THE STREET – DIE STRASSE/THE STREET

Die Wiederentdeckung eines großen Romans afroamerikanischer Literatur

THE STREET – DIE STRASSE (Dt.: 2020, Original erstmals erschienen 1946) – das ist in Ann Petrys Roman ganz konkret die 116th Street in Harlem, New York, im Jahr 1943. Zugleich symbolisiert sie aber alle jene Straßen, die für schwarze Amerikaner zu Sackgassen werden, auf denen sie wandeln, um ein besseres Leben kämpfen und doch immer wieder mit dem eigenen Scheitern konfrontiert werden, einem Scheitern, an dem sie selten schuld sind, ein Scheitern, das strukturell in einer Gesellschaft angelegt ist, die es bei aller Liberalität nie geschafft hat, sich von ihrem Rassismus zu distanzieren, ihn zu überwinden und eins zu werden.

Wusste man bereits, wie viel besser schwarze Amerikaner weiße Amerikaner verstehen – es sei denn, es ginge um reine Vorurteile und Ressentiments – und fand dies in einem jüngst wiederentdeckten Stück großer, dezidiert schwarzer Literatur – William Melvin Kelleys A DIFFEREHT DRUMMER (Dt.: EIN ANDERER TAKT; Original erschienen 1962) – bestätigt, erstaunt an Ann Petrys Roman, wie sich darin etwas findet, das der weniger mit der Materie vertraute Leser als literarischen Gegenstand eher in den 60er und 70er Jahren verortet hätte – die sehr genaue Kenntnis des Wesens schwarzer Männer bei ihren Frauen und Geliebten. Denn einer der Gründe, weshalb die Hauptfigur des Romans, Lutie Johnson, mit ihrem achtjährigen Sohn Bubb in die 116th Street gezogen ist, ist das Verhalten ihres Mannes, während sie, die, anders als er, Arbeit in einem weißen Haushalt gefunden hatte, oft wochenlang außerhalb der Stadt gewesen ist. Die Schmach, nicht selber für seine Familie sorgen zu können, wird durch die Attraktion anderer, vielleicht jüngerer, vielleicht auch nur weniger abgearbeiteter Frauen verstärkt. Und so hat Lutie eines Abends ihren Gatten in flagranti erwischt. Und da Lutie Johnson eine stolze Frau ist, ist sie ausgezogen, hat sich von ihm getrennt und will nun sich und Bubb allein durchbringen, will ihren Sohn zu einem anständigen Mann erziehen und, wenn irgend möglich, aus dem Kreislauf aus Arbeitslosigkeit, Gewalt und Verachtung gegenüber Frauen herauslösen. Ein schwieriges, schier unmögliches Unterfangen.

Unmöglich wird es durch die Lebensumstände, die Lutie Johnson während des Romans nahezu ununterbrochen reflektiert. Ob sie in der U-Bahn sitzt, im Zug, ob sie durch die Straßen wandert oder daheim im Dunkeln sitzt, weil sie kein Licht machen will, um die Stromkosten niedrig zu halten – die Realität, ihre Realität, durchschaut sie zusehends besser. Manches, was Petry dem Leser dabei bietet, erscheint heute thesenhaft, oft auch zu schematisiert. Man muß sich also immer vor Augen führen, wann dieser Roman geschrieben wurde. Man muß aber auch eingestehen, daß Petry nicht nur Lutie Gerechtigkeit widerfahren lässt, sondern allen ihren Figuren Möglichkeiten bietet, sich dem Leser gegenüber auszudrücken. Sie alle werden mit ihren je eigenen Geschichten und Schicksalen präsentiert und so wird immer deutlicher, daß es letztlich schicksalhafte Verstrickungen sind, die dazu führen, daß die Verhältnisse sind, wie sie sind. Dahinter aber – und diese Ebene spart Petry bewußt und äußerst geschickt auf der Figuren-Ebene aus – steht eine anonyme und im Buch anonymisierte weiße Gesellschaft, die nominell zwar Gleichberechtigung bietet, strukturell aber dafür sorgt, daß Schwarze unter sich bleiben, weitaus weniger Bildungschancen haben und durch Zugang zu Institutionen, Arbeit und Schulen kontrolliert werden können.

Dennoch versteht es die Autorin, ihre Figuren als Subjekte auftreten und ihnen damit auch Verantwortung für ihr Handeln und Tun angedeihen zu lassen. Das ist ausgesprochen wichtig in diesem Roman, denn es ist auch eine Ermächtigung. Diese Menschen sind eben nicht einfach Spielbälle eines übergeordneten Schicksals, einer ihnen überlegenen Macht, sondern sie sind durchaus fähig, eigene Fehler und Taten zu begehen.

Da gibt es den Hausmeister, der so lange in Kellern gehaust und als Heizer gearbeitet hat, daß er kaum mehr eine menschliche Regung in sich spürt, eher einem Tier gleich seinen Trieben folgt; da gibt es Min, die bei dem Hausmeister wohnt und alles – auch Magie – in Anspruch nimmt, um dessen Interesse an Lutie, die ihn nicht will, nicht einmal mag, zu untergraben, bis sie plötzlich von selbst einsieht, daß das Leben an der Seite eines solchen Mannes ihr nichts bringt; da gibt es Mrs. Hedges im Erdgeschoß des Hauses, in dem Lutie lebt, und die alles sieht, alles weiß und ein veritables Bordell in ihrer Wohnung betreibt; da gibt es den Musiker Boots, der Lutie eines Abends in einer Kneipe, bei einem der seltenen Vergnügen, die sie sich gönnt, singen hört, sie für seine Band engagieren will und vor allem an ihrem Körper interessiert ist, ein Körper, den er, als Mann, wie selbstverständlich zu besitzen das Recht zu haben glaubt; und es gibt Juno, einen Weißen, der lange schon mit Mrs. Hedges befreundet ist, mit ihr Geschäfte betreibt, der keine Unterschiede zwischen schwarz und weiß zu machen scheint und dennoch – den vermeintlichen Gesetzen der Geschlechter folgend – meint, Anrechte auf Lutie Johnson zu haben.

Vielleicht sind diese Figuren nicht durchweg fähig, ihr Tun auf eine Art zu reflektieren, wie es Lutie Johnson tut, vielleicht sind sie zu sehr in ihren eigenen (Innen)Welten gefangen – was sie psychologisch sehr glaubwürdig macht – aber sie sind definitiv nicht freizusprechen von Verantwortung und Schuld. Auch dieser Balanceakt macht THE STREET zu einem wirklich großen Roman.

Die erschütterndste Erkenntnis dieses Romans mag schließlich diese sein: Es ist natürlich eine Frage der Hautfarbe, aber vielleicht ist es mehr noch eine Frage der Geschlechter, wer es zu was bringen kann in einer Welt, die hart ist, in einer Gesellschaft, die sich im Krieg befindet und wenig Rücksicht auf die Belange einzelner nimmt. Lutie jedenfalls wird sich schließlich in einem äußerst prekären Moment zur Wehr setzen und dies mit einer fürchterlichen Konsequenz bezahlen müssen. Denn der Hausmeister weiß, wie man manipuliert und macht sich Bubbs Leichtgläubigkeit zunutze, um sich an Lutie zu „rächen“, wie er es formulieren würde. Und so sitzt ein Achtjähriger in einer Besserungsanstalt und wartet auf seine Mutter, die nicht mehr kommen wird. Die letzten 20 Seiten dieses Romans sind von so unsäglicher Traurigkeit geprägt, daß es schwer ist, sie zu ertragen.

Es erstaunt, daß Petrys Roman in seiner langen Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte oftmals der Literatur des Noir-Thrillers zugeordnet wurde. In einem aufschlußreichen Nachwort schreibt die Autorin Tayari Jones über diesen Werdegang des Romans. Darin findet sich auch eine Aufzählung der Coverabbildungen, die der Roman im Laufe der Jahre in verschiedenen Ausgaben erhalten hat und die Lutie Johnson teils als eine Art Femme fatale darstellten. Nichts könnte ferner liegen, liest man den Roman. Es ist eine sehr genaue, auf den ersten 150 Seiten manchmal auch leicht ermüdende Beobachtung des Lebens auf eben jenen Straßen, die der Titel impliziert. Es ist eine sehr genaue Reflektion schwarzen Lebens unter den erschwerten Bedingungen der Kriegswirtschaft und es ist eine noch genauere Beobachtung des Lebens schwarzer Frauen unter eben diesen Bedingungen.

So kann der Roman inhaltlich vielleicht nicht so fesseln, wie das 1947 oder auch 1953 oder vielleicht 1968 der Fall gewesen sein mag, da Vieles dessen, was hier abgehandelt wird, heutzutage in ganz anderen Zusammenhängen – es sei noch einmal auf die bereits erwähnten Gender– und Race-Studies an amerikanischen Universitäten seit den 70er Jahren verwiesen – behandelt wird. Doch ist THE STREET als Zeitzeugnis, wie auch als Beispiel sowohl schwarzer, als auch weiblicher Emanzipationsliteratur, ein wichtiges Buch und ein literarisch betrachtet großer Roman. Ein Roman, der eine Neuentdeckung mehr als verdient hat.

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