CORREGIDORA

Ein Schlüsseltext, der auf spätere Autoren wie Toni Morrison oder Alice Walker verweist

Es war die große Toni Morrison, erste schwarze Frau, der der Literaturnobelpreis zugestanden wurde, die Gayl Jones Debut-Roman CORREGIDORA (Original 1975; Dt. 2022) als Lektorin bei Random House verlegte, nachdem sie das Werk zunächst abgelehnt hatte. In ihren späteren Jahren, längst war sie selbst eine anerkannte und weltberühmte Autorin, gab sie zu bedenken, daß das mittlerweile fast in Vergessenheit geratene Werk maßgeblich dazu beigetragen hatte, daß sie selbst, aber auch eine Autorin wie Alice Walker, deren THE COLOR PURPLE (1982) eines der bahnbrechenden Werke für Schwarze und ihre Belange in den 80er Jahren wurde, den Mut aufgebracht hätten, so über das Leben schwarzer Mitbürger in den USA zu schreiben, wie sie es schließlich taten. Und, so Morrison in ihren Einlassungen, vor allem die Sexualität schwarzer Frauen ehrlich und authentisch zu beschreiben, habe Jones Roman maßgeblich beeinflusst.

Jones, deren Lebensgeschichte selbst wie Stoff für einen Roman anmutet – u.a. anderem floh sie aus den USA, da ihr Mann, der politische Aktivist Robert Higgins, wegen Waffenbesitzes und Drohungen gegen eine junge Frau gesucht wurde, und lebte einige Jahre versteckt in Europa – schrieb ihren Roman in einer Zeit, als schwarze Literatur noch als etwas Exotisches betrachtet wurde und selbst Autoren wie Ralph Ellison oder James Baldwin nur wenigen Intellektuellen, geschweige denn einem breiteren Publikum bekannt waren. Ihre Sprache ist rau, ja roh, sie nimmt, um es einmal etwas despektierlich zu sagen, kein Blatt vor den Mund, vor allem dort nicht, wo es um Sexualität und Gewalt geht. Und darum geht es in diesem Werk nahezu ununterbrochen. Nach der gewiss anstrengenden Lektüre des Romans versteht man sehr viel besser, weshalb Race- und Gender-Studies oftmals in einem Atemzug genannt werden und einander ergänzen.

Der Roman setzt in den späten 40er Jahren ein. Erzählt werden die Begebenheiten von der damals noch jungen Ursa Corregidora. Sie entstammt einer Familie ehemaliger Sklaven, die alle den Nachnamen ihres ehemaligen Besitzers tragen. Der war ein Portugiese, der sich im Süden der USA Sklaven hielt, die Männer meist verkaufte, die Frauen zur Prostitution zwang und sich vor allem selbst immer wieder an den ihm Ausgelieferten verging. Aus diesem Grund haben Ursas Urgroßmutter, ihre Großmutter und ihre Mutter alle denselben Vater – eben den Sklavenhalter Corregidora. Da nach dem Bürgerkrieg nahezu alle schriftlichen Unterlagen zu der Plantage vernichtet wurden, wird in der Familie die Geschichte mündlich weitergegeben und jede junge Frau erhält den Auftrag, bald selbst Kinder, wenn möglich Mädchen, zu gebären, um die Erzählung, die Narration über die Generationen weitergeben zu können.

Die Geschichte des schwarzen Amerika ist eine weitestgehend ungeschriebene. Autorinnen wie Honorée Fanonne Jeffers, die momentan mit ihrem Roman DIE LIEBESLIEDER VON W.E.B. DU BOIS (2021) reüssiert und für Furore sorgt und sich ihrerseits auf Morrison und Walker beruft, beginnen mittlerweile damit, die amerikanische Geschichte vollkommen neu, vollkommen anders zu erzählen und dabei das Narrativ der dunkelhäutigen Bevölkerung des Landes selbstbewusst zu bedienen. Doch Jahrzehnte lang war es eine ungeschriebene Geschichte. Was Jones also als Ausgangspunkt ihrer Geschichte nimmt, ist ein wesentlicher Bestandteil des schwarzen Bewusstseins: Du musst die eigene Geschichte weitertragen. Oral History, aber gelebt.

Ursa aber wird von ihrem Mann Mutt Thomas in einem Eifersuchtsanfall eine Treppe hinuntergestoßen und verliert dabei nicht nur ihr ungeborenes Kind, sondern auch ihre Fähigkeit, überhaupt Kinder gebären zu können. Mit ihr bricht also die Familienerzählung ab. Für die junge Bluessängerin ein lebenslanges Trauma, für die Familie eine Tragödie. In fünf langen Kapiteln folgen wir Ursa durch ihre Geschichte bis ans Ende der 60er Jahre, als Mutt, den sie verstoßen hatte und sich jahrelang vom Hals halten konnte, wieder in ihrem Leben auftaucht und sie zumindest zurück zu erobern glaubt. Ob dies erfolgreich ist, bleibt allerdings offen.

In den fünf Kapiteln werden wir Zeugen, wie Ursa immer stärker ihr eigenes Bewusstsein als Frau, mehr noch als schwarze Frau, entwickelt und sich zunehmend zu behaupten weiß. Sie macht eine zwar mäßige aber dennoch kontinuierliche Karriere als Blues-Sängerin und begreift mit jedem Mißgeschick, jeder scheiternden Beziehung und jeder Freundschaft, die in die Brüche geht, immer genauer und besser, was der Blues eigentlich ist. Kein vorübergehendes Gefühl, wenn man mal traurig ist, kein schlechter Tag, sondern eine grundlegende Lebenshaltung, die aus einer Geschichte, aus einem generationenübergreifenden Erleben der Wirklichkeit hervorgeht. Und an diesem Gefühl, dieser Haltung, sind nicht nur die Verhältnisse zwischen Schwarzen und Weißen verantwortlich, sondern letztlich auch die Geschlechterverhältnisse zwischen Männern und Frauen. Ursa wird auch als sexuelles Wesen, als Frau, immer eigenständiger und beginnt, sich auf ihre eigene, politisch niemals korrekte Art und Weise, gegen die Herrschafts- und damit Machtansprüche von Männern, auch schwarzen Männern, zur Wehr zu setzen.

Jones schreibt explizit von Vergewaltigung, von Penetration und Oralsex. Sie spiegelt, ohne dies jemals theoretisch zu fundieren oder zu erklären, eine Erkenntnis, die die Gender- und Race-Studies in den vergangenen Jahrzehnten herausgearbeitet haben: Die Machtverhältnisse zwischen weiß und schwarz – die Verfügbarkeit von Menschen als Eigentum, das man willkürlich verkaufen und abstoßen kann – hat sich in die Geschlechterverhältnisse auch zwischen schwarzen Menschen eingefräst. Oft wurden männliche Sklaven noch brutaler behandelt als Frauen, da sie als reine Arbeitskräfte betrachtet wurden. Frauen durften manchmal in den Häusern ihrer Peiniger arbeiten, waren aber eben auch begehrt, schienen die, die sich als Besitzer betrachteten, bei ihnen doch zu bekommen, was ihnen ihre untadeligen weißen Gattinnen verwehrten. Daß diese Männer sich diese Zuwendungen letztlich mit exakt derselben Gewalt nahmen, wie sie sich auch die Arbeitskräfte ihrer Sklaven nahmen, blieb dabei gern unbeachtet. Diese Machtverhältnisse setzen sich in den Beziehungen, die Ursa zu Männern pflegt, fort. Ihre Männer bezeichnen sie als „meine Pussy“, wodurch die Frau nicht nur auf ihr Geschlechtsteil reduziert, sondern zugleich als Besitz deklariert wird. Männliche Selbstbehauptung einerseits, Rache für erlittenes Unrecht, für „Ent-Männlichung“, für Potenzverlust und Erniedrigung auch und gerade vor den Frauen andererseits.

In der rohen Sprache, die Jones wählt, spiegelt sich also ein ganzes historisches Verhältnis, eine historische Entwicklung und zudem eine soziale Realität der 50er, 60er und frühen 70er Jahre. Es gelingt ihr, all diese Entwicklungen in einer kleinen, fast unscheinbaren Geschichte zu erzählen. Jones Text ist in vielerlei Hinsicht jene „Schulter des Giganten“ auf denen heutige Autor*innen der schwarzen Gemeinde der USA stehen und von wo sie ihre sehr viel selbstbewussteren Werke schreiben können. CORREGIDORA nun also zu lesen, ist einerseits eine historische Aufgabe – sowohl gesellschaftshistorisch, als auch literaturhistorisch – andererseits aber auch ein Erlebnis, bei dem man direkt in die Geschichte der Schwarzen in Amerika eintauchen und sich selbst über deren Entwicklung bewusstwerden kann. Es ist, so kann man es wohl sagen, ein Schlüsseltext. Ein wuchtiger, brutaler und konfrontativer Roman, den zu lesen einiges an Emotionalität fordert und dessen Lektüre zugleich ein wahres Leseerlebnis ist, das sich niemand entgehen lassen sollte. Herausfordernd, das ja, sperrig, auch das, aber auch sehr, sehr gewinnbringend.

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