie er versucht, das Lesen zu erlernen, die Augen ausgestochen werden, der sich sehr wohl seiner eigenen Falschheit bewusst ist und sehr genau weiß, daß er die Gepeinigten ungebildet, uninformiert und unorganisiert halten muß, weshalb das Auseinanderreißen von Familien nicht nur Zeichen äußerster Kaltblütigkeit war, sondern durchaus Programm zur absoluten Vereinzelung – sich nicht traut, diese „allegorische“ Seite stärker auszuweiten und seinen Text direkt in das Hier und Jetzt hinein wuchern zu lassen.
Einerlei – Colson Whitehead ist ein fulminanter und für weiße Leser erst recht schwer, sehr schwer erträglicher Roman geglückt, der ebenso Wesentliches wie Grundlegendes nicht nur zur historischen Wirklichkeit der USA zu sagen, sondern auch zur zeitgenössischen Gegenwart des Landes – vielleicht am Vorabend eines neuen Bürgerkriegs? – beizutragen hat.