BLIND VOR WUT/CHILD OF RAGE
Jim Thompson wendet sich der "Rassenfrage" zu - und scheitert...
Allen Smith wird von seiner Mutter in einer neuen Schule angemeldet, es ist eine „Höhere Schule“ für sie Abkömmlinge der New Yorker Upper Class. Nur wenige Schwarze haben Zugang zu dieser Anstalt und so wird Allen von Anfang an vom Schuldirektor, seiner Mutter und der schwarzen Schülerin und Sekretärin Josie darauf eingeschworen, hier ja nicht unangenehm aufzufallen. Allen eilt ein gewisser Ruf voraus. Und auch jetzt brütet er allerlei Streiche und Tricks aus, mit denen er seine Umwelt hereinlegen und ärgern kann. Wirklich schlimm sind all diese Ideen nicht, doch kommen durch sie durchaus Allens tiefe Verachtung seinen Mitmenschen gegenüber zum Ausdruck. Er selber erklärt sich für „böse“ – ohne Grund, ohne Anlaß, er sei schlicht das personifizierte Übel der Menschheit. Dennoch kann er es sich nicht verkneifen, seinen maßlosen Hass gegen Schwarze wie Weiße, Frauen wie Männer, Verbrecher wie Cops in manchmal schwer zugängliche Tiraden zu kleiden. Hochintelligent und hochgebildet, scheitert er doch immer wieder an den Ressentiments seiner Umwelt, deren Bild eines Schwarzen, oder Mulatten, sowieso schon geprägt ist. Allen verführt zwei Mitschüler, ein Geschwisterpaar, dazu, sich gegenseitig zu begatten, setzt sich den Annäherungsversuchen seiner Mutter aus, die ihn zur Bestrafung für seine Streiche sexuell erregt und dann abbricht. Allen begehrt sie und will sie zugleich vernichten. Als er in einen Unfall verwickelt wird, bei dem ein Baby stirbt, muß er sich nicht nur einer im Grunde feindselig gestimmten Umgebung stellen, sondern ist plötzlich auf die Hilfe von Josies Vater, eines weißen Polizisten, angewiesen, der den Unfall beobachtet hatte. Schwerer jedoch wiegt, daß Allen eine Haltung einnehmen, seinen Zynismus ablegen und sich – nicht zuletzt vor Josie, die an ihn glaubt – ehrlich machen muß.
Der amerikanische Autor von Noir-Thrillern Jim Thompson steht nie im Verdacht, ein ausgesprochener Menschenfreund gewesen zu sein, gegen Ende seines Lebens aber – wir schreiben die frühen bis mittleren 1970er Jahre – nahm seine Misanthropie noch einmal ein Ausmaß an, das seinen letzten Werken deutlich anzumerken ist. Leider, so muß man konstatieren, schlägt sich dieser Hass dann doch auch auf die Qualität dieser Werke nieder. Was in den 50ern und zu Beginn der 60er Jahre Kraft, Biss und eine unfassbare schriftstellerische Energie hatte, wirkt nun oft nur noch bitter. Ganz besonders ist das in seinem letzten Roman KING BLOOD zu spüren, aber auch hier, in CHILD OF RAGE (Originaltitel), kann der Leser diese Bitternis erkennen. Thompson bietet hier ein ausgesprochen gewagtes Szenario – ein Mulatte, der sich in der gehobenen New Yorker Gesellschaft wiederfindet – , welches ihm selbst eher fremd ist, das extrem konstruiert wirkt und woran der Roman schließlich scheitert. Was schade ist, denn im Grunde wäre es gerade jemand wie dieser Autor gewesen, jemand von der Bissigkeit und auch der angemessenen Schärfe, die Thompson immer ausgemacht haben, um sich genau dieses Sujets anzunehmen. Nur hätte er es eben etwas konzentrierter und fokussierter angehen sollen.
Thompsons Antihelden sind so oft genau das, was Allen sein möchte: abgrundtief böse Psychopathen, deren Taten aus einem scheinbaren Nichts heraus entstehen, die sich aber unwahrscheinliche Geschichten zurechtlegen, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Oft sind sie genau kalkulierende Opportunisten, die ihrer Umwelt vorgaukeln, sie seien dumm oder unerfahren, was ihnen in den entscheidenden Momenten enorme Vorteile verschafft. Und fast immer sind es Killer. Keine Berufskiller, keine Profis, sondern Töter aus Gelegenheit. Sie begehen ihre Taten meist ohne Lust oder Freude, sondern schlicht, weil sie sich als die scheinbar einfachste Lösung ihrer Probleme anbieten. Oft schimmert – gerade in den allerbesten Werken des Autors – jedoch die vollkommene Sinnlosigkeit ihrer Taten hinter all dem Wortgeklingel um Notwendigkeiten hervor. Allen aber ist anders. Allen WILL ein Psychopath sein und muß sich schlußendlich eingestehen, daß er ein hochmoralisches Wesen ist. Sein Hass ist Selbsthass, seine Enttäuschung generiert auch daraus, daß sich auch die, denen er sich zugehörig fühlen soll und doch nicht zugehörig fühlen kann – die Schwarzen – als kein Gran besser entpuppen, als die weißen Rassisten und Unterdrücker. Allen will der Welt eine Lektion erteilen, was ihm auch gelingt. Es macht ihn momentweise glücklich und bringt ihn doch um die Zuneigung ihm nahestehender Menschen.
Thompson – ein überzeugter Kommunist (amerikanischer Prägung) wachen Blickes für die politischen Vorgänge in seinem Land – muß sich überlegt haben, daß gerade er der Rechte sei, über die Entwicklungen der Rassenfragen zu schreiben. Als Südstaatler, der er war, mit klarem Bewußtsein für die himmelschreienden Ungerechtigkeiten zwischen den Rassen gerade in seiner Heimat, mochte er sich vielleicht sogar dazu verpflichtet gefühlt haben, sich der Thematik anzunehmen. 1972 waren die Black Panther weitgehend diskreditiert, die Anführer saßen im Gefängnis und die Bürgerrechtsbewegung hatte nicht mehr die Kraft, die sie seit Beginn der 60er Jahre getragen hatte. Man konnte auch als Außenstehender durchaus erkennen, wo die Sollbruchstellen zwischen Militanten und Gemäßigten, zwischen der Masse der immer noch armen Schwarzen und einer erst im Entstehen befindlichen schwarzen Mittelklasse verliefen. Daß ein sozialistisch denkender Alkoholiker mit einem gewissen Maß an Menschenverachtung kaum davor zurückschrecken würde, auch eine schwarze Mittelklasse als dekadent und egoistisch anzugreifen, durfte ebenso wenig überraschen, wie es die drastischen Mittel taten, die er dazu nutzte. Offensichtlich angestachelt durch die Entwicklungen der vergangenen Jahre – sexuelle Revolution und der Tabubruch als Selbstzweck u.a. – nutzt Thompson, der auch in den 50ern nicht davor zurückschreckte, stilistisch durchaus an den Rand des Erlaubten zu gehen, seine neuen Freiheiten zu ebenso drastischen wie expliziten Beschreibungen v.a. sexueller Vorgänge. Dieser eher technische Terminus ist wohl gewählt, haben die hier beschriebenen Akte doch wahrlich nichts Schönes, Zärtliches oder gar Erregendes an sich. Der ob des Mißbrauchs durch seine Mutter offenbar impotente Allen rächt sich auch hierfür an allen und jedem. Die Hadley-Geschwister, die als derart aufeinander bezogen gezeichnet werden, daß Inzest als natürlicher Vorgang naheliegt, sind dabei Allens bevorzugte Opfer, identifiziert er sie doch nicht nur als snobistische Abkömmlinge einer schwarzen Mittelklasse, die ihn nur deshalb akzeptiert, weil seine Mutter weiß und offenbar wohlhabend ist, sondern er durchschaut auch die Bigotterie, die sich hinter der Fassade der Wohlanständigkeit verbirgt. Wenn er die beiden soweit hat, daß sie wirklich intim miteinander werden, offenbart sich in ihrer Lust eben auch, wie recht er hatte. Allen ist ein überaus wacher Geist, der seine Umwelt genau beobachtet und deren Verlogenheit durchschaut. Und dann mit genau jenen Ressentiments zurückschlägt, die sich ihm bieten: Rassistisch, homophob, frauenfeindlich. Allen nutzt seine überbordene Intelligenz dazu, als Spiegel seiner Umwelt zu fungieren, seine Fantasie nutzt er, um sich die wahrlich grausamen Streiche auszudenken, mit denen er die Menschen in seiner Umgebung straft. Allen voran seine Mutter.
Das klingt nach einem großen Wurf, leider ist es das aber nicht. Denn zu all dem kommt hinzu, daß Allens Mutter eine hochbezahlte Prostituierte ist, zu deren Stammkundschaft ausgerechnet der Vater der Hadleys zählt, ein Arzt, der Wert darauf legt, fast nur weiße Patienten zu behandeln; weiterhin kommt hinzu, daß sich in Josie, deren Vater weiß ist, Allens Schicksal zu spiegeln scheint, aber eben nicht nur geschlechts- und elternspezifisch „verkehrt“, sondern auch als Lebensentwurf. Mr. Verie, der (weiße) Direktor in Allens Schule, verdächtigt ihn ununterbrochen der Taten, die Allen (meist) auch wirklich begangen hat, wird aber jedes Mal von gutmeinenden Weißen – nicht zuletzt Josies Vater, der ja Detective ist – zurückgepfiffen, womit Thompson möglicherweise eine weiße Bevölkerung karikieren wollte, die im Umgang mit Schwarzen vollkommen verunsichert ist. Allen ist Mulatte, womit seine Position noch weitaus schwächer ist, als die „reiner“ Schwarzer. Doch schleicht sich in Thompsons Text an dieser Stelle ein ganz eigener rassistischer Moment ein, denn man kommt schon ins Grübeln, warum nur Mulatten in diesem Werk über entsprechende Intelligenz verfügen, Schwarze lediglich als habgierig und im Grunde ihren weißen Peinigern nacheifernd beschrieben werden.
Thompson wollte hier offenbar eine neue Richtung als Schriftsteller einschlagen, weg von den nominellen Thrillern, hin zu drastischen Gesellschaftsromanen, die er jedoch mit den Mitteln seiner früheren Werke zu schreiben gedachte. Was dabei herauskommt, ist schlicht zu viel. Zuviel von allem: Zuviel Allegorie, zu viele Probleme, zu viele Konflikte, zu viele Zufälle, die es aber braucht, um das Konstrukt der Story zusammen zu halten. So würde man vielleicht sagen, daß man es eben mit einem schwächeren Werk am Ende einer zu des Autors Lebzeiten nie wirklich zündenden Karriere zu tun hat, man würde sich ein wenig traurig abwenden und zu den älteren, besseren Werken greifen.
Der Heyne-Verlag hat nun in seiner Neuausgabe des Romans in der Reihe ‚Heyne Hardcore‘ den Text mit dem einer Novelle – EIN PFERD IN DER BABYWANNE – zusammengebracht, die für sich genommen ebenfalls nicht wirklich überzeugen kann, mehr noch, als gescheitert zu betrachten ist. Doch im Zusammenspiel der beiden Texte passiert etwas Eigenartiges: Plötzlich schimmert der eine Text durch den anderen hindurch, plötzlich bekommt man den Eindruck, daß sich möglicherweise der eine Textkörper im anderen spiegelt und somit auch erklärt.
Hier haben wir es mit dem ebenfalls hochbegabten Sproß einer depressiven Mutter und eines herrschsüchtigen Vaters zu tun, die er beide vom Leben zum Tode befördert hatte, sie, indem er ihr beim Selbstmord half, ihn durch einen als Selbsttötung getarnten Mord. Nun sitzt dieser Junge mit seiner sehr jung verwitweten Stiefmutter in der düsteren Wohnung und wartet auf sein einundzwanzigstes Lebensjahr, welches bedeutet, daß er und seine Stiefmutter zu gleichen Teilen Zugriff auf das Vermögen der Familie haben. Eine Art Hassliebe verbindet sie miteinander und Herbie, so der Name des jungen Mannes, denkt sich eine ganze Reihe übler Streiche aus, mit denen er sowohl seine Mitbewohnerin, als auch Nachbarn und Freunde zur Weißglut treibt. Während eines im Text lang ausgebreiteten Besuchs bei seinem Psychiater erfährt der Leser allerdings nicht nur, daß auch andere Herbie schlicht nicht leiden können, sondern auch, daß das meiste der aus der Ichperspektive erzählten Vorkommnisse, inklusive eines Teils des Personals, wohl nichts weiter als Hirngespinste des Erzählers, also Herbies, sind. Wir haben es also mit einem Manisch-Depressiven, möglicherweise einem Schizophrenen zu tun. Und dennoch, daran lässt der Text keinen Zweifel, ist diesem Jungen Unsagbares wiederfahren. Es ist eine Verzweiflung hier zu spüren, die aus einem an sich inkongruenten Text, der unentschlossen bleibt, zerfasert und wenig überzeugt, sich geradezu heraus drängt. Und während der Lektüre denkt man natürlich an Allen und seine Mutter, daran, mit welcher Inbrunst Allen sie begehrt und zugleich hasst für das, was sie ihm mit ihren Annäherungen angetan hat und noch antut, u.a. seine Unfähigkeit, sich anderen Frauen nähern zu können. Und mit einem Mal denkt man, daß es bei all dem vielleicht gar nicht um Schwarz und Weiß oder gesellschaftliches Oben und Unten geht, sondern sich dahinter etwas ganz anderes verbirgt: Eine Abrechnung der Generationen. Denn das haben beide Texte gemein: Sie erzählen von Jungen, die massiven Einflüssen durch extrem selbstbezogene und in Allens Fall ihn auch hassende Ältere – Eltern – ausgesetzt waren und sich in diesen Einflüssen, in den Ansprüchen, die an sie gestellt wurden, verloren haben. Ihre letzte mögliche Reaktion auf diese Welt ist Gewalt – psychische, aber auch physische, wie Herbie sie ausübt. Und so wird aus zwei eher schwächeren Texten zumindest ein interessantes Spiel zweier sich gegenseitig befruchtender Texte, die jeder für sich, wie auch gemeinsam, nicht wirklich überzeugen können, denen der Heyne-Verlag – ob gewollt oder ungewollt sei einmal dahingestellt – jedoch den Gefallen tut, Teile eines literarischen Experiments zu werden.
CHILD OF RAGE ist nicht Thompsons bestes Werk, im Gegenteil, dieser Roman ist fraglos zu den schwächeren des Autors zu zählen. Doch wenn Interesse am Gesamtwerk bestesht, wenn man wissen will, wie sich dieser zu Lebzeiten so gnadenlos unterschätzte Romancier entwickelt hat und wohin er sich möglicherweise noch entwickelt hätte, dann ist das Werk natürlich ein literarisches Schlüsselerlebnis. Vergleicht man es mit dem ein Jahr später erschienen KING BLOOD, muß man konstatieren, daß der Autor offenbar einen erheblichen depressiven Schub durchlitten haben muß. Was im vorliegenden Werk zumindest noch erkennbar sozialkritische Tendenz hat, wurde im Folgewerk zu blankem, menschenverachtenden Zynismus. Und der blieb – zu Unrecht – das Vermächtnis eines der ganz großen Noirautoren des 20. Jahrhunderts.